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Die Woche verstreicht wie im Flug. Ich verbringe den Vormittag in meinem dunklen Zimmer, schaue Netflix und snacke nebenher mein Frühstück. Am Nachmittag lege ich mich an den Pool, stöbere in fragwürdigen Frauen-Zeitschriften mit quälenden Diäten und unrealistischen Flirttipps und schwimme dann ein paar Runden im kühlen Pool.

Die Jungs lassen sich in dieser Zeit kaum blicken. Offenbar haben sie ihre Partys und Sauforgien vergessen. Und das Beste überhaupt ist, dass ich diese Jenny — äh Jelena — schon seit Tagen weder gesehen noch gehört hab. Alle außer Lucas und Alexander sind anscheinend wieder zurück nach Aachen gefahren. Diese pennenden Leute überall in den Gästezimmern und im Keller hätte ich auch keinen Tag länger ertragen.

Ich bin eine Einzelgängerin, das ist mir jetzt mehr denn je bewusst. Und vielleicht brauch ich Marlene auch gar nicht mehr. Immerhin haben wir uns nach unserem Wettkampf weder gesehen noch gehört. Da sie sich für die Meisterschaften nicht qualifiziert hat, ist nicht einmal sicher, ob wir uns beim Schwimmen wiedersehen. Aber es ist mir egal. Marlene kann mir egal sein, immerhin hat sie mich eine Langweilerin genannt. Und das Schlimmste ist, vielleicht hat sie Recht. Aber was ist eigentlich so verkehrt daran, langweilig zu sein? Wenn ich Nächte lang durchfeiern, koksen und vögeln muss, um dazuzugehören, dann bleib ich lieber für immer allein.

»Leia, was machst du da?«, ertönt plötzlich die Stimme von Noah über mir, als ich auf dem Liegestuhl liege und meine Haut von der Wärme der Sonne trocknen lasse.

»Ich denke ans Koksen und Vögeln«, gebe ich kapp von mir und blinzle ihm grinsend entgegen. Ich bin selbst überrascht, dass ich ihm immer dreister antworte, doch er hat es nicht anders verdient.

»Ha-ha, sehr witzig«, kommentiert er unbeeindruckt und lässt mein Selbstbewusstsein damit wieder auf die Größe einer Erbse schrumpfen. »Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass wir in einer Viertelstunde losfahren.«

»Und wann kommt ihr wieder?«, frage ich, um zu wissen, wie lange ich Ruhe von diesem Gesindel hab.

»Leia, die Bekanntgabe der Qualifizierten, die ist heute!«, erinnert er mich.

»Was? Jetzt?«, fahre ich erschrocken hoch und bemerke im selben Moment, dass er bereits Anzug und Fliege trägt.

»Ja!«, zischt er genervt. »Ich wusste eh, dass du wieder alles verpeilst«, murmelt er noch, bevor er sich wieder abwendet.

Wie von der Tarantel gestochen hüpfe ich auf und stürze an Noah vorbei ins Haus.

In meinem Kleiderschrank angekommen, suche ich fieberhaft nach meinem einzigen eleganten Abendkleid, das ich besitze. Als ich es endlich gefunden und angezogen habe, bemerke ich seufzend, dass mir das rote One-Shoulder-Teil dezent zu eng geworden ist. Aber weil ich keine andere Wahl hab, renne ich schnurstracks ins Badezimmer, um mein Gesicht wenigstens noch etwas aufzufrischen. Dabei stoße ich mir in der Hast den kleinen Zeh am Türstock. Ich fluche auf wie ein kleiner Gnom und humple zum Spiegel. Schnell pudere ich mein glänzendes Gesicht und trage etwas Maskara und Highlighter auf. Die zwei kleinen Pickel auf meinen Schläfen bedecke ich noch schnell etwas unbeholfen mit meinen Haaren, ehe ich mit meiner glitzernden Clutch unterm Arm in den Eingangsbereich runterrenne.

»Ich bin fertig!«, keuche ich völlig atemlos als ich vor den drei Jungs stehe.

Lucas Augen werden groß, als er seinen Blick über mich wandern lässt.

Alexander pfeift anerkennend.

»Sag jetzt ja nichts!«, ermahnt ihn Noah.

»Alter, was kann ich dafür, dass sie so heiß ist.« Er zuckt unschuldig mit den Schultern.

»Dir sollte besser mal auffallen, dass sie Flipflops trägt«, knurrt Noah.

Ich blicke an mir runter und tatsächlich stehe ich in meinen neongelben Latschen vor ihnen. In letzter Zeit war ich es einfach zu gewohnt, in diesen Dingern rum zu laufen. »Shit«, entfährt es mir, »ich geh mir schnell oben ein paar Ballerinas holen!«, fasle ich.

»Leia!«, ermahnt mich Noah streng. »Wir müssen aber los und das jetzt

In diesem Augenblick kommt mir ein Geistesblitz und ich öffne den Schuhkasten neben mir. Er ist randvoll mit Schuhen von meiner Mutter. Und die sind — wie zu erwarten — alle mindestens zehn Zentimeter hoch. Die Frau hat echt ein ungesundes Verhältnis zu ihrer Körpergröße!

Schnell greife ich nach dunkelroten Pumps mit offener Schnürung. »Gehen wir!«, verkünde ich.

Wir nehmen Lucas' nagelneuen Coupé.

Ich habe mich schon vor ein paar Tagen gefragt, wem diese schwarze Kostbarkeit in der Auffahrt gehört. Aber die Auflösung wundert mich nicht, schließlich sind Lucas' Eltern schon seit Jahren getrennt und seit dem versucht sich sein Vater die Beliebtheit bei seinem Sohn mit teurem Scheiß zu erkaufen.

Im Inneren des Autos riecht es noch nach Neuwagen, doch die staubigen Schlammstreifen und Kratzer auf den Lehnen und Sitzen weisen darauf hin, dass Lucas es mit der Pflege nicht wirklich so Ernst nimmt. Sie sind außerdem ein Indiz dafür, dass dieser Geruch wohl nicht lange anhalten wird.

»Alter, ich versteh nicht, warum du diese Karre wie Scheiße behandelst!«, beginnt Alexander. Er hat mit mir auf der Rückbank Platz genommen und fährt etwas angeekelt über einen Soßenfleck auf dem mittleren Platz. »Wenn mein Vater mir so einen geilen Scheiß schenken würde, dann dürfte da drinnen keiner seinen Kater-Bürger verdrücken.«

»Ich lass das schon mal putzen«, entgegnet Lucas schulterzuckend und mit einer Hand auf dem Lenkrad.

»Wir mussten den Wagen gestern noch in die Auto-Wäscherei bringen«, berichtet Alexander an mich gewandt. »Der war grau und hatte sogar einen Kotzfleck auf der Kühlerhaube.«

»Das war Vogelscheiße!«, verteidigt sich Lucas lachend und hält vor einer roten Ampel.

Ich nutze den Augenblick, um rasch in die roten Pumps zu schlüpfen und bin überrascht, dass sie mir passen wie angegossen. All die Jahre hatte ich keine Ahnung, dass meine Mutter exakt die gleiche Schuhgröße hat wie ich. Naja, ich hätte es mir ohne diesen Notfall auch nie angetan, mir hohe Schuhe an meine Füße zu fesseln.

Als wir vor einem großen gläsernen Gebäude sind, biegt Lucas ein und parkt den Wagen auf dem bereits überfüllten Parkplatz.

Kaum steht das Auto an Ort und Stelle, platzen die Jungs schon raus. »Schnell, wir haben nur noch zwei Minuten!«, stresst Noah. Als wüssten wir nicht, dass wir uns beeilen müssen.

Schon nach den ersten Laufschritten zum Eingang, bereue die Wahl der Pumps bitter. Der Absatz ist so dünn und wacklig, sodass ich bei jedem Tritt Angst habe, einen Bauchklatscher auf den Asphalt zu machen.

Am Eingang sagt Noah unsere Namen einem schwarz gekleideten Security-Mann mit Headset und er gewährt uns stumm Eintritt. Wir nehmen den Aufzug in den ersten Stock.

Nach dem Ausstieg laufen wir einen leeren Gang entlang, der auf einer Seite komplett verglast ist. Der Boden ist so rutschig, dass ich mich kurz an Lucas' Arm festkrallen muss, um nicht von meinen Stelzen zu fallen. Kurz legt er reflexartig einen Arm um meine Taille, um mich zu stützen und ein Stromschlag fährt durch meinen Körper, an den Stellen, wo er mich berührt. Alles an ihm fühlt sich so stark an.

Endlich bleibt Noah vor einer Tür auf der linken Seite stehen. »Wir sind da«, flüstert er. »Seid so leise wie ihr könnt.«

Als wir den großen Raum betreten, hält ein Mann ganz vorne bereits eine Rede. Bestimmt zwanzig Stuhlreihen reichen beinahe bis zum Eingang.

»Shit!«, flucht Noah, als er bemerkt, dass wir zu spät sind.

In der vorletzten und letzten Reihe sind noch ein paar Plätze frei, auf die wir uns unauffällig setzen. Alexander mit Noah in der vorletzten und Lucas und ich in der letzten.

Ich lasse meinen Blick erst durch den großzügigen Seminarraum wandern, dann durch die Stuhlreihen. Erschrocken bemerke ich, dass Sam und Marlene ein paar Reihen weiter sitzen. Was machen die denn hier? Dann entdecke ich auch ein paar weitere Kumpels von Noah und Lucas und — wie könnte es auch anders sein — Jelena! Gar nicht so exklusiv wie ich dachte, diese Veranstaltung.

Es stört mich, dass die ganzen Leute wieder da sind. So kann ich davon ausgehen, dass sie heute wieder Party machen.

Unweigerlich mache ich mir Gedanken über meine Erscheinung. Ich fühle mich etwas unwohl, weil mein Kleid etwas den Presswurst-Look erzeugt, aber immerhin sitzt es ab der Taille locker und meine Brüste werden hochgedrückt. Aber eigentlich kann es mir ja egal sein, wie ich vor Marlene aussehe und vor Jelena und den anderen sowieso.

Als ich mich in mir drinnen bereits überschwänglich über alles aufgeregt hab, beginnt die Veranstaltung unglaublich langweilig zu werden. Vorne redet noch immer derselbe Typ über die Geschichte der Universität und so eine Scheiße. Schlimmer könnte es nur werden, wenn er Jelenas Sirenen-Stimme hätte.

Plötzlich fühle ich eine Hand auf meinem Knie. »Hey«, kommt es von Lucas, »jetzt verkünden sie die Gruppen, die sich qualifiziert haben.«

Seine kurze Berührung löst ein wohliges Kribbeln aus, das sich überall in mir ausbreitet. Bin etwa wieder ein hormongesteuerter Teenager, oder warum spricht mein Körper letztlich nur so extrem auf Berührungen an?

Nacheinander werden verschiedene junge Leute aufgerufen und nach vorne gebeten. Es wird applaudiert, Hände werden geschüttelt und Fotos gemacht.

Es werden immer mehr, aber die Namen von den Jungs fallen nicht.

»Vielleicht haben sie uns disqualifiziert, weil wir zu spät waren«, murmelt Lucas.

Ich beuge mich zu ihm. »Meinst du?«, flüstere ich. »Aber stehen die Qualifizierten nicht schon von vorn herein fest?«

»Stimmt«, entgegnet Lucas. »Na dann werden wir das locker rocken, du wirst sehen.« Er grinst.

So zuversichtlich wie er bin ich nicht, schließlich gibt es immer viele gute Bewerber. Ganz klar, ich hoffe, dass die Jungs gewinnen, aber groß ändern wird sich der Sommer durch das Ergebnis auch nicht — so oder so werden sie sich danach die Kante geben.

Trotzdem lausche ich gespannt der Bekanntgebung der letzten drei Gewinner-Gruppen.

»Und die nächste Qualifikation geht an eine Forschergruppe mit besonders interessanten Hypothesen und einer vielversprechenden Umsetzung. Sie geht an Lucas...«, sagt der Mann im Anzug und ich ziehe zusammen mit Lucas zur selben Zeit die Luft ein.

»...Lucas Müller, Gerhard Schneider und Lara Eschenbach.«

Enttäuscht sacken wir in uns zusammen. Eigentlich blöd zu glauben, es könnte keinen anderen Lucas geben. Immerhin, diese Lara ist die erste Frau hier vorne.

Und in diesem Moment wird mir klar, dass es viel zu viele Bewerber gibt. Acht von zehn Plätzen wurden bereits vergeben. Dennoch bin ich mir sicher, wenn sie sich heute nicht qualifizieren, dann klappt es bestimmt beim nächsten Mal. Schließlich ist Noah einer der schlausten Menschen, die ich kenne.

»Die nächste Forschergruppe hat mich zwar noch nicht ganz überzeugt«, spricht der Moderator vorne weiter, »aber die Ansätze klingen so vielversprechend, dass wir das Risiko auf uns nehmen werden. Herzlichen Glückwunsch an Noah Hirschner, Lucas Giraldi und Alexander Mohn.«

Ich springe auf. »Oh mein Gott, das seid ihr!«, kreische ich und falle ihm ohne zu überlegen um den Hals.

Als wir uns gleich darauf wieder voneinander lösen, grinst Lucas mir entgegen. »Ich wusste es doch! Mann, das müssen wir jetzt so richtig feiern geh'n.«

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