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Mit jedem hatte ich gerechnet, aber nicht mit ihm! Ausgerechnet Dawson hatte Miles zu Hilfe geholt? Warum nicht Justin? Oder Stacey? Von mir aus Lionel!

Ich blickte an Dawson vorbei. „Du Verräter!", zischte ich meinen Bruder an, der mich aus seinen braunen Augen entschuldigend ansah.

Unbeeindruckt von meiner offensichtlichen Ablehnung war Dawson mit zwei Schritten neben meinem Bett und brachte mich energisch in eine sitzende Position. Er strich mir die wirren Haare aus dem Gesicht. Dann zog er mich in eine vorsichtige Umarmung. „Ist gut, Riley", flüsterte er leise. „Ganz ruhig atmen. Miles, mach mal bitte das Fenster auf, damit frische Luft reinkommt. Und hol deiner Schwester was zu trinken."

Miles nickte und tat, was Dawson verlangte. Dankbar atmete ich die kühle Nachtluft ein, die durch das geöffnete Fenster hereinströmte. Doch meine Tränen brachte das nicht zum Versiegen. Noch immer war mein Atem hektisch und zittrig. Dawson zog mich fester an sich und ich umklammerte ihn. Ich drückte mein tränenfeuchtes Gesicht in sein dunkles Shirt. So konnte ich allerdings noch schlechter atmen und drehte mein Gesicht schließlich zur Seite.

Dawsons Hand fuhr weiter in beruhigenden Kreisen über meinen Rücken. Miles kam mit dem Getränk zurück. „Danke. Stell es einfach auf ihren Nachttisch", sagte Dawson.

„Kann ich noch was tun?", erkundigte sich Miles nervös.

„Nein. Das ist erstmal alles", gab Dawson zurück und wiegte mich sanft hin und her.

„Falls sie noch etwas braucht, bin ich nebenan", gab Miles resigniert bekannt und verließ das Zimmer. Die Tür blieb dabei sperrangelweit offen.

Noch immer hielt Dawson mich fest. „Ach, Riley...", seufzte er wie am Abend, als wir uns am See umarmt hatten. „Egal, was du gerade denkst, nichts davon ist so schlimm wie in deiner Phantasie."

Mir fehlten die Luft und die Kraft, um ihm zu widersprechen. Mir fehlte die Energie, um mir überhaupt eine Antwort zu überlegen. Stattdessen lauschte ich auf seinen gleichmäßigen Herzschlag, fühlte seine Atemzüge an meiner Wange, spürte die Wärme seiner Hände, die unablässig über meinen Rücken strichen. Seine Ruhe übertrug sich auf mich. Mein Schluchzen ebbte langsam zu einem Schniefen ab und mein Gehirn nahm nach und nach seinen Dienst wieder auf und mir wurde die Absurdität dieser Situation bewusst. Ich saß mit Dawson auf meinem Bett und heulte sein Shirt voll, während er mich tröstete.

„Geht's wieder?", erkundigte Dawson sich nach der langen Weile, in der ich mir das Elend von der Seele heulte. Er schob mich von sich, musterte mich prüfend.

„Ich glaub schon", antwortete ich mit belegter Stimme und fischte ein Taschentuch aus meinem Nachttisch. Ich trocknete mein Gesicht und versuchte meine Nase freizubekommen, aber die war völlig zugeschwollen. Vorsichtig nippte ich an dem Glas, das Miles mir hingestellt hatte. Mit der verstopften Nase konnte ich kaum schlucken.

Verlegen saß ich da und knetete meine Finger. Dawson anzusehen traute ich mich noch immer nicht. Trotzdem wagte ich es, die Frage zu stellen, die mich am meisten bewegte: „Warum hat Miles ausgerechnet dich angerufen?"

„Weißt du das denn nicht selbst?", fragte Dawson sanft und hob mein Kinn mit zwei Fingern, sodass ich ihm mit meinem verheulten Gesicht entgegenblicken musste. Seine Gesichtszüge waren sanft und nachsichtig. Eine feine Hoffnung keimte in mir auf. Eine dumme Hoffnung wohlgemerkt, die es seit zwei Jahren nicht mehr hätte geben sollen. Dennoch war sie in meinem Herzen und ließ dieses schneller schlagen.

„Nein", hauchte ich gefesselt von seinem Blick. „Würde ich sonst fragen?"

„Er dachte, ich bin der Experte für deine hysterischen Anfälle", gab Dawson schmunzelnd von sich. Seine Augen glitzerten amüsiert.

„Als ob!", gab ich unwirsch zurück. „Das war nur ein einziges Mal!"

Dawson lachte. „Du hast betrunken auf der Balkonbrüstung im ersten Stock gesessen und Rotz und Wasser geweint, weil ich dich abgewiesen habe und ich konnte dich erfolgreich davon abhalten, runterzufallen. Eine gewisse Expertise habe ich also schon!"

Beschämt schlug ich die Hände vor mein Gesicht. Gab es denn nichts an diesem verfluchten Abend damals, was nicht wie ein Bumerang ständig zurückkam?

Dawson schloss seine Finger um meine Handgelenke und zog sie zur Seite. „Kein Grund zur Sorge. Das hier bleibt unter uns."

Dankbarkeit erfüllte mich mit Wärme. Bis er sagte: „Gegen einige Gefälligkeiten, versteht sich."

Ich suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen, dass das ein Scherz war. Aber ich konnte keine finden. Er sah todernst aus. Die Wärme verflog schlagartig.

„Oh mein Gott, Riley! Du müsstest jetzt mal dein Gesicht sehen!" Er lachte und ohne zu zögern schlug ich ihm mehrfach auf seinen Oberarm. „Du bist so ein blöder Arsch!", fluchte ich. „Und ich glaub dir auch noch!"

„Hey, genug!" Er lachte immer mehr, je öfter ich zuschlug. Er packte meine Hand und hielt sie fest. Dann zog er mich wieder an seine Brust.

„Ist gut jetzt, Riley!"

Er rutschte weiter nach hinten, bis er sich an das Kopfende meines Bettes anlehnen konnte, mich zog er einfach mit.

„Und jetzt erzähl mal. Was ist passiert?"

Dawsons linker Arm lag um meine Schulter. Seine Rechte lag entspannt auf seinem Oberschenkel. Die angenehm tiefe Stimme, die er hatte, vibrierte in seinem Brustkorb. Leider hatte ich keine Ahnung, was ich mit meinen Händen anfangen sollte, also zupfte ich an meinem Nagelbett herum.

„Wie kommst du darauf, dass etwas passiert ist?"

„Weil du am Nachmittag, als ich gegangen bin, total gefasst gewirkt hast und nun plötzlich ausflippst?" Seine Art, Feststellungen als Frage zu formulieren, mochte ich.

„Eigentlich war es nur eine Kleinigkeit", gestand ich ihm und fragte mich im gleichen Augenblick warum zur Hölle ich ihm das erzählte. Das wäre doch nur der nächste Punkt auf seiner ellenlangen Liste von Schwächen, die er mir unter die Nase reiben konnte. Dumm, kindisch, hysterisch, kleinlich, unzivilisiert und weiß Gott, was sich da alles aneinanderreihte.

„Geht der Text noch weiter, oder war das schon unser ganzes Gespräch?", stichelte er. „Aber ist schon okay, wenn du nicht mit mir reden willst. Ich versteh das. Wir sind nicht grad beste Freunde", lenkte er dann ein.

„Das ist es nicht. Ich kann selber nicht verstehen, warum ich ausgerastet bin."

„Erzähl einfach was passiert ist, vielleicht können wir es gemeinsam rausfinden?", schlug er vor. Wieder eine Frage.

„Okay", stimmte ich zu. „Als ich nach Hause kam, war eigentlich alles gut. Also, für die Umstände. Aber beim Essen hat Miles gesagt, dass Dad nicht heimfliegen könne und nur einen Anwalt organisiert hat. Und Mum ist einfach gefahren, weil sie Termine nicht kurzfristig verschieben kann. Keiner hat sich die Mühe gemacht anzurufen oder vielleicht wenigstens mal zu schreiben. Ich mein, was ist so schwierig daran? Miles hat versucht mich zu trösten, aber ich will nicht, dass er mein Elternersatz ist. Wenn es sie nicht gäbe, dann okay, klar müsste ich damit zurechtkommen. Wie du oder das Mädchen. Aber ich habe eine Mum und einen Dad. Und auch auf die Gefahr, dass es wieder mal kindisch ist: ich habe mir einfach gewünscht, dass meine Mum hier ist, und mich tröstet." Wieder lösten sich Tränen und tropften auf Dawsons Shirt. „Außerdem nervt mich der Kommentar von diesem Polizisten. Soll er sich doch mal da in die beschissene Sommerhitze setzen. Würd gerne mal sehen, wie lange er von oben runter, zum See und hinter die Sperrkette braucht. In der Zeit würde vermutlich sogar ein Wal ertrinken!"

„Ach, Riley...", sagte Dawson wieder. „Das ist nicht kindisch. Ist doch nur normal, dass man sich in dieser Situation Trost von seinen Eltern wünscht. Da kann man schon mal ausflippen, wenn man einsam und verletzt ist. Deine Art damit umzugehen ist jedenfalls gesünder, als die Art, wie ich mit Enttäuschungen umgegangen bin."

Verunsichert sah ich ihn an. Den Schmerz in seiner Stimme konnte ich nicht überhören. Doch zu fragen traute ich mich auch nicht. Ich wollte nicht indiskret sein und ihn auch nicht verärgern. Vor seiner harschen Art und der spitzen Zunge, die er manchmal hatte, fürchtete ich mich mindestens genauso sehr wie davor, wieder von ihm ausgelacht zu werden. Nach einigen Überlegungen siegte meine Neugier.

„Was hast du getan?"

„Ich bin nicht gekommen, um über mich und meine Vergangenheit zu sprechen, Riley", bügelte er mich ab. „Ich glaube, ich sollte jetzt gehen, damit du schlafen kannst. Morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus." Dawson machte Anstalten aufzustehen. Sofort packte mich völlig irrationale Panik.

Mein Herz begann zu rasen, meine Hände wurden feucht und ich schluckte, versuchte meine erneut aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Doch es klappte nicht. Sie begannen sofort wieder zu rinnen, unaufhaltsam. Keine Ahnung, woher meine plötzliche Hilflosigkeit kam. Ich erkannte mich selber nicht mehr wieder.

„Kannst du noch bleiben?"

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