»𝟸𝟷«

In der Nacht schlafe ich schlecht. Ständig schrecke ich hoch und ringe schweißgebadet nach Luft. Als am Morgen mein Wecker klingelt, fühle ich mich wie ein ausgewringter Waschlappen. Ich stelle mich im Bad unter die kalte Dusche, um meinem Körper zu signalisieren, dass er jetzt gefälligst seinen Arsch hoch kriegen sollte.

»Na, bist du fit für heute«, ertönt plötzlich Marlenes laute Stimme über das Rauschen der Dusche hinweg und ich hätte vor Schreck beinahe die Brause fallen lassen.

»Bist du verrückt!«, schreie ich und komme hinter der Mauer hervor, die den Duschbereich abtrennt.

»Naja, du hattest nicht abgeschlossen...«, meint sie zähneknirschend.

»Vielleicht, weil auch nur ich dieses Bad benutze, Mädel!«, zische ich.

»Okay, okay, wollte ja nur schauen, ob du deinen Wecker schon nicht überhört hast.« Sie hebt unschuldig die Schultern. Dann zaubert sie ein großes Kartonschild hinter ihrem Rücken hervor. GO LEIA! Steht in großen Blockbuchstaben darauf. »Wir haben alle eins gebastelt«, bringt sie mit einem stolzen Lächeln hervor.

Na toll, das treibt den emotionalen Druck jetzt noch höher. Ich hätte mir während der Schulzeit wohl weniger motivierte Freunde suchen sollen — als ich noch die Möglichkeit dazu hatte.

»Ein bisschen mehr Begeisterung hätte ich mir aber schon erwartet«, kommt es jetzt irritiert von Marlene.

»Du hast ja Recht«, murmle ich, »keine Ahnung, ich bin heute einfach zu nervös.«

Marlene nickt verständnisvoll. Am liebsten hätte ich ihr in diesem Augenblick alles erzählt. Einfach alles. Noahs Liebesgeständnis, seine Widerrufung gestern und die eine Sache mit dem Krebs. Aber die Stunde vor meinem wichtigen Wettkampf ist wohl kaum der Richtige Augenblick, um sich die Seele an der Schulter der besten Freundin aus dem Leib zu heulen.

Also steige ich entschlossen aus der Dusche, trockne mich ab und schlüpfe in meinen Schwimmanzug. Du packst das, sage ich in Gedanken noch einmal zu meinem Spiegelbild, du musst nur unter den ersten Drei sein. Dann ziehe ich mir einen Trainigsanzug über und gehe mit Marlene nach unten.

•  •  •

Ich vernehme das Gebrüll der Leute, die vielen Stimmen, die verzerrt durch die Halle gehen und sich mit dem Plätschern des Wassers mischen. Das Wasser ist angenehm kühl auf meiner Haut, doch ich fühle den Widerstand. Trotzdem schwimme ich, schwimme immer weiter. Ich habe keine Ahnung, wie weit meine Gegner sind, ich konzentriere mich bloß auf mich.

Und dann ist es auch schon vorbei. Ich tauche auf. Das tobende Jubeln durchdringt nun beide meine Ohren in voller Lautstärke. Mein Blick schnellt zu der Tafel. Fieberhaft suche ich meinen Namen. Ich bin nicht Erste, nicht Zweite, nicht Dritte.

»Es ist okay«, flüstere ich tonlos zu mir selbst, als ich meinen Namen finde. »Vierte ist auch okay.«

Marlene und die anderen kommen auf mich zu und ich ziehe mich aus dem Becken. Schon von weitem versuche ich meine Enttäuschung mit einem Lächeln zu überspielen. »Leute, es ist okay«, versichere ich ihnen, als Marlene mich in eine Umarmung ziehen will. »Ich hätte bei den Meisterschaften, unser Berlin eh nur in den Dreck gezogen«, versuche ich zu scherzen, aber ich bin nicht witzig.

»Weißt du«, sagt Alexander dann mit einem Grinsen im Gesicht, »ich glaube, dass du den anderen gegenüber physisch benachteiligt bist.«

»Halt die Klappe, Alex!«, zischt Marlene warnend und sie will schon schützend den Arm um mich legen.

»Ich mein's ernst«, entgegnet er dann aber und hebt verteidigend die Hände, »sie hat doch viel zu heiße Kurven. Ihr wisst schon, macht viel zu viel Widerstand im Wasser und so.« Er zwinkert mir zu.

Und in diesem Augenblick kann ich nicht anders, als zu Schmunzeln. Es ist so, als hätte er damit ein Stück Normalität wieder zum Leben erweckt. Und Normalität, wird manchmal echt unterschätzt.

•  •  •

Ruhig lege ich meine trockenen Sachen auf die Bank vor den Duschen.

Weil ich noch ein viel zu ausgedehntes Gespräch mit meiner Trainerin hatte, in dem sie mich dazu ermutigen wollte, diese Niederlage nicht als solche zu sehen, bin ich die Letzte in den Duschen.

Ich will mir schon den Bikini vom Körper streifen, als Plötzlich Noah in der Tür steht.

»Du, ich soll dir sagen, dass die anderen schon vorgehen. Ich nehm dich dann mit dem Auto mit.« Er scheint gar nicht zu merken, was ich gerade vorhatte. Seelenruhig setzt er sich auf die Bank neben meine Sachen.

Nur zu, bleib ruhig im Raum während ich dusche!, sage ich im Geiste zu ihm. »Ist gut, ich muss nur noch schnell duschen«, erwidere ich stattdessen. Ich stelle mich mit meinem Schwimmanzug in eine der Kabinen. Eigentlich ziehe ich mich sonst immer ganz aus, aber dass Noah gleich ums Eck, neben meinem Handtuch sitzt, lässt mich dann doch etwas unbehaglich fühlen.

Ich lasse das heiße Wasser über meinen Körper laufen und genieße das gleichmäßige Rauschen der Dusche.

»Hey, kann ich dich mal was fragen?«, vernehme ich die Stimme von Noah plötzlich. Ich hab für einen Augenblick vergessen, dass er so nah bei mir ist.

»Meinetwegen...«, entgegne ich und fürchte schon, dass er mich irgendwas über meine beschissene Leistung heute fragt.

»Fandest du unseren Kuss neulich eigentlich komisch?«, kommt es stattdessen von ihm.

In mir erstarre ich bei diesen Worten. Ich drehe die Dusche etwas ab, damit ich ihn besser verstehen kann. »Was hast du gesagt?«, hake ich nach — für den Fall, dass ich mich verhört habe. Das ist schließlich mehr als untypisch für ihn, mir so eine Frage zu stellen, wenn wir alleine sind.

»Ob du unseren Kuss beim Flaschendrehen komisch fandest.« Jetzt ist er aufgestanden und lehnt sich gegen die Trennmauer von der Dusche. Um ein Haar wird er nicht vom Duschstrahl getroffen. Noah hat die Hände lässig verschränkt und sieht mich an.

Sein Ernst? Hat dieser Kerl etwa noch nie was von Privatsphäre gehört? Ich will schon kontrollieren, ob meine Nippel zu sehen sind, doch mein Blick bleibt an ihm hängen.

Er trägt ein beiges Tanktop, das seine Oberarmmuskeln unglaublich gut zur Geltung bringt. Ich zwinge mich, wegzusehen und lenke mich ab, indem ich mich mit dem shampoonieren meiner Haare beschäftige. »Warum fragst du?«, entgegne ich schließlich betont beiläufig.

Noah lacht auf. »War ja klar, dass du darauf mit einer Gegenfrage antwortest. Egal, vergiss, was ich gesagt hab«, winkt er ab.

»Um ehrlich zu sein, ich fand es schon etwas komisch«, sage ich dann doch und halte einen Moment inne. Keine Ahnung, warum.

»Ja, das hab ich mir schon gedacht, immerhin sind wir zusammen aufgewachsen und so... ein Kuss mit jemanden, den man so gut kennt, kann sich ja gar nicht gut anfühlen.«

Irgendwie ist es merkwürdig, ich meine, die Richtung, in die unser Gespräch geht. Besonders, weil er mir vor einer Woche quasi seine Liebe gestanden hat und es wieder zurück genommen hat. Und dann noch diese andere Sache, von der ich noch immer nicht weiß, wie ich damit umgehen soll.

Erst jetzt fällt mir auf, das ich auf seine Worte noch nichts erwidert habe.

»Na egal, offensichtlich hast du nichts mehr dazu zu sagen. Also reden wir über was Anderes.« Er sieht mich mit seinen hellblauen Augen an und sein Gesichtsausdruck ist wieder heiter. »Du warst heute echt gut.«

Innerlich könnte ich mich dafür verfluchen, dass ich das andere Thema nicht noch bis zum Ende der Dusche durchziehen konnte. Alles ist besser, als über meine beschissene Leistung von vorhin zu reden.

»Ich war scheiße!«, entgegne ich und spritze ihm etwas Wasser ins Gesicht.

»Hey!«, regt er sich auf und hält schützend die Hand vor sein Gesicht. »Ich wollte doch nur nett sein.«

»Mit einer so offensichtlichen Lüge?!«, lache ich.

»Nein, ich persönlich fand dich echt gut«, grinst er und ich spritze ihn ein weiteres Mal an.

Vielleicht liegt es ja an der Art, wie mich Noah jetzt ansieht, aber ich fühle mich plötzlich so ungehemmt — ganz ohne einen Tropfen Alkohol. Allein sein Blick macht mich völlig betrunken.

»Siehst du, du machst es schon wieder, alles nur Lügen!«, lache ich und befördere immer mehr Wasser in seine Richtung.

Noah weicht zurück. »Ich mein das doch ernst!«, versucht er mir zu beteuern, doch das schelmische Grinsen in seinem Gesicht lässt mich erneut zweifeln.

»Nein, das tust du eben nicht!«, beharre ich. »Du sagst doch selbst immer ‚Knapp daneben ist auch vorbei'.«

»Gut«, sagt Noah dann, »du warst scheiße und grottenschlecht. Zufrieden?« Er grinst provozierend und fügt als Krönung noch hinzu: »Marlene war besser als du.«

»Hey!«, kreische ich auf. »Sie ist doch gar nicht angetreten, du Trottel.« Mit gespielter Aufregung komme ich, nass wie ich bin, auf ihn zu.

»Oh nein«, schüttelt Noah den Kopf und macht einen Schritt zurück, »das lässt du schön bleiben. Ich will danach noch in die Bar damit.«

Aber ich denke nicht im Traum daran, ihn jetzt in Ruhe zu lassen und laufe ihm hinterher. Es ist so dämlich, wie wir so wie kleine Kinder durch den riesigen Duschraum laufen und grundlos lachen, aber irgendwie fühlt es sich so an, als wäre alles gut und genau das können wir in dieser Situation vielleicht am meisten gebrauchen.

Nach einer Weile kann ich Noah nicht mehr sehen. Er muss in einer dieser Duschen verschwunden sein. Die haben zwar alle keinen Vorhang, aber vom Gang dazwischen kann man trotzdem nur in die Nischen direkt daneben sehen.

»Noah!«, rufe ich und meine Stimme hallt durch den leeren Gang. Nur das Geräusch meiner leise rieselnden Dusche ganz am Ende des Gangs ist noch zu hören.

Erst jetzt fällt mir auf, wie gruselig das hier eigentlich ist. Es wird mir bewusst, dass ich bis jetzt noch nie allein da gewesen bin.

»Noah!«, rufe ich erneut und ich fühle, wie mein Herz beginnt, schneller zu schlagen. »Noah, das ist echt nicht witzig!«

Das Geräusch meiner Badelatschen hallt von den Wänden wieder und ich drehe mich immer wieder ruckartig um, weil es sich so anhört, als würde mir jemand folgen.

So langsam fühlt sich das alles wie der Beginn eines low-budget Horrorfilms an.

»Noah, jetzt komm schon!«, rufe ich dann noch einmal, doch meine Stimme zittert.

Ich gehe langsam weiter und schaue immer nach rechts und dann nach links.

Plötzlich vernehme ich eine schnelle Bewegung aus meinem Augenwinkel, etwas packt mich und zieht mich in eine Duschnische. Ich schreie auf.

Im nächsten Moment sehe ich in Noahs lachendes Gesicht. Sein Körper bebt — so sehr muss er seinen Lachkrampf im Griff halten.

Dieses miese Arschloch!

»Mann, du hast mich zu Tode erschreckt!«, rege ich mich auf. Er hat es zu weit getrieben. Ich hatte wirklich Angst.

Noah kann sich noch immer nicht einkriegen, vor Lachen. »Du hättest dein Gesicht sehen sollen.«

Und in diesem Moment kommt mir eine teuflische Idee. Ich kenne diese Duschen gut und ich weiß, dass sich genau hinter meinem Rücken der Wasserhahn befindet und dass Noah genau da steht, wo es ihn am schlimmsten treffen würde...

Kurz sehe ich ihn noch an. Wie perfekt seine Haare doch sitzen. Und erst sein Shirt... Es liegt so gut an, dass ich fast schwören könnte, er hätte es gebügelt.

»Achtung Noah!«, rufe ich dann plötzlich.

Er will schon reagieren, was erwidern, doch da habe ich den Wasserhahn bereits aufgedreht und das Wasser bricht in einem Schwall über Noah herein.

Kurz ist er wie erstarrt, doch dann greift er schell um mich herum zum Hahn und dreht ihn ab. »Bist du verrückt geworden?!«, zischt er wütend und die nassen Haare kleben ihm im Gesicht. Sein rechter Arm stützt sich aber noch immer an der Wand hinter mir ab, sodass er mir so nahe ist, dass das Wasser aus seinen Haaren beinahe in mein Gesicht tropft.

Ich fühle Noahs warmen Atem ober meiner Lippe.

»Vielen Dank auch, die Bar kann ich jetzt vergessen.« Er deutet zu seinen durchweichten Sneakers. Dann blickt er wieder zu mir. Erneut fällt mir auf, wie groß er eigentlich ist, wenn er unmittelbar bei mir steht. Seine wütenden hellblauen Augen sehen tief in die meinen.

Dann, ganz plötzlich — ich weiß gar nicht so recht, warum — ziehe ich seinen Kopf zu mir runter und presse meine Lippen auf seine.

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