18
„Riley... ich kann doch Mum und Dad nicht anlügen, wenn sie fragen!"
„Ich wüsste nicht, warum sich diese Frage für sie überhaupt stellen sollte. Aber okay. Sollten sie sich jemals erkundigen, ob Dawson über Nacht hier war, dann erzähl es von mir aus. Aber von dir aus sag bitte nichts. Ihm wäre das nicht recht und ich will ihn nicht in Verlegenheit bringen."
Miles überlegt und ich wippte von einem Fuß auf den anderen, während er mir eine Antwort schuldig blieb. Ich kannte niemanden außer meinem Bruder, der über eine einzelne Entscheidung unendlich lange nachdenken konnte.
In der Zeit, die Dad und er benötigten, einen Schachzug zu planen, konnten ganze Kriege gewonnen werden. Für mich nicht nachvollziehbar. Ich schaute auf das Brett, sah meine Möglichkeiten, entschied aus dem Bauch heraus, ohne die nächsten Züge meines Gegners zu überdenken. Blöd nur, dass mein Bauch ziemlich oft daneben lag und die Spiel- und Fehleranalyse meiner männlichen Verwandten oft länger dauerte als die Partie selber. Warum sie sich an jeden Zug erinnerten und ich nur maximal die letzten vier benennen konnte, gehörte zu den Rätseln des Universums. Ebenso wie die Tatsache, dass ich zumindest gelegentlich gewann, indem ich maximale Verwirrung mit meinen unorthodoxen Zügen stiftete.
„Na gut. Mit dieser Regelung kann ich leben", gestand Miles mir nach einigem Grübeln zu. Er hielt seinen Teller unter kaltes Wasser, bevor er ihn in die Spülmaschine stellte.
„Sag mal, Miles, was hast du heute vor?", erkundigte ich mich verhalten.
„Mich von dem Schock erholen, dass meine Schwester sich wie eine Furie verhalten hat." Oh Mist. Sein Ego hatte doch einen Knacks bekommen. Dabei hatte er in meinen Augen aufgeräumt gewirkt. Bessere Strategen, die ins Einkaufszentrum gefahren werden wollten, wären geschickter vorgegangen.
„Das tut mir leid, Miles. Wirklich", entschuldigte ich mich kleinlaut. „Mir war gestern alles zu viel. Ich brauchte Abstand", versuchte ich zu erklären. Besser machte ich es damit aber nicht. Ich hätte bei „wirklich" aufhören sollen. Jetzt hatte ich total verkackt. Das hörte ich schon daran, wie tief er Luft holte, bevor er zu einer Antwort ansetzte.
„Ganz offensichtlich nur von mir? Von Dawson hast du dich in den Arm nehmen lassen. Ich durfte aber nicht mal in deine Nähe." Er klang verletzt und ihm wehzutun war das letzte, was in meiner Absicht gestanden hatte. Ich wollte eine Linie ziehen, mich schützen.
„Du hast meinen Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, nicht respektiert. Wärst du mir nicht auf die Pelle gerückt, dann wäre die Situation vielleicht nicht so eskaliert."
„Dann ist das meine Schuld? Super, Riley. Ich wollte dir helfen! Für dich da sein. Was ist dein Scheißproblem?"
„Mein Scheißproblem ist, dass ich dich gebeten habe, mich in Frieden zu lassen! Meine Bedürfnisse zu respektieren, liegt meiner Familie aber offenbar nicht!", wetterte ich, regte mich schon wieder maßlos auf, dass ich das überhaupt vertiefen und erklären musste.
„Nicht nur du hast Bedürfnisse", seufzte Miles grabestief. „Ich auch. Und heute brauche ich Abstand!" Er schlurfte aus der Küche.
Ich schnaufte unfroh. Ich würde wohl mit dem Bus fahren müssen. Oder dem Fahrrad. Wobei letzteres ausschied, wenn ich mehr als nur ein Spitzenhöschen kaufen wollte. Mein Mountainbike war auf Sport ausgelegt, nicht auf Transport.
Grübelnd lief ich die Treppe hoch. Ob ich Justin fragen sollte, ob er Lust auf Shopping hatte? Mal völlig unabhängig von der Frage, wie ich dorthin kommen sollte. Jungs mochten das im Allgemeinen ja nicht, solange es nicht speziell um Dessous ging, hatte ich mir sagen lassen.
Aber es wäre auf jeden Fall ein guter Aufhänger, um ihn anzuschreiben, das war selbst einem Beziehungsfrischling wie mir sonnenklar. Die Nachricht an Justin war schnell verfasst, dann schrieb ich an Dawson, dass ich Miles auf Stillschweigen eingeschworen hatte. Die Fußnote, dass er nicht aktiv lügen würde, unterschlug ich und betete, dass das kein strategischer Fehler war.
„Danke", war alles, was Dawson schrieb. Kurz und bündig. Bloß keine überflüssigen Buchstaben verschwenden.
In der Zeit, in der ich auf Justins Antwort wartete, räumte ich das Bettzeug weg und sorgte auch sonst für Ordnung. Sogar den Staubsauger holte ich aus der Putzkammer. Darüber überhörte ich das Klingeln an der Tür. Erst als Miles den Stecker aus der Steckdose zog und das Getöse des Saugers erstarb, reagierte ich.
„Ja?" Misstrauisch beäugte ich Miles, der, das Kabel in der Hand, in meinem Zimmer stand.
„Hast Besuch. Du musst aber nicht runtergehen, wenn du nicht willst." Da war er wieder, der Bruder, der mich beschützte.
„Wer ist es denn?"
„Der Vater mit seiner Tochter, Riley. Keine Ahnung, was er will. Aber er hat Blumen und das Mädchen eine Schachtel Pralinen."
„Ach du Scheiße!", rutschte es mir raus.
„Was hätte ich machen sollen? Ich konnte ihn ja nicht draußen stehen lassen."
„Nein, schon gut. Klar rede ich mit ihm. Ich weiß nur nicht... Dad hatte doch extra diesen Anwalt beauftragt. Was, wenn ich was falsch mache? Was falsches sage?" Nervös zupfte ich an meinen Fingern und wünschte mir, Dawson wäre hier. Er hätte bestimmt gewusst, wie ich mit der Situation umgehen sollte.
„Keine Ahnung. Ich weiß doch auch nicht, was richtig ist und was falsch." Gleichzeitig fuhren wir uns nervös durch die Haare. Als uns das bewusst wurde, entlockte es uns ein Grinsen.
„Komm her!" Miles breitete schmunzelnd die Arme aus und ich warf mich hinein. „Zusammen schaffen wir auch das, oder?" Er klang hoffnungsvoll.
Ich nickte und drückte ihn ganz fest. „Ja. Die Thompson Geschwister schaffen alles!"
„Dann lass deinen Besuch nicht warten. Ich kümmere mich um Kaffee und Getränk für die Kleine"
Als ich hinter Miles die Treppe runter lief, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Doch als Melissa mit einem Strahlen auf ihrem verweinten Gesicht reagierte, wurde mir leichter ums Herz. Sie stand auf und auch der Vater erhob sich.
„Mrs. Thompson, also... ja mein Name ist Bowbridge. Thomas Bowbridge", stellte sich der Mann vor. Er wirkte gefasst und ruhig. „Bitte entschuldigen sie, dass ich hier so unangemeldet auftauche. Eine Karte zu schreiben, fand ich zu wenig und... ja, also..." Er hielt mir den Blumenstrauß entgegen.
„Danke." Ich hielt den Blumenstrauß noch nicht ganz in der Hand da drängelte Melissa sich an ihrem Dad vorbei. „Die sind für dich. Aber nicht vor dem Schwimmen essen. Das soll man nämlich nicht!"
„Absolut richtig, Melissa. Ich werde darauf achten."
Mit den Geschenken in der Hand stand ich da. Beklommenes Schweigen machte sich breit und Miles rettete uns alle, in dem er mir die Blumen und die Pralinen und Mr. Bowbridge die Tochter abnahm. Er behauptete Hilfe von ihr mit der Vase zu benötigen und sie müsse in der Küche ihr Getränk aussuchen. Als beide das Wohnzimmer verlassen hatten, räusperte sich Mr. Bowbridge umständlich.
„Ich bin kein Mann großer Worte, Mrs. Thompson. Ich bin heute nur hier, um ihnen persönlich zu danken. Ohne sie hätte ich gestern vermutlich beide verloren." Seine Stimme brach.
„Sagen sie doch bitte Riley zu mir", bat ich schüchtern. „Und setzen sie sich."
Ich deutete auf das Sofa.
„Thomas, einfach Thomas", sagte er und ließ sich mir gegenüber nieder.
„Was ich gestern getan habe, ist selbstverständlich. Wir werden dafür ausgebildet und es ist unser Job in Notfällen da zu sein. Ich wünschte nur, ich hätte gestern mehr tun können." Der letzte Satz wollte mir fast nicht mehr über die Lippen kommen. Mitleid und Reue schnürten mir die Kehle zu und ich hatte schon wieder Tränen in den Augen. Erstaunt stellte ich fest, dass Thomas energisch mit dem Kopf schüttelte.
„Evelyn, also meine Frau, hat gestern eine unverzeihliche Dummheit begangen. Ich kann nicht verstehen, was sie angetrieben hat. Sie wusste, dass sie schwer krank ist. Dass sie sich nicht anstrengen sollte, bis sie ein Spenderherz bekommt. Bis dahin wollten wir Melissa so viel Normalität wie möglich geben. Aber das ging zu weit." Er stockte, rieb mit den Handflächen über seine dunkle Jeans.
„Ich kann es nicht begreifen. Das ist, als wenn man mit achtzig Meilen gegen einen Baum rast und das Kind im Auto sitzt", sagte er tonlos.
„Aber die Obduktion steht noch aus. Es weiß doch noch niemand, wie es genau zum Tod kam?"
„Ich bin Realist, Riley. Sie war geschwächt. Sie hätte überhaupt nicht schwimmen sollen. Das gestern war ein Selbstmordkommando und damit belastet sie das Leben ihrer Familie und von euch jungen Leuten."
Er hatte sich richtig in Rage geredet.
„Ich hatte eine schlaflose Nacht. Viel Zeit zum Nachdenken. Ich finde Evelyns Handeln unverzeihlich. Es hätte nicht nur ihr Leben, sondern das unserer Tochter kosten können."
Miles stellte den Kaffee vor Thomas ab. „Ähm, ich suche mal besser mit Melissa nach Limo im Keller."
„Nein, alles gut. Ich denke... also von meiner Seite ist alles gesagt. Danke für den Kaffee. Melissa kann einfach Wasser trinken." Er griff nach der Tasse. Er hatte eine recht harsche Art. Ich hätte ihn nicht als Realist bezeichnet. Eher als Fatalist. Vielleicht war aber nicht einmal das der richtige Begriff. Dawson hätte sicher... verdammt! Dawson? Echt jetzt?
„Riley?" Melissa sah mich aus ihren großen, dunklen Augen an. „Du kannst doch gut schwimmen, oder?"
„Naja, ich glaube schon." Meine Antwort kam etwas zögerlich, da ich keine Ahnung hatte, auf was die Siebenjährige hinauswollte.
„Mama wollte gerne, dass ich schwimmen lerne. Könntest du nicht..."
„Melissa, das geht jetzt wirklich zu weit. Riley hat genug für uns getan. Wir finden eine Schwimmlehrerin", unterbrach Thomas seine Tochter.
„Mir würde es nichts ausmachen, ehrlich. Ich würde mich sogar freuen", merkte ich vorsichtig an.
Erstaunt sah Thomas auf. „Wirklich?"
Ich nickte. „Schwimmen zu können ist wichtig. Noch wichtiger als Fahrradfahren oder Skaten. Trotzdem lernen die meisten Kinder erst spät schwimmen. Die Hälfte der Wasserunfälle mit fatalem Ausgang bei Kindern in unserem Bundesstaat wäre vermeidbar, wenn die Kinder frühzeitiger schwimmen lernen."
„Ja, dann... also. Vielleicht aber erst wenn, ein bisschen Zeit verflossen ist. Im Moment weiß ich gar nicht wirklich, wo oben und unten ist." Thomas fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht.
„Die Arbeit, die Beerdigung. Für Melissa habe ich keine Betreuung und ihre Oma kommt erst übermorgen."
Dafür, dass alles Kopf stand in seinem Leben, wirkte er sehr ruhig.
„Ich danke ihnen für ihre Zeit und also ja, noch mal danke für... einfach alles, Riley." Thomas erhob sich. „Wenn, also... wegen dem Schwimmen, wir melden uns dann vielleicht mal."
„Wie ihr möchtet" Ich begleitete die beiden zur Tür. „Auf Wiedersehen ihr beiden. Ich wünsche euch viel Kraft für die kommende Zeit."
„Danke."
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