»𝟹𝟸«
Da unten steht Noah mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Er bedeutet mir mit überschwänglichen Handgesten, nach unten zu kommen.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprinte ich los. Ich laufe völlig euphorisch mit einem Lachen im Gesicht und Tränen in den Augen durch die Flure des Krankenhauses. Kaum bin ich am Ausgang angekommen, stürze ich mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
Die Sonne strahlt hell vom Himmel und in Noahs schönes Gesicht.
Ich falle ihm um den Hals und er hebt mich hoch und wirbelt mich im Kreis herum.
»Ist das wahr?«, kreische ich. »Du bist entlassen?«
Er strahlt mich an. »Sieht so aus.«
Dann legt Noah den Kopf in den Nacken. »Sorry, Dad, ich werd' mich wohl etwas verspäten«, sagt er mit einem warmen Grinsen im Gesicht. Gleich darauf sieht er wieder zu mir. »Dann hab ich mich jetzt offiziell zum allerersten Mal geirrt«, witzelt er selbstgefällig.
»Aber...«, keuche ich, »wie, wie ist das möglich?«
»Ich...« Sein Gesichtsausdruck wird wieder etwas nüchterner. »Ich hab dir bei der Gala nicht ganz die Wahrheit gesagt. Weil nach deiner Moralpredigt vor ein paar Wochen habe ich angefangen, regelmäßig zur Chemo zu gehen und es scheint, dass sie nun tatsächlich anschlägt. Das ist unglaublich selten bei so einem fortgeschrittenen Stadium.«
»Aber das sind doch unglaubliche Neuigkeiten«, rufe ich aus.
»Leia...«, beginnt er und sein ernster Tonfall gefällt mir überhaupt nicht. »Ich habe keine Ahnung, wie das alles ausgehen wird, es ist bloß ein gutes Zeichen.«
Und sofort ist die gute Stimmung verflogen.
Noah bemerkt meinen betrübten Gesichtsausdruck und sieht mir mit einem aufmunternden Lächeln entgegen. »Aber was zählt, ist doch, dass es wirkt. Und nach dem Ergebnis der Analysen kann ich dir schon jetzt versprechen, dass ich noch da sein werde, wenn du wieder zurück bist.«
Eine Welle puren Glücks durchströmt mich. Er hat es also eingesehen, dass ich gehen muss.
Einen Augenblick darauf will ich einwerfen, dass ich ja noch gar nicht weiß, wann ich denn wieder komme, doch dann ich lasse es einfach so stehen. Er wird schon wissen, was er da verspricht.
»Ist gut«, entgegne ich mit einem Lächeln.
Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Ich meine, keine Ahnung, in welcher Beziehung wir jetzt zueinander stehen. Ich weiß bloß, dass da irgendwas ist, zwischen uns.
Und auch, wenn wir beide gemeinsam ein riesengroßes Fragezeichen sind und es ungewiss ist, wie lange er noch bleibt — bei mir — so bin ich jetzt einfach nur froh, dass er noch lebt und noch leben wird. Und auch wenn ich weiß, dass die Wut wieder kommen wird, so ist sie in diesem Augenblick wie weggefegt, denn mir wird bewusst, dass er meinen Ratschlag befolgt hat. Er hat sich für das Risiko entschieden, sein eigenes noch nicht getestetes Medikament einzunehmen und vielleicht auch ein kleines bisschen dafür, an Wunder zu glauben.
• • •
Erst als ich im Morgengrauen die letzten Sachen für meinen heutigen Flug in den großen Rucksack mit den vielen Fächern packe, wird mir bewusst, dass ich in ein paar Stunden das Verrückteste machen werde, was ich je in meinem Leben getan habe.
Dieses Gefühl ist eine Mischung aus furchtbarer Angst, Aufregung und — Hoffnung.
Ich quetsche gerade zwei ganze Hände Schokoriegel in das linke Außenfach, als es an der Tür klopft.
»Ja?«, rufe ich und im nächsten Moment steht Noah im Türrahmen.
Bestimmt will er mir zu meinem Geburtstag gratulieren.
Er steicht sich die ungemachten Haare aus seiner sommersprossenübersäten Stirn. »Du, ich wollte dir nur sagen, dass ich heute bis spät Abends im Labor der Uni sein werde.«
Ich versuche mich an einem Lächeln, aber da ist sie wieder — die Wut. Jetzt hat er auch noch meinen Geburtstag vergessen. Doch ich versuche mich, mit aller Kraft zusammenzureißen. Denn ich weiß ganz genau, es wird mir bei meiner Reise keine Ruhe lassen, wenn ich mich jetzt im Schlechten von Noah verabschieden würde.
So stehe ich auf und gehe zu ihm.
Ich schlinge sofort meine Arme um ihn, damit ich ihn nicht ansehen muss.
Er riecht unglaublich gut. Ich fühle, wie er sein Kinn leicht auf meinem Kopf abstützt und seine starken Arme behutsam um mich legt.
Ich will mich schon von ihm lösen, da hält er mich fest.
»Ich hab mit Jelena Schluss gemacht«, flüstert er dann.
Augenblicklich beginnt mein Herz wie wild gegen meine Brust zu klopfen und ich hoffe, dass er das nicht fühlt.
Einerseits kreische ich in mir gerade vor Glück, aber andererseits habe ich auch Angst, dass er im Gegenzug von mir erwartet, ich würde heute nicht in meinen Flieger steigen.
Ich schaue zu ihm hoch und Noah blickt mir mit einem Blick entgegen, der mir zu sagen scheint, wie schön er mich findet und wie sehr er mich jetzt küssen will.
Aber ich stoße im nächsten Moment ein nervöses Lächeln aus. »Ich werde heute geh'n«, hauche ich.
Jetzt lächelt auch Noah. »Ich weiß«, flüstert er und ich könnte schwören, dass seine Augen in diesem Moment ein Tränenfilm zieren.
Mein Herz macht einen Sprung. Seine Reaktion fühlt sich für mich beinahe wie ein romantisches Liebesgeständnis an.
»Das bedeutet mir sehr viel«, sage ich dann leise in sein Gesicht.
»Ich weiß«, wiederholt er und dann beugt er sich zu mir herunter und beginnt, mich zu küssen.
Seine Zunge begegnet mir zärtlich und einfühlsam und seine großen Hände halten meinen Kopf dabei sorgsam fest.
Ich erwarte mir schon, dass er mir gleich das Shirt über den Kopf zieht, doch er löst sich im nächsten Augenblick und lächelt mir warm entgegen.
Und als hätte er meine Gedanken gelesen, sagt er »Für den Rest haben wir dann noch genug Zeit, wenn du wieder da bist.«
»Das ist wahr«, entgegne ich, obwohl ich etwas enttäuscht bin. Schließlich würde ich mir in diesem Moment mein Höschen am liebsten so heftig runter heißen, sodass ein Loch von hier bis nach Australien entsteht.
So stelle ich mich im nächsten Augenblick auf Zehenspitzen und presse meine Lippen wieder auf seine.
Er lacht kurz auf, als er merkt, wie ich ihn immer fordernder küsse und meine Hände unter sein Shirt und über seinen muskulösen Bauch wandern lasse. »Hey, Leia...«, beginnt er entschuldigend, obwohl ich seine Erektion deutlich fühle.
Aber ich gehe nicht darauf ein, sondern blicke ihm mit einem fixierendem Blick entgegen. »Ich will dich — jetzt«, hauche ich bestimmt.
In Noahs Blick sehe ich, dass ihn die Art, wie ich im das gesagt habe, offenbar unglaublich scharf gemacht hat. Schon im nächsten Moment drückt er seine Lippen wieder eilig auf meine und streift mir mein Top über den Kopf. »Kannst du dir aber«, keucht er hastig zwischen unseren Küssen, während er mich nach hinten, in Richtung meines Bettes, schiebt, »wenigstens notieren, dass ich einmal ein Gentleman sein wollte?«
Ich lasse mich nach hinten auf mein Bett fallen. »Ist schon längst abgespeichert«, grinse ich und ziehe ihn zu mir.
• • •
Es ist bereits später Nachmittag, als ich mir noch einmal meine Zähne putze, um während des Flugs nicht dieses pelzige Gefühl im Mund zu haben.
Ich bin so in Gedanken verloren, dass ich erst merke, dass ich mir Gesichtscreme auf die Zahnbürste geschmiert habe, als ich sie bereits im Mund habe.
Ich verzeihe das Gesicht und spucke das bittere Zeug angeekelt ins Waschbecken.
Dann schüttle ich lächelnd den Kopf.
Dass sich Noah von Jelena getrennt hat, beweist, dass er jetzt wirklich zu mir steht und der Gedanke daran lässt mein Herz augenblicklich höher schlagen.
Aber andererseits habe ich auch ein schlechtes Gefühl im Bauch. Schließlich hat sich heute niemand außer meinen Eltern und Tante Karla an meinen Geburtstag erinnert.
Sogar Marlene, die noch nie meinen Geburtstag vergessen hat, scheint es heute zum ersten Mal zu tun. Klar, wir haben uns schon gestern voneinander verabschiedet, aber sie hätte wenigstens anrufen oder mir eine Mitteilung senden können.
Auf der anderen Seite muss man dazu aber auch sagen, dass mir mein Geburtstag nie viel bedeutet hat. Vielleicht glauben sie, dass ich heute ohnehin nur an den Flug denken möchte und nicht auch noch mit meinem Geburtstag genervt werden will.
Umso komischer ist es, dass sich dieser Tag zum ersten Mal irgendwie so wie ein richtiger Geburtstag anfühlt.
Ich gehe kurz ans Fenster meines Zimmers und blicke auf den sonnigen Garten runter und in die Ferne, wo sich die Großstadt andeutet.
Kurz bin ich einfach im Moment und lasse meine Gedanken weiter kreisen.
Es wäre viel einfacher gewesen, hierzubleiben, aber ich habs irgendwie im Gefühl, es ist richtig zu gehen.
Den Mut und die Stärke, die ich plötzlich in mir verspüre, ist irgendwie was Magisches, eine Prise Erwachsenwerden, ein Stück Freiheit.
Menschen haben mich auf meinem Weg sehr oft enttäuscht. Aus diesem Gefühl heraus, beschloss ich damals, niemandem mehr zu vertrauen und niemanden mehr ausstehen zu können — außer Marlene natürlich. Alle anderen in meinem Alter quasi zu hassen, das hat mir viele Verletzungen erspart.
Rückblickend betrachtet, weiß ich aber nicht, ob das so klug von mir war. Ich meine, diesen Sommer hab ich mich — völlig unbewusst — doch einigen Menschen gegenüber geöffnet. Alexander zum Beispiel. Mit meiner alten Einstellung hätte ich es verpasst, ihn kennenzulernen.
Diesen Sommer habe ich mich einfach einmal treiben lassen und dabei so viele unvergessliche Momente erlebt, die mich auch ein Stück haben zu der Leia werden lassen, die ich jetzt gerade — in diesem Augenblick — bin.
Und, als wäre es ein Geburtstagsgeschenk von ihm, erinnere ich mich plötzlich an diese eine Lektion, die mir Noahs Vater in seinen Handlungen stets vermittelt hat: Es ist nicht der Hass oder die Verachtung gegenüber anderen Menschen, die uns unerschütterlich macht, sondern die Liebe zu uns selbst.
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Ich bin so aufgeregt, schon das nächste Kapitel wird das letzte von Filmdosensommer sein und ich freue mich schon jetzt unglaublich darauf, es nächste Woche hochzuladen 😍
Schreibt mir an dieser Stelle gerne, ob dieses Kapitel eure Einstellung zu Noah verändert hat 🤗
Ansonsten wünsche ich euch noch einen guten Start ins Wochenende und so ganz nebenbei auch einen guten Start in den Sommer (Leute, summer is coming ☀️😎)
Eure Anna Vanilla ♡
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