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Miles saß noch auf der Couch, guckte Netflix. Als er mich kommen hörte, stellte er den Ton ab und sah mich erwartungsvoll an. „Und?"

„Und was?"

„Wie war es? War er nett? Habt ihr euch gut verstanden? Lass dir doch nicht immer alles aus der Nase ziehen!" Miles sah mich strafend an. Er war total aufgeregt. Wie süß!

„Es war ein netter Abend", fertigte ich ihn ab und er verdrehte die Augen. Ich fläzte mich neben meinem Bruder auf die Couch und er warf die Decke über mich. „Riiiileeey! Sag schon!", nervte er mich.

„Okay, es war ein seeehr netter Abend. Er hat mir sogar eine Rose geschossen", berichtete ich und wedelte mit der Blume vor Miles' Nase.

„Wow. Dafür hättest du aber kein Date gebraucht. Das hättest du selber auch gekonnt."

„Stimmt. Aber wenn ich meinem Spiegelbild erzähle, wie schön ich bin, ist es nur halb so glaubwürdig." Nun geriet ich doch etwas ins Schwärmen.

„Er scheint wirklich nett zu sein. Dann seid ihr jetzt zusammen?"

„Ich weiß nicht. Er will mich jedenfalls anrufen."

„Das klingt doch vielversprechend, oder?"

„Hm, glaub schon", antwortete ich müde. „Ich geh ins Bett, ja?"

Unsere Eltern kamen am Sonntagabend nach Hause. Das änderte allerdings nicht viel an unserer häuslichen Situation: Dad verschanzte sich sofort im Büro und widmete sich den zu schreibenden Protokollen und der Niederschrift zur Fachbereichstagung. Mum verschwand im Waschkeller und kümmerte sich um die Wäsche und das Bügeln der Hemden, die Dad am Abend für eine zehntägige Reise nach Südamerika benötigte.

Sie selbst wollte auch heute Abend erneut ihre Koffer packen. Ihr Weg würde sie bis zum Freitag nach Washington führen.

„Mir graut es davor, wenn du dann auch weg bist", gestand ich Miles, während wir den lauen Abend für eine Joggingrunde nutzten.

„Du hast doch jetzt Justin. Und wenn dir die Decke auf den Kopf fällt, dann kannst du mich anrufen, oder wir skypen. Und Mum und Dad haben doch gesagt, dass sie versuchen sich so abzustimmen, dass sich ihre Reisen, wenn überhaupt, dann nur kurz überschneiden."

Ich schnaubte. „Mit Dad etwas abstimmen, ist beinahe unmöglich. Er vergisst Mums Geburtstag, wenn man ihn nicht dreimal erinnert!"

„Riley, komm schon. Wenn du mal zwei oder drei Tage allein bist, dann ist das kein Weltuntergang. Du kriegst das schon hin. Du bist doch kein Kind mehr!"

„Na, das sag mal Dawson", rutschte mir raus und Miles lachte.

„Wieder in die Haare bekommen?"

„Nein, wir machen Fortschritte. Er schafft es, mich zu ignorieren, statt mich zu beschimpfen."

Inzwischen hatten wir den Badesee erreicht. Er lag in der Dämmerung, Mücken umschwirrten uns.

„Mensch, Miles, gib Gas! Ich hab das Mückenspray vergessen!", knurrte ich und wedelte die lästigen Insekten weg. „Die sind dieses Jahr eine absolute Plage."

Miles beschleunigte nun auch und für einige Zeit liefen wir schweigend an den letzten Badegästen vorbei, die ihre Sachen zusammenpackten, gleichzeitig passierten wir die ersten Jugendlichen, die ihr Grillzeug auspackten, Bier heranschleppten und sich mit Picknickdecken auf einen gemütlichen Abend vorbereiteten.

Im Grunde gab es bei uns zwei Lager: die coolen versammelten sich am Abend am Badesee. Die Rettungsschwimmer eher am Waldsee. Wer wollte schon seine Freizeit dort verbringen, wo man ohnehin stundenlang seine Zeit fristete. Aus purer Gewohnheit guckte man ständig suchend über den See. Im Dunkeln völlig sinnentblödet. Und so war ich vor zwei Wochen zur Waldsee-Fraktion gewechselt. Jetzt winkten mir jedoch einige Jungs und Mädchen aus dem Schwimm-Team. Offenbar war ich während der zwei Wochen Ferien nicht völlig in Vergessenheit geraten.

„Die werden sich nächstes Schuljahr alle warm anziehen müssen", schnaufte Miles neben mir. „Die liegen faul rum und du trainierst mit den Rettungsschwimmern schon die ganzen Ferien durch. Vermutlich unterbietest du in der kommenden Saison alle Bahnrekorde." Mein Bruder wurde langsamer.

„Was ist los? Schon aus der Puste?", frotzelte ich, schnaufte nach unserem Sprint jedoch nicht weniger. „Kann schon sein, dass ich in den Schwimmwettkämpfen gut abschneiden werde. In Leichtathletik werde ich aber weiterhin keinen Blumentopf gewinnen."

Wieder zu Hause verteilten Miles und ich uns auf die beiden Bäder im Haus und trafen dann beinahe zeitgleich im ersten Stock wieder aufeinander.

„Netflix?", fragte ich.

Miles nickte. „Logo! Ich hol noch schnell was zum Knabbern, ja?"

Während ich mein Bett mit Kissen bestückte und in ein gemütliches Fernsehparadies verwandelte, sah ich immer wieder auf mein Handy. Zum gefühlt zweihundertsten Mal stellte ich fest, dass Justin sich nicht gemeldet hatte.

„Was machst du denn für ein Gesicht?", wollte Miles wissen, als er sich mit einer Tüte Chips aufs Bett setzte.

Mit dem Handy in der Hand warf ich mich aufs Bett. „Justin wollte mich anrufen. Hat er aber nicht", brummte ich traurig.

„Och, Kleine, sei nicht enttäuscht. Vielleicht hatten seine Eltern Pläne und er konnte nicht anrufen."

Aufmunternd stupste mein Bruder mich mit dem Ellbogen an.

„Den ganzen Tag? Und er konnte nicht mal eine Nachricht schreiben?" Eher unglaubwürdig, aber was verstand ich schon von Jungs. Nix und damit definitiv weniger als mein Bruder, der zu der undurchsichtigen männlichen Spezies gehörte.

„Vielleicht waren sie wandern oder beim Segeln. Er hatte kein Netz. Oder er hat sein Handy zu hause vergessen?"

„Er war vor drei Minuten online. Schau!" Ich wackelte mit dem Handy vor seiner Nase herum.

„Du auch. Hast du ihm geschrieben?", zog Miles mich auf und steckte mein Laptop am Strom an, bevor er die Netflix-App öffnete.

„Warum? Ich hab schließlich nicht versprochen, mich zu melden!"

Miles verdrehte die Augen. „Die Menschheit wäre schon ausgestorben, wenn nicht ab und zu einfach mal einer die Initiative ergreifen würde. Er war schon mutig und hat dich auf ein Date eingeladen."

„Aber er hat gesagt..."

„Riley, sei nicht kindisch. Schreib ihm!", forderte Miles nun energischer, was meinen Widerstand lediglich verstärkte.

„Und was? Ich hab doch keine Ahnung!"

Miles lachte. „Vermutlich stellt Justin sich diese Frage auch seit heute morgen schon. Und je mehr Zeit verstrichen ist, desto blöder kam er sich vor. Jetzt weiß er es noch immer nicht, also lässt er es lieber ganz bleiben."

„Aha. Und das weißt du woher genau?" Neugierig sah ich ihn an.

„Aus eigener Erfahrung. Und jetzt schreib ihm. Frag ihn wie sein Tag war." Abrupt wechselte Miles das Thema. „Sag mal wieso sind wir bei Folge acht? Wir hatten doch erst die sechs gesehen?" Verdattert blickte er auf den Bildschirm.

„Möglicherweise sind wir in meinem Profil, nicht in deinem, und eventuell hab ich ein klitzebisschen vorausgeschaut", nuschelte ich schuldbewusst.

„Nicht dein Ernst, Riley!" Er warf mit einem Chip nach mir.

Zerknirscht sah ich meinen Bruder an. „Ich fürchte schon!"

„Dann hast du ja jetzt eineinhalb Folgen lang Zeit, Justin zu schreiben." Säuerlich sah er mich an. „Und wehe du spoilerst! Ich habe einen Zeigefinger und ich zögere nicht, ihn zu benutzen. Ich werde dich kitzeln, bis du um Gnade winselst!", drohte er.

Abwehrend hob ich die Hände, presste meinen Mund zu einem schmalen Strich zusammen, bevor ich das Handy weglegte.

Versprechen waren dazu da, gehalten zu werden. Das hatte nichts damit zu tun, dass ich kindisch war, sondern Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit schätzte. Außerdem würden wir uns morgen sowieso beim Dienst sehen, dann konnten wir das klären.

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