27
„Erklär es mir", forderte ich sanft, legte meine Hände auf seine Knie und versuchte mich nicht von der Wärme seiner Haut unter meinen Fingern ablenken zu lassen. Sein Blick wanderte zu meinen Händen.
„Ich kann es dir nicht erklären", wisperte er und schloss die Augen, atmete angestrengt ein und aus.
Als er mich wieder ansah, stand pure Qual in seinen Augen. „Geh bitte, Riley", bat er erneut. Diesmal mit soviel Nachdruck, dass man es als Flehen hätte bezeichnen können und ich war drauf und dran nachzugeben. Doch dann erinnerte ich mich an etwas, das er vor ein paar Tagen zu mir gesagt hatte.
„Egal, was du gerade denkst, nichts davon ist so schlimm wie in deiner Phantasie", flüsterte ich und hoffte, damit zu ihm durchzudringen. Für einen Moment hellte sich seine Miene auf, zeichnete seine Züge ein wenig weicher. Dann verschloss sich sein Gesicht wieder.
„Du hast keine Ahnung, wie schlimm es ist!", schnaubte er Sekundenbruchteile später und barg sein geschundenes Gesicht in seinen mitgenommenen Händen. Die aufgeplatzten und verschorften Knöchel sprangen mir förmlich ins Auge. Es gab keinen unversehrten Teil an seinem Körper.
„Ich krieg das Bild von dir und Justin nicht aus meinem Kopf", murmelte er leise. „Und seitdem ich euch zusammen am Lagerfeuer gesehen habe, frage ich mich unentwegt, wie es sich wohl anfühlt, dich zu küssen. In meiner Phantasie ist das jedes Mal verdammt gut."
Blinzelnd sah ich zu ihm auf und fragte mich, ob meine Ohren mir gerade einen Streich gespielt hatten, schluckte gegen den Kloß in meinem Hals an. Sein heiseres Geständnis zog mir den Boden unter den Füßen weg. Die Verzweiflung in seiner Stimme tat mir fast körperlich weh. Der mutlose Blick in seinen Augen, als er den Kopf hob, nahm mir den Atem. Langsam hob er seine Hand, schob sie auf meiner Wange unter meine Haare, bis seine Fingerspitzen zart meinen Hals berührten. Sein Daumen fuhr sanft die Kontur meiner Lippe nach, seine Augen folgten konzentriert der Bewegung seines Fingers. Dann sah er bedauernd in meine Augen.
„Ich wünschte, ich wäre damals nicht so hart zu dir gewesen. Ich wünschte, ich könnte die Uhr zurückdrehen, damit du noch einmal versuchst, mich zu küssen", wisperte er beinahe tonlos.
Er ließ seine Hand sinken. Ich verstand kein Wort. Ich hörte, was er sagte, aber ich konnte es nicht verarbeiten. Noch immer ruhten meine Hände auf Dawsons Knien und das Blut, das mein Herz viel zu schnell pumpte, rauschte in meinen Ohren. Noch immer blickte Dawson mir in die Augen. Wie im Zeitraffer liefen die letzten Tage an meinem geistigen Auge vorbei und all die Widersprüche in seinem Verhalten.
Die dumme Hoffnung, die ich am Abend nach dem Badeunfall verspürt hatte, keimte aufs Neue in mir auf und füllte mein komplettes Inneres mit Wärme. Dawsons reuevollen Worte erweckten die kleine Riley wieder zum Leben, die sich verzweifelt seine Zuneigung gewünscht hatte und schon einmal die Grenze zwischen Mut und Dummheit übertreten hatte.
Zögernd lehnte ich mich ein wenig nach vorne, bereit die Dummheiten der Vergangenheit zu wiederholen. Sein Mund war nur noch Millimeter entfernt, als ich Angst vor meinem eigenen Mut bekam und in Schockstarre verfiel. Was ich im Begriff war zu tun, würde die lange Liste dämlicher Entscheidungen vermutlich ab sofort anführen. Doch Dawson nahm mir meine Scheu. Behutsam legte er seine Hände an meine Wangen, sein Atem strich warm über meine Lippen, bevor er die letzten Millimeter selbst schloss. Weich und zärtlich trafen seine Lippen auf meine. Seine aufgeplatzte Lippe fühlte sich rau an, schmeckte leicht nach Kupfer. Seine Daumen strichen über meine Haut, während er seine Lippen sanft auf meinen bewegte. Mein Herz klopfte zum Zerspringen.
Er löste sich von mir und ein feines Lächeln umspielte seinen Mund, bevor er mich erneut näher zog und seine Lippen wieder meine fanden. Ich schloss die Augen, genoss das Gefühl, das durch meinen Körper raste, wie ein Inferno. Wenn es einen Himmel gab, dann war er hier. Bei Dawson. Nirgends sonst.
„Shit", murmelte Dawson nach unserem Kuss leise. Sofort ging ich auf Abstand. Körperlich und emotional. Was hatte er erwartet? Meine Erfahrung auf diesem Gebiet ging gegen Null. War doch klar, dass ihn mein Kuss nicht vom Hocker reißen würde.
„So deutlich hättest du nicht zu werden brauchen." Mein Gesicht brannte vor Scham und meine Augen auch schon wieder.
„Meinst du?", langsam stand er auf. Machte zwei wacklige Schritte auf mich zu, hielt dabei seine rechte Seite. Schmerz verzerrte sein Gesicht.
Reflexartig wich ich vor ihm zurück, als er in einer schnellen Bewegung seinen Arm nach mir ausstreckte. Doch weder war ich wendig genug, um ihm auszuweichen, noch hatte ich dafür ausreichend Platz.
Hart stieß ich gegen die Tür, die Klinke bohrte sich schmerzhaft in meinen Rücken, als er meinen Oberarm packte und mit seiner Hand umschloss. „Ich glaube, ich muss noch viel deutlicher werden!", knurrte er bedrohlich. Godzilla war zurück.
„Komm nie wieder her, Riley. Verstehst du mich? Nie wieder. Du hast hier nichts verloren. Halt dich aus meinem Leben raus. Hör auf, dich in Dinge einzumischen, die du nicht verstehst. Und hör auf, mich ständig in Versuchung zu führen. Ich werde mein Leben nicht für dich ruinieren! Hörst du?"
Verständnislos sah ich ihn an. „Aber du hast doch..."
„Einen Scheiß habe ich! Und jetzt raus aus meinem Zimmer. Verschwinde! Na los!"
Er griff nach meinem Rucksack und drückte ihn schwungvoll gegen meine Brust. Ächzend entwich die Luft aus meinen Lungen. Gnadenlos schob er mich zur Seite, stöhnte bei der Bewegung leise, riss die Tür auf und bugsierte mich auf den Gang hinaus. Die Tür, die er anschließend mit voller Wucht zu knallte, schlug mir beinahe ins Gesicht. Nur Millimeter trennten mich von einer gebrochenen Nase.
Meine Füße fühlten sich wie Blei an, als ich den Gang hinunterlief. Mechanisch stieg ich die Treppe runter, durchquerte die Eingangshalle. Hatte ich Klarheit gesucht, dann hatte ich sie gefunden. In aller Deutlichkeit hatte ich heute folgendes gelernt: Dawson war ein blöder Arsch und Busfahren Scheiße. Denn zurück an der Haltestelle, fand ich heraus, dass ich den letzten Bus nach Nashville um zehn Minuten verpasst hatte. Während der Semesterferien fuhr der nämlich nur zweimal am Tag. Großartig!
Meine Wut auf Dawson machte allmählich einer gewissen Ratlosigkeit platz. Ich hatte eigentlich gehofft, Dawson könne mir einen Schlafplatz in der Stadt empfehlen. Eine weitere Nacht in einer Wartehalle hatte keinesfalls auf meinem Plan gestanden. Hoffentlich wusste Tante Google Rat.
Eine halbe Stunde später hatte ich eine kleine Pension gefunden. Zunächst war die Besitzerin nicht begeistert gewesen, an mich ein Zimmer zu vermieten, weil ich minderjährig war. Doch dass ich mir die Uni hatte ansehen wollen und nun den Bus verpasst hatte, klang für sie plausibel, sodass sie nicht weiter nachfragte und mir den Zimmerschlüssel aushändigte.
Der Raum war sauber und sparsam möbliert. Damit passte mein Domizil hervorragend zu meiner Gefühlswelt, die ebenfalls von einer gewissen Leere geprägt war. Ich war sogar zu leer für Tränen. Meinen Rucksack stellte ich neben der Tür ab. Wühlte mein Schlafzeug und Waschsachen hervor und fiel nach einer kurzen Dusche völlig erledigt um halb drei am Nachmittag auf das mit kühlem Leinen bezogene Bett. Augenblicklich glitt ich in einen komatösen Tiefschlaf. Mein Körper holte sich ohne Rücksicht auf meine Gefühlswelt genau das, was er nach der durchwachten Nacht und dem kurzen Nickerchen im Bus am meisten brauchte, nämlich Schlaf.
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