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An Schlaf war nicht zu denken. Stundenlang lag ich wach. Um drei Uhr morgens gab ich schließlich auf und schlich über den Flur zu unserem Haustelefon, das auf einem zierlichen Tischen gegenüber von Miles Zimmer stand.

Wenn ich bei Dawsons grünen Augen ohnehin an Irland dachte, konnte ich diese schlaflose Nacht auch nutzen, um mit Granny zu telefonieren.

Nach dem dritten Klingeln war sie bereits am Apparat.

„Warte kurz, Kleines. Grandpa hört wieder fern. Ich verstehe meine eigenen Gedanken nicht bei dem verfluchten Lärm."

Der Krach im Hintergrund wurde leiser. Eine Tür klappte, dann vernahm ich Grannys rauchige Stimme ganz deutlich.

„Warum schläfst du nicht Kleines? Es ist drei Uhr vorbei", stellte sie fest. Im Hintergrund war das Geräusch eines Feuerzeuges zu hören, dann ihr tiefes Atmen, als sie den Rauch ihrer Zigarette inhalierte.

„Also? Was bedrückt dich?"

Ich zupfte am Saum meines Schlafshirts.

„Kann man zu glücklich sein?", fragte ich sie. In der Leitung knackste es leise. Granny räusperte sich.

„Wie meinst du das?", erkundigte sie sich dann bei mir. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir genau die Hand vorstellen, mit der sie, die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, mit dem Ringfinger ihre Stirnfalten entlangfuhr. Diese Geste war so typisch für sie.

„Naja, so dass man die ganze Welt umarmen will und vor Glück platzen. Aber gleichzeitig Angst hat, dass der Zustand endet."

„Nimmst du Drogen?"

Ich lachte. „Nein, Granny. Natürlich nicht!", empörte ich mich dann pro forma. Grannys rauchiges Lachen erklang von der anderen Seite. Fröhlich und unbeschwert.

„Dann lautete meine Antwort ‚nein'. Man kann nicht zu glücklich sein. Das was du in den Momenten spürst, ist genau das, was du verdienst. Mit weniger darfst du dich nie zufriedengeben. Wenn ein Junge dich das nicht fühlen lässt, dann ist er nicht der Richtige. Tut er es, dann halt ihn fest, auch, wenn er morgens um neun Soap Operas anhört."

Wie sie so schnell rausgefunden hatte, dass es um einen Jungen ging, war mir ein Rätsel. Das war eben eine der herausragenden Eigenschaften meiner Granny. Sie hatte ein untrügliches Bauchgefühl.

„Oder Country Musik?"

Sie lachte. „Da weiß ich nun wirklich nicht, was schlimmer ist. Wer ist er? Der blonde Schwimmer aus deiner Story?"

„Nein, der war nicht der Richtige. Ich dachte er könnte es werden."

„Werden? Nein, Riley. Die Liebe wird nicht, sie schlägt ein wie ein Blitz. Das, was werden kann, ist Freundschaft und Vertrauen nach oberflächlicher Verliebtheit. Viele Menschen halten das irrtümlich für Liebe, dabei ist das nur ein trauriger Abklatsch und später wundern sie sich warum es nicht hält."

Sie zog an ihrer Zigarette. „Erinnerst du dich an die Geschichte mit den Schatten an der Wand? Platons Höhlengleichnis? Wenn du nur die Schatten kennst, Riley, werden diese zu deiner Realität. Man glaubt, dann, es würde sich um Liebe handeln, dabei ist es nur ein farbloser Schemen, dessen, was sein kann."

Wieder zog Grandma an ihrer Zigarette.

„Erwidert er denn deine Gefühle?" Granny klang besorgt.

„Es sah lange nicht so aus. Aber gestern hat er plötzlich behauptet, er könne sich nicht weiter gegen seine Gefühle wehren und er will mit mir zusammen sein. Ich weiß nicht so richtig, was ich davon halten soll."

„Ich auch nicht. Aber vielleicht hat er endlich kapiert, dass er bisher Schatten gejagt hat und als er sich zum Höhleneingang umgedreht hat, da standst dort du mit deinem strahlenden Lächeln und hast ihn einfach umgehauen."

Ich schnaubte belustigt. „Du und Platon. Das ist auch eine große Liebe, was?"

Granny ging nicht auf meine Frage ein.

„Was sagen Mum und Dad zu dem Jungen? Mögen sie ihn, oder wird die Sache zwischen Euch kompliziert?"

Die Frage brachte das Fass zum Überlaufen. Die Bäche rannen, ohne dass ich sie hätte aufhalten können.

„Es ist schon jetzt schrecklich kompliziert", schluchzte ich.

„Oh Kleines, wein doch nicht! Gerade wolltest du noch platzen vor Glück!" Grandmas Stimme klang ruhig und beherrscht durch den Hörer. Mit dem Handballen wischte ich mir die Tränen aus den Augen. Doch es flossen immer neue nach.

„Riley, was ist denn los, mein Kleines? Was ist denn so schlimm? Nimmt er Drogen?" Unter Tränen lachte ich. Drogen waren in Grannys Welt das schlimmste Vorstellbare.

„Nein. Ich glaub nicht. Er trinkt ab und an zu viel. Und gelegentlich raucht er, wenn er total betrunken ist."

„Ich rauche zu viel und trinke gelegentlich. Weiß nicht, was besser ist, Riley. Jedenfalls kann ich ihn nicht dafür verurteilen. Also wo liegt das Problem?"

„Du sagst es Mum und Dad nicht?", vergewisserte ich mich.

„Wann habe ich das letzte Mal mit deinen Eltern geredet? Wenn er keine illegalen Sachen tut, dann gibt es keinen Grund deinen Eltern etwas zu sagen."

Ich schluckte. Dann hielt ich mir vor Augen, mit wem ich sprach. Das war meine Granny. Wenn nicht ihr, wem konnte ich dann vertrauen?

„Es ist Dawson", sagte ich verlegen.

„Wann war er es nicht?" Ich konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören.

„Gute Frage", murmelte ich und Granny lachte.

„Ich freu mich für dich, Kleines. Ihr müsst nur verdammt vorsichtig sein. Für Dawson kann das wirklich böse Konsequenzen haben. Haltet euch in der Öffentlichkeit zurück, Riley. Kein wildes Rumgemache auf irgendwelchen Partys. Gebt keinen Anlass zu Spekulationen, dann wird schon alles gut gehen."

Das waren genau die beruhigenden Worte, die ich hören wollte.

„Danke, Granny", sagte ich leise.

„Meinst du, du kannst jetzt ruhig schlafen, mein Spätzchen?"

„Ich glaube schon."

„Wenn nicht, ruf mich gerne jederzeit wieder an."

„Ist gut, Granny. Das mache ich. Bye."

Nach dem Telefonat schlief ich wirklich bald ein. Totenähnlich. Erst um halb zwei wachte ich auf. Lieber Himmel. Ich hatte den halben Tag verpennt. Was stimmte mit mir nicht?

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