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Miles Nummer leuchtete mir auf dem Display entgegen. „Verdammt, Riley, wo bist du?", fluchte mein Bruder. „Justin sagt, du wärst vor Stunden schon gegangen. Ist alles okay?"

Ich kniff mir in die Nasenwurzel. Ruhe bewahren. Lügen.

„Sei nicht böse, Miles. Ich muss mal was anderes sehen als unsere Kleinstadt. Ich fahr nach Nashville." Und dann noch hundert Kilometer nach Osten. Das behielt ich jedoch für mich.

„Nashville? Sag mal spinnst du? Warum gibst du nicht Bescheid? Was ist nur los mit dir?"

„Alles ist in Ordnung, Miles. Das ist doch nicht das erste Mal, dass ich Bus fahre."

„Stimmt, aber das erste Mal, dass du vorher nicht Bescheid gibst. Und die Keksdose plünderst. Außerdem hättest du heute Schwimmteam."

„Ich wollte den Bus nicht verpassen. Das Geld lege ich morgen zurück. Und einmal nicht trainieren macht nichts aus."

„Und wann kommst du wieder?"

„Morgen im Laufe des Tages. Mach dir keine Gedanken, okay?"

„Morgen erst? Riley, das alles sieht dir gar nicht ähnlich. Wo willst du denn schlafen?"

„Im Jugendhaus", schwindelte ich. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Er hatte recht. Das alles sah mir nicht ähnlich. Lügen. Weglaufen. Geld nehmen, das mir nicht gehörte.

„Ruf mich an, wenn das Ergebnis von der Obduktion da ist", bat ich leise.

„Deshalb? Läufst du deswegen weg?"

„Nein. Justin und ich hatten Streit und ich muss mir über ein paar Dinge klar werden. Dafür brauche ich ein bisschen Abstand, okay?"

Die Landschaft zog vorbei. „Wirst du mich verpetzen?" Meine Stimme klang gepresst.

„Gott, Riley, ich weiß nicht. Was, wenn ich nicht mehr da bin und du nur Unfug machst? Natürlich werde ich das Mum und Dad sagen müssen. Wir dachten, du bist alt genug, auch mal allein zu sein. Aber im Moment läuft alles aus dem Ruder. Du bist schwierig geworden." Seine Verzweiflung war nicht zu überhören.

Unfroh lachte ich auf. „Ich bin nicht schwierig, nur selbständiger. Nicht mehr so leicht lenkbar", belehrte ich meinen Bruder und fühlte mich von ihm unverstanden.

„Du bist verdammt nochmal sechzehn! Du bist noch ein Kind. Du kannst nicht machen, was du willst."

„Schon klar", seufzte ich und legte auf. Konnte er mich mal am Arsch lecken. In drei Wochen wurde ich siebzehn, falls ich nicht nachts auf einer dunklen Straße überfahren oder überfallen wurde. Ich hatte es satt, mir von jedem sagen zu lassen, ich sei ein Kind. Kinder hatten Eltern. Eltern die zu Hause waren. Die da waren. Ich hatte einen Bruder. Und ein Budget. Und einen Haufen beschissener Regeln.

Mit einer unglaublichen Wut im Bauch stopfte ich mein Mobiltelefon zurück in meinen Rucksack, nur um es Sekunden später wieder hervorzukramen und auszuschalten. Heute keine Sprechstunde mehr bei Riley Thompson. Dann schloss ich meine Augen. Doch statt des ersehnten Schlafes stellten sich lediglich Tränen ein, die unter meinen geschlossenen Lidern hervorquollen. Im Moment war ich wirklich ein verdammtes Weichei!

Der Busfahrer war so nett, mich an der Endstation zu wecken und nicht wieder mit zurückzunehmen. Verschlafen und total gerädert stand ich an der Haltestelle in Nashville, meinen Rucksack über einer Schulter. Mit etwas verschwommener Sicht suchte ich meinen Anschlussbus. Das Glück war mir hold und dieser stand abfahrbereit am Randstein. Knapp zwei Stunden später hatte ich es geschafft und stand vor dem Universitätsgelände. Nun war nur die Frage, wie ich Dawson finden sollte. Der Campus war unvorstellbar groß. Unschlüssig sah ich mich um.

„Entschuldige", sprach ich den nächstbesten Typen an, der vorbeilief.

„Ja?" Aufmerksam musterte er mich und ich fragte mich, was für einen Anblick ich bot. Wenn ich aussah, wie ich mich fühlte, dann entsprach meine Erscheinung der eines Landstreichers.

„Ich suche jemanden. Er wohnt auf dem Gelände in einem Wohnheim, aber ich hab keine Ahnung wo", erklärte ich.

„Ruf ihn einfach an. Er soll dich abholen", sagte der Fremde und ging.

„Arsch", murrte ich. Jemand lachte hinter mir.

Ich drehte mich um. Groß, schlank, blond, blassgraue Augen und tiefe Augenringe. Der Blonde kam näher, blies einen Wolke Rauch aus und trat mit seinen Boots seine Zigarette aus. „Vielleicht kann ich dir helfen? Wen suchst du denn?"

„Dawson Grady", sagte ich und das Gesicht des Blonden verschloss sich.

„Grady. So, so. Und du bist wer?"

„Seine Cousine. Riley", behauptete ich rotzfrech und ohne jegliches Schamgefühl.

Sofort wurde er freundlicher. „Ahso, dann ist ja gut. Dacht schon du bist eine schwangere Ex und willst ihn im Schlaf ermorden!"

Er lachte über seinen Witz. Ich hingegen fand seine Äußerung weniger komisch. Nichts, was mit Exfreundinnen und Schwangerschaften zusammenhing war nur ansatzweise zum Lachen. Schweigend folgte ich ihm über das Gelände und dann in ein Backsteingebäude. Neugierige Blicke folgten uns. Ich versuchte sie zu ignorieren. Das war aber leichter gesagt, als getan.

„So da wären wir", sagte der Blonde schließlich vor einer weiß lackierten Tür im zweiten Stock und schlug mit der Faust gegen die Tür, dann öffnete er sie einen Spalt weit.

„Grady! Du hast Besuch!", brüllte er und schob mich durch die Tür. „Viel Spaß mit dem Griesgram", richtete er sein Wort an mich und verschwand den Gang hinunter.

Desorientiert hob Dawson seinen Kopf, als ich eintrat und erschrocken sog ich die Luft ein. Seine Oberlippe war aufgeplatzt, sein Kiefer schillerte blau-lila und ein Auge war angeschwollen. Ein Cut an der Augenbraue war mit Klammerpflastern notdürftig verarztet.

„Riley? Was tust du hier?" Dawsons Stimme klang heiser, als er den Kopf hob. Unterdrücktes Stöhnen begleitete seinen Versuch, sich auf seine Ellbogen zu stützen. Schließlich schaffte er es, sich aufzurappeln und auf die Bettkante zu setzen. Oben ohne und in seiner dünnen Pyjamahose sah er trotz des geschundenen Körpers unfassbar sexy aus. Oder war er wegen der Verletzungen so anziehend? Es verlieh ihm etwas Wildes und Archaisches.

„Ich...hab mir Sorgen gemacht", antwortete ich verzagt und musterte unauffällig weiter seine Verletzungen. Selbst sein Brustkorb war mit dunklen Flecken übersäht und das Atmen schien ihm schwerzufallen.

„Du warst nicht auf der Feier gestern und auch nicht erreichbar und Lio ist ziemlich angepisst", haspelte ich unter seinem prüfenden Blick weiter.

„Mir geht's bestens. Dass ich nicht mitfahre, habe ich eigentlich deutlich gesagt. Was soll ich meine Zeit auf sinnlosen Partys vergeuden? Kannst also wieder gehen", knurrte Dawson wie ein gereiztes Tier.

„Du siehst aus, als hättest du dich geprügelt", stellte ich das Offensichtliche fest, ohne auf sein Gemecker zu achten. Langsam schlich ich näher. „Du gehörst ins Krankenhaus, Dawson."

„Mir geht's super!", wiederholte er störrisch und starrte auf seine Füße. Keine typischen Männerfüße. Die Nägel waren sauber und ordentlich geschnitten. Die Haut wirkte weich und gepflegt.

„Super, wie in ... superscheiße?" Da er nicht hochsah, ging ich vor ihm in die Hocke und suchte Augenkontakt. Behutsam berührte ich die Schwellung an seinem Kiefer. „Was ist passiert?", bohrte ich weiter.

„Lass gut sein. Du würdest es ohnehin nicht verstehen", fuhr er mich an und sofort sah ich rot.

„Lass mich raten! Dasselbe Argument wie immer. Weil ich noch ein Kind bin?", motzte ich zurück.

Seine Augen hoben sich. Grüne Tiefe zog mich in einen Bann. „Nein, Riley", antwortete er leise. „Du bist kein Kind mehr. Schon lange nicht mehr. Genau deswegen solltest du auch besser nicht hier sein." Sein Blick wanderte über meinen Körper, blieb schließlich auf meinem tiefen Ausschnitt liegen. Genau an dem Punkt, der nach meiner Ansicht viel zu kindlich war.

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