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Im Wohnraum suchte ich meinen Bruder, doch weder ihn noch Stacey konnte ich zwischen den Partygästen ausmachen. Ich wollte doch einfach nur nach Hause! Dann dämmerte mir, dass wir ja mit Justin gekommen waren. So eine verdammte Scheiße! Ich sah mich nach einem potentiellen Fahrer um, konnte aber niemanden entdecken, der mir nüchtern genug erschien. Mir stand also ein langer Fußmarsch bevor. Die ersten fünfhundert Meter auch noch auf einem verdammten dunklen Waldweg! Wie toll war das denn?
Meine Tränen liefen weiter ungebremst über meine Wangen. Doch das Gefühl in mir hatte sich verändert. Glühender Zorn ballte sich in meinen Eingeweiden zusammen. Ich stand mitten im Wald, mein Bruder nicht auffindbar, meine Eltern unerreichbar! Warum war meine Mum oder mein Dad nie da, wenn ich sie brauchte?
Schluchzend hastete ich den Waldweg entlang und erreichte die Hauptstraße in Rekordgeschwindigkeit. Immer wieder kamen mir Scheinwerfer entgegen. Ich hielt mich auf der Landstraße soweit links wie möglich ohne in den Entwässerungsgraben zu fallen und dachte an Dawsons Bitte, nachts nicht mehr allein herum zu rennen. Dachte an seinen Vater und daran, wie dieser in einem Graben wie diesem sein Leben ausgehaucht hatte. Meine Sicht verschleierte sich noch mehr. Vor morgen früh würde mich auch keiner finden. Niemand würde Riley Thompson vermissen oder nach ihr suchen. Ich könnte mich in Luft auflösen. Keiner würde es merken. Im Schwimmteam und in der Rettungsstaffel würden mich andere ersetzen. Mein Tisch in der Schule würde unbesetzt bleiben. Und Justin würde mich nicht vermissen. Dawson erst recht nicht.
Nur Miles vielleicht ein bisschen. Ich ließ mich am Straßenrand nieder. Stütze meine Ellbogen auf meine Knie und weinte vor lauter Frust und Selbstmitleid.
Deine Art damit umzugehen ist jedenfalls gesünder, als die Art, wie ich mit Enttäuschungen umgehe.
Konnte Dawson nicht einfach mal aus meinem Kopf verschwinden? Jetzt saß ich an einem bescheuerten Graben, heulte und machte mir Gedanken über ihn, die ich gar nicht wollte. Nämlich um das „wie". Wie ging er mit Enttäuschungen um? Die Überlegung lenkte mich von meinem eigenen Elend ab. Nachdenklich wischte ich mir mit dem Unterarm die Tränen aus dem Gesicht.
Was auch immer Dawson tat, es konnte nichts Gutes sein, sonst hätte er nicht so verdammt verschlossen reagieren müssen, als ich nachgehakt hatte, was er damit meint. Und nun war er seit zwei Tagen wie vom Erdboden verschluckt. Das war nicht gut. Und diese Erkenntnis traf mich wie ein Blitz. Dass er nicht an der Tour teilnehmen konnte mit dem Motorrad, das ihm so viel bedeutete, war bestimmt eine Enttäuschung.
Mit zügigen Schritten lief ich die Straße runter. Lionel war, soweit ich das beurteilen konnte, Dawsons bester Freund. Trotzdem schien auch er keine Ahnung zu haben, wo Dawson sich herumtrieb. Hatte Lio nicht sogar bei Dawsons Mum nachgefragt und keine Auskunft bekommen? Die Summe all dieser winzigen Teile gefiel mir nicht. Ob ich ihn einfach anrufen sollte? Mehr als mich anschnauzen konnte nicht passieren, oder?
Ich zog mein Handy hervor und wählte seine Nummer. Doch es ertönte kein Freizeichen. Ich wurde nur von einer elektronischen Stimme informiert, dass der Teilnehmer nicht erreichbar war.
Ich öffnete Google und gab Dawson Grady ein, in der Hoffnung, persönliche Informationen über ihn zu finden. Aber das brachte mich auch nicht weiter. Dann fiel mir eine andere Möglichkeit ein. Ich öffnete Insta und suchte nach ihm. Aber mit dem Namen wurde ich nicht fündig.
Ein lautes Hupen ertönte. Lichter schwebten auf mich zu und erschrocken korrigierte ich meinen Kurs wieder Richtung Straßenrand. Dann klickte ich mich durch Lionels Abonnenten. Dort stieß ich auf ein Profil, das nur Grady hieß. Das Foto sprach für sich. Das Gesicht war durch eine Sturmhaube verdeckt, wie auch Lionel sie im Winter beim Motorradfahren trug. Doch die funkelnden grünen Augen hätte ich unter Tausenden erkannt. Das Konto war als Privat eingestuft. Half nicht, aber zumindest konnte ich ihm ja mal folgen. Vielleicht würde er meine Anfrage ja bestätigen. Dann wüsste ich zumindest, dass er noch lebte. Alles in allem blieb mir nur eine Möglichkeit, wo ich ihn finden konnte: im Wohnheim seiner Uni. War er dort nicht, dann gab es eine weitere Alternative, die aber für mich in nahezu unerreichbarer Ferne lag. Niemals würde ich wagen...
Zu Hause schnappte ich mir die Keksdose vom Küchenschrank. Entgegen der landläufigen Meinung hoben wir unser Haushaltsgeld nicht in der Kaffeedose auf. Ob unser Versteck um Längen raffinierter war, bezweifelte ich sehr. Dreihundert Dollar Bargeld und eine Tüte mit Sandwiches später sprintete ich die Treppe zum Speicher rauf und wühlte meinen Rucksack aus dem Regal. Das Geld teilte ich auf meinen BH und meinen Geldbeutel auf. Praktisch, wenn man so flach war wie ich: dort wo die zusätzlichen Polster im BH steckten, hatte eine Menge Geld Platz.
Ich warf ein bisschen Kleidung in den Rucksack und lief damit ins Bad und holte meine Zahnputzzeug, Waschsachen und mein kleines Make-up-Täschchen. Danach schminkte ich den Zombie ab, der mir mit dunkelumrandeten Augen und verwischter Wimperntusche aus dem Spiegel entgegenblickte.
Nicht einmal eine halbe Stunde nach Betreten des Hauses, war ich bereits wieder auf dem Weg zum Busbahnhof. Mich dort zurecht zu finden, fiel mir immer schwer. Jetzt, mitten in der Nacht, war der Bahnhof sehr übersichtlich. Nur wenige Menschen saßen in der Wartehalle und es gelang mir relativ schnell, mich zu orientieren und den richtigen Haltepunkt für meinen Fernbus auszumachen. An einem Automaten löste ich ein Ticket, dann setzte ich mich auf einen der freien Plätze, um zu warten und zu warten.
Vermutlich hätte mir jeder gesagt, dass das hier eine Scheißidee war. Deswegen hatte ich niemanden nach seiner Meinung gefragt. Jeder mit ein wenig Verstand hätte mir eingeredet, dass ich mir meiner Vermutung, dass Dawson Unsinn machte, nicht sicher sein konnte und daher nur meine Zeit vergeudete. Für mich fühlte es sich jedoch nicht wie Verschwendung, mehr wie eine Notwendigkeit, an. Wie eine überfällige Gegenleistung für einen Gefallen und wenn mein Bauchgefühl sich irrte, konnte ich wenigstens behaupten, es versucht zu haben.
Je weiter die Nacht voranschritt, desto müder wurde ich. Meine Augen klappten immer wieder zu und ich war froh, als es endlich dämmerte und ich meinen Bus besteigen konnte. Der Fahrer musterte mich argwöhnisch. Vermutete er in mir einen jugendlichen Ausreißer? Fragen tat er nicht. Ich suchte mir einen Fensterplatz und fiel auf den abgeschabten Sitz. Mit brennenden Augen starrte ich nach draußen. Verfolgte das hin und her der Fahrgäste, die, beladen mit Rucksäcken, Taschen und Koffern, nach dem richtigen Bus Ausschau hielten.
Mann, ich war noch nie so verdammt müde gewesen. Gleichzeitig rauschte Anspannung im mächtigen Wellen durch meine Adern, spülte Adrenalin bis in den letzten Winkel meines erschöpften Körpers. Das Vibrieren meines Handys riss mich aus der Betrachtung meiner Spiegelung in der Scheibe. Gleichzeitig ging ein Zittern durch den Bus. Gutes Timing. Aussteigen war nicht mehr.
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