21

Den Rest des Nachmittags und des frühen Abends verbrachte ich damit, die Geburtstagskarte für meine Tante zu gestalten und einen Text zu dichten. Zufrieden betrachtete ich mein Werk. Miles saß währenddessen auf meinem Bett und las allen Ernstes Sonette von Shakespeare. Gegen sieben wälzte er sich vom Bett.

„Sollen wir was bestellen oder kochen wir?"

Er blickte mir über die Schulter. „Du hast dich selbst übertroffen, Schwesterherz. Wo soll ich unterschreiben?" Ich grinste in mich hinein. Typisch für meinen Bruder, sich einfach so an meine Idee dranzuhängen, statt selber etwas zu planen.

„Unten?", schlug ich ihm vor, reichte ihm dann einen Stift. Nachdem das erledigt war, kehrten wir zum Thema Essen zurück.

„Mir reichen Sandwiches. Ich hab nicht so viel Hunger", gab ich gedankenverloren von mir und blickte auf mein Handy.

„Du bist ja auch frisch verliebt. Ich nicht. Also brauch ich was Anständiges zu essen. Was denkst du über Chinesisch?"

„Ist eine schwierige Sprache. Dir traue ich aber zu..."

„Willst du mich verarschen? Ich rede von asiatischem Essen, Riley!"

„Ist indisch auch denkbar?"

„Butterhuhn?"

Ich nickte euphorisch.

„Alles klar. Ich ruf an. Du bereitest den Laptop vor."

Miles stürmte die Treppe runter. Hektisch wühlte er in der Schublade, in der die Karten diverser Lieferservices lagen. Er schien wirklich knapp vor einem Hungertod zu stehen. Kurz darauf hörte ich ihn telefonieren. Wie meistens kuschelten wir uns zum Fernsehen auf mein Bett. Die Couch im Wohnzimmer, eigentlich der ganze Raum, war uns zu groß. Jeder hielt seine Packung Indisch auf dem Schoß, hinter uns an der Wand hing eine Lichterkette und spendete warmes Licht und auf dem Laptop flackerte unsere Serie. Auch wenn ich mich bemühte, den Umstand zu verdrängen, war das einer der wenigen Abende, die wir noch zusammen hatten. Ich löffelte schweigend mein Butterhuhn und beobachtete meinen Bruder von der Seite, wie er gebannt auf den Bildschirm starrte.

Als die Folge zu Ende war, trug ich die leeren Pappschachteln nach unten und kehrte mit Cola und Chips in mein Zimmer zurück.

„Morgen wird es nichts mit unserer Folge. Sollen wir sie heute dafür anschauen?", erkundigte ich mich.

„Wieso? Was hast du morgen vor?"

„Ganz falsche Frage. Richtig heißt es: was haben wir morgen vor?" Ich grinste frech.

„Also, gut. Was, meine liebe Schwester, haben wir morgen vor?", verbesserte er sich.

„Wir gehen auf Staceys Abschiedsfeier. Sie fährt mit Lio und ein paar Kumpels von ihm mit dem Motorrad für eine Woche durch die Gegend."

Miles wurde blass. „Im Ernst? Sie ist siebzehn! Alle anderen sind viel älter! Sie fährt doch erst seit einen halben Jahr Motorrad! Ist das nicht gefährlich?"

„Weniger riskant, als wenn sie allein rumgurkt. Mach dir keine Sorgen. Lio passt schon auf."

Meine Argumente schienen nicht überzeugend zu sein. Miles wirkte noch immer besorgt.

„Dawson fährt auch mit. Mach dir keine Gedanken. Er ist der besonnenste Motorradfahrer weit und breit."

„Da hast du wohl recht", lenkte mein Bruder ein. „Aber gut finde ich die Idee noch immer nicht."

Die nächste Folge über wirkte Miles seltsam abwesend. Als wir den Laptop runterfuhren, stemmte er energisch die Hände in die Hüften.

„Ich habe nachgedacht, Riley", eröffnete er mir.

„Wenn das mal gut ist." Skeptisch wartete ich darauf, dass er weitersprach und zog derweil meine dunkelgraue Tagesdecke vom Bett. Ordentlich gefaltet legte ich sie in den Bettkasten.

„Ich werde Stacey morgen sagen, was ich empfinde."

Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Das war mal eine bescheuerte Idee. Er sollte beim Schach spielen bleiben.

„Dann ist Orangensaft auf der Hose dein kleinstes Problem, fürchte ich."

„Mir egal", brummte er. „Nehm ich mir morgen Wechselkleidung mit. Ich geh in zwei Wochen auf die Uni. Wie soll ich mich auf Lernen konzentrieren, wenn ich mich ständig frage, ob ich meine Chancen nicht genutzt habe."

„Miles, von welchen Chancen redest du? Stacey lässt nie ein gutes Haar an dir. Und, sorry, wenn das hart klingt, aber sie schwärmt ständig für andere Typen. Deine Chancen auf einen Sechser im Lotto sind besser, als das Stacey dir nur zuhört!"

„Das heißt nichts. Vielleicht meint sie nur, sie könnte bei mir eh nicht landen, weil ich so gut aussehe und so viel klüger bin als sie."

Ich tippte mit meinem Zeigefinger gegen meine Stirn. „Du bist übergeschnappt. Oder du bist betrunken. In beiden Fällen hilft hoffentlich Schlaf! Gute Nacht, Miles!"

„Nacht, Riley. Träum schön!", flötete er und verschwand.

In meinem Schlafshirt lag ich auf dem Bett und griff nach meinem Handy. Intervention. Das war die einzige Lösung, die mir spontan einfiel.

„Können wir reden?", schrieb ich Stacey.

„Klar. Telefonieren? Oder morgen Frühstück bei mir?", kam beinahe sofort ihre Antwort.

Hastig tippte ich zurück: „Frühstück bei dir klingt toll!"

„Freu mich. Neun Uhr wie immer? Bring bitte Brötchen und Croissants mit.

„Geht klar."

Nun musste ich mir nur noch überlegen, wie ich Stacey auf das vorbereitete, was Miles ihr sagen wollte.

Müde löschte ich das Licht und schloss die Augen. Doch egal, wie sehr ich mich bemühte, der Schlaf kam nicht. Immer wieder geisterten die Ereignisse der letzten achtundvierzig Stunden durch meinen Kopf. Angefangen von der toten Evelyn, über Thomas und Melissa. Auch an Justin dachte ich. Wir hatten heute weder über die Tote noch über das Mädchen und ihren Dad gesprochen. Seltsamerweise war ich froh darüber, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen sollen.

Ich fand Justin ohne Zweifel anziehend. Doch um meine Gefühle offen vor ihm auszubreiten, dafür kannte ich ihn eindeutig noch nicht lange genug. Automatisch mit den Gedanken an Justin kehrte auch die Erinnerung an Dawson zurück. Nicht nur daran, wie er mich getröstet hatte, sondern auch daran, dass er hier geschlafen hatte. Das schlechte Gewissen schlug seine Krallen in meinen Magen und löste ein nervöses Flattern aus. Ich war nicht für besonnene Entscheidungen berühmt und dass ich Dawson zu etwas verleitet hatte, das ihm am Ende Schwierigkeiten bringen könnte, stresste mich unglaublich.

Auch gegenüber Justin kam ich mir schäbig vor. Er hatte mich als seine Freundin bezeichnet. Wie würde er es wohl finden, wenn bei dieser Freundin ein anderer übernachtete? Und wer würde uns glauben, dass da nichts gelaufen war? Kein Mensch! Natürlich nicht. Das war genau das, was Dawson immer Sorgen bereitet hatte. Der Grund, warum er mich hatte knallhart vor allen abblitzen lassen. Niemand sollte den Hauch eines Anlasses haben, ihm ein Interesse an mir zu unterstellen.

Vor zwei Jahren hatte ich ihn dafür gehasst, weil ich nicht begreifen konnte, was für ihn auf dem Spiel stand. Nun konnte ich erfassen, dass eine Anzeige oder Anklage ein ganzes Leben verändern konnte. Warum er seine eigenen Regeln aufweichte, konnte ich beim besten Willen nicht verstehen. Die Grundsituation war nach wie vor die gleiche. Ich war minderjährig, der Altersabstand betrug mehr als vier Jahre. Er hätte gut daran getan, auch weiter Abstand zu halten.

„Ach, Riley..."

Allein die Erinnerung an diesen Seufzer löste ein fieses Kribbeln in mir aus und verstärkte mein schlechtes Gewissen gegenüber Justin. Gleichzeitig bestärkte es mich in der Erkenntnis, dass Justin mir wichtig war und ich ihn nicht verletzen wollte. Diese Feststellung zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht und verleitete mich dazu, mein Handy noch einmal vom Nachttisch zu angeln.

„Gute Nacht", tippte ich und zögerte einen Moment. Zu knapp geschrieben? Oder zu aufdringlich? Grübelnd kaute ich auf meiner Unterlippe herum, entschied letztlich, den Text an Justin zu senden.

Wieder in die Kissen gekuschelt nahm ich wahr, wie sich das Zimmer kurz erhellte. Erneut nahm ich das Telefon zur Hand.

„Gute Nacht, Baby. Vermisse dich. Wann sehen wir uns wieder?"

Ich unterdrückte ein leicht hysterisches Quieken. Er vermisste mich! Mich! Einen Moment überlegte ich, entschied dann, dass es für Stacey sicher okay wäre, wenn Justin mich begleitete.

„Stacey macht morgen eine kleine Feier für ein paar Freunde, weil sie dann wegfährt. Komm doch einfach mit?"

Nervös kaute ich auf meinem Fingernagel und wartete auf eine Antwort. Gott, bei der ganzen Warterei konnte man ja irre werden.

„Gerne, Baby. Freu mich auf dich. Wann soll ich dich abholen?"

Abholen? Das wurde ja immer besser. Dann könnte Miles vielleicht auch bei Justin mitfahren. Das würde ihm die Möglichkeit eröffnen, sich Mut anzutrinken. Und wenn er morgen Stacey seine Gefühle gestehen wollte, dann brauchte er den Mut eines Löwen. Nach dem Gespräch wäre vermutlich Alkohol auch eine gute Möglichkeit, den Schmerz der Zurückweisung zu betäuben.

„Vielleicht so gegen halb acht?", schlug ich vor und er antwortete prompt:

„Gerne. Bis morgen, Süße."

Ja, so konnte der Abend enden, beschloss ich. Zufrieden mit der Welt fand ich endlich auch in den Schlaf.

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