»𝟻«
»Verdammt, ich kann sie nirgends sehen!«, schreie ich über die laute Musik im Wohnzimmer hinweg und versuche mich durch das Strecken meiner Zehen etwas größer zu machen. Lucas sieht sich ebenfalls um, doch mit seiner Körpergröße ist er mir auch nicht die größte Hilfe.
Bunte Lichter flackern in der schwülen Luft und durch die tanzende Masse. Hier braucht es nicht einmal das Universum, um mich klein zu fühlen.
Frustriert krame ich mein Handy aus der Hosentasche und klicke zum zehnten Mal auf Marlenes Kontakt in meinen Favoriten. Aber sie hebt auch diesmal bis zum letzten Klingeln nicht ab. Es ist schon etwas beunruhigend, Marlene geht sonst immer gleich dran.
Im nächsten Moment tippe ich Lucas an. »Meinst du, wir sollten uns aufteilen?«, rufe ich.
»Good idea«, nickt er und gibt mir beide Daumen. »Wenn wir sie haben rufen wir uns an.«
Eigentlich wäre ich am liebsten noch länger bei ihm gewesen, aber so langsam mach ich mir echt Sorgen um meine bessere Hälfte.
Ich quetsche mich durch die schwitzenden Körper im Wohnzimmer und es kommt mir so vor, als wären hier jetzt noch mehr Leute als davor.
Plötzlich rempelt mich etwas Hartes von der Seite unsanft an. Erschrocken fahre ich herum und blicke in Jelenas herablassendes Grinsen. »Ups!«, macht sie mit ihren zur Schnute geformten Lippen und zieht mit ihrem Gefolge weiter.
Als ich ihr gehässig hinterherblicke, fällt mein Blick auf ihre fiesen Zahnstocher-Ärmchen, deren spitzige Ellenbogen sich als perfekte Waffe herausstellen. Aber ich brauche mir nichts vorzumachen, meine Winkearme würde ich sofort gegen ihre eintauschen. Ein Grund mehr, mir zu wünschen, dass sie mal so richtig hart auf die Schnauze fällt. Ich würde ihr ja nur zu gern einen Denkzettel verpassen, nur bin ich eben nicht so von der schlagfertigsten Sorte. Sie würde mich eh wieder fertig machen.
Im nächsten Moment fege ich meine negativen Gedanken weg, sehe auf und blicke direkt in Noahs Gesicht. Obwohl der Abend schon etwas fortgeschritten ist, sitzen seine Haare noch immer wie aus der Zeitschrift.
Als er mich erkennt, hellen sich seine Augen auf. »Mann, Leia, ich hab dich schon die ganze Zeit gesucht!«
»Du hast Marlene gefunden?«, schreie ich erfreut.
Irritiert sieht er mir entgegen. »Nein, was soll ich denn mit Marlene?«, kommt es etwas arrogant von ihm.
Wut macht sich augenblicklich in mir breit. Ein einfaches Nein hätte genügt.
»Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du Jelena gesehen hast?«, brüllt er über die Musik hinweg. Offenbar fällt ihm meine Empörung gar nicht weiter auf.
Eigentlich sollte ich ihn in die entgegengesetzte Richtung weisen, doch ich bringe aus irgend einem Grund einfach nicht über mich. »Ja, sie ist dort hin«, zeige ich ihm wahrheitsgemäß.
Er nickt dankend. Dann beugt er sich noch etwas näher zu mir her, sodass ich sein Armani-Parfüm riechen kann. »Und tu mir einen Gefallen«, sagt er dann, »hol Marlene und geht schlafen, es ist langsam spät.«
Ehe ich realisieren kann, was er da gerade zu mir gesagt hat, ist er auch schon in der Menge verschwunden und ich blicke ihm völlig Fassungslos hinterher. Hätte nur noch gefehlt, dass er mir noch einmal durch die Haare wuschelt. Ja, ich hätte ihn definitiv in die falsche Richtung locken sollen, diesen Arsch.
Im nächsten Moment entdecke ich Marlene. Das heißt, eigentlich sichte ich ein Etwas, das auf der Tanzfläche schon fast mit diesem Sam zu einer Masse verschmolzen ist. Sie bewegen sich wie zwei hormongesteuerte Teenager zu der spanischen Musik.
Und in diesem Augenblick kann ich es nicht abstreiten, dass ich etwas neidisch bin. Sam schien mir echt ein netter Kerl zu sein und dazu sieht er echt nicht schlecht aus. Klar, er ist nicht besonders muskulös, aber er ist groß und hat ein echt hübsches Gesicht und trägt ein Basecap. Das fand ich schon immer ziemlich schön.
Aber es war ja mal wieder klar, dass ich für so einen Typen erst gar nicht existiere. Alle Kerle, die je an mir interessiert waren, an denen war irgendwas faul — außer Tim vielleicht. Er ist davor zwei Jahre lang mein bester Freund gewesen. Ich weiß noch damals, da haben wir uns um Mitternacht zum Schneemannbauen verabredet und dann eigentlich doch nur im Auto geknutscht. Aber es hat nicht lange gehalten, weil ich noch nicht bereit war. Seit dem ist mein Körper anscheinend mit einem Bekloppten-Magnet verflucht worden.
Niedergeschlagen schlendere ich zu dem Tisch mit den Getränken neben mir und kippe mir etwas von der Bowle in einen Becher. Das sind doch ohnehin nur Früchte, rechtfertige ich meine Entscheidung und mache bis zum Rand hin voll.
Ich kämpfe mich in Richtung der Fensterfront, die schon geschlossen ist, weil es nach Mitternacht doch etwas kühler wird. Aber das ist mir jetzt reichlich egal. Ich mache die Tür einen Spalt auf und schiebe mich durch. Tatsächlich kommt mir ein kalter Wind entgegen, aber ich trage die hochgeschlossene Bluse von Marlene. Seufzend stelle ich in diesem Moment fest, dass ich einen Fleck mit der Bowle darauf gemacht hab. Sie wird mich lebendig grillen.
Ohne zu wissen, was ich wirklich vor habe, setze ich mich an den Rand des Pools und lasse meine Füße ins Wasser baumeln. Fasziniert sehe ich den kleinen Wellen zu, die sich sogleich auf der gesamten Wasseroberfläche breit machen.
Wäre mein Leben ein Netflix-Film, würde genau in diesem Moment, der richtige Kerl zu mir kommen und mich fragen, was ich denn hier so alleine mache. Und dann würde ich von ihm seine Jacke bekommen. Spoiler alert, ich bin das Opfer, das in solchen Situationen immer nur eine Erkältung bekommt.
Frustriert leere ich meinen Becher und werfe ihn in den Pool zu den anderen. Soll die doch Noah morgen alle aus dem Wasser fischen. Außerdem beschließe ich für den nächsten Tag eine Reinigung einzustellen, sonst wird das echt eklig, wenn Marlene und ich am Nachmittag hier für unseren Wettkampf trainieren. Wenn wir es übermorgen unter die ersten drei schaffen, dann kommen wir weiter und wenn wir dann in der zweiten Runde gegen die besten Schwimmer ganz Berlins antreten, dann haben wir sogar die Möglichkeit, uns für die deutschen Meisterschaften zu qualifizieren.
Schon seit der Oberstufe sind wir Mitglied in einem Schwimmteam. Am Anfang hätte ich nie gedacht, dass mir das so sehr zusagen würde. Aber wenn man unter Wasser ist, dann zählt für einen Moment der Rest der Welt nicht mehr und man kann sich nur auf sich und sein Ziel konzentrieren.
Unweigerlich muss ich daran denken, dass ich zurzeit einfach nur so vor mich hin lebe. Klar, ich habe mich darauf gefreut, einen ganzen Sommer lang einfach mal nichts zu machen. Aber was kommt danach? Vielleicht bin ich nicht der typ Mensch, der sich einfach so treiben lässt.
Und das Schlimmste ist, dass ich manchmal gar nicht erst weiß, wer ich überhaupt bin. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich nicht weiß, woher ich komme. Meine Eltern haben es mir nie gesagt. Sie wollen nicht, dass ich eines Tages nach ihnen suche. Aber sie hätten mir wenigstens den Kontinent verraten können. Denn, wenn ich mir so Fotos im Internet ansehe, dann könnte ich einfach alles sein. Inderin, Afrikanerin oder vielleicht auch Brasilianerin?
Keine Ahnung, wie lange ich hier am Pool gesessen habe und meine Gedanken wirr hin und her gehüpft sind, aber irgendwann vernehme ich die aufgekratzte Stimme Stimme von Marlene.
»Willst du mich etwa verarschen?!«, schreit sie von der Terrassentür zu mir her und stampft dann auf mich zu. »Ich hab im ganzen Haus nach dir gesucht!«
»Sorry«, murmle ich benommen und versuche mich an einem Lächeln.
Als Marlene in mein Gesicht sieht, kniet sich sofort besorgt neben mich hin. »Alles okay?«
Ich muss echt schrecklich aussehen, dass sie sich so sorgt. Stumm nicke ich.
»Du hast zu viel getrunken.« Sie hilft mir auf. »Komm, ich bring dich in dein Zimmer.«
»Weiß du, ich hab dich auch gesucht«, lalle ich und versuche mich auf den Beinen zu halten. Diese Bowle muss es echt in sich gehabt haben, denn jetzt dreht sich alles, ohne dass ich mich selbst auch nur um einen Grad wende.
Irgendwie schafft es Marlene, mich die Treppen hoch in mein Zimmer zu befördern. Dort schmeißt sie mich auf mein Bett und das Karussell in meinem Kopf dreht sich mit vollem Tempo weiter.
In meinen Ohren rauscht es. Aber es ist ein wohliges Rauschen und ich schließe meine Augen, um mich ganz fallen zu lassen. Marlene streichelt mir beruhigend über die Haare. Für einige Momente oder Minuten verharre ich so, doch dann wird diese Idylle plötzlich von einem mir all zu bekannten Geräusch gestört, das aus Noahs Zimmer nebenan kommt.
»Ist das Jenny, äh Jelena?«, zischt Marlene und ich schrecke im gleichen Moment hoch.
Es muss Jelena sein, keine andere Frau würde beim Vögeln so nervtötend stöhnen und kreischen.
Und dann, ganz plötzlich kommt es einfach über mich.
»Leia, was ist los?«, schnappt Marlene erschrocken, als sie in mein Gesicht blickt, doch ich antworte ihr nicht, sondern renne schnurstracks ins Bad und komme gerade rechtzeitig zum Klo, als es aus mir herausbricht.
Marlene eilt mir nach, um mir die Haare zu halten, aber es ist bereits zu spät.
Das ist also der Anfang dieses ach so unvergesslichen Sommers? Ich kauere mit meinem Mageninhalt in den Haaren über der Toilettenschüssel, während nebenan die penetranteste Stimme überhaupt im Takt meiner Kotzausbrüche stöhnt.
Aber bleiben wir positiv, wenigstens sorgt sie dafür, dass alles — aber auch wirklch alles — raus kommt.
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Das war Kapitel fünf. Sagt mir gern, wie es euch gefallen hat, für konstruktive Kritik bin ich immer offen. Ich hoffe, ihr hattet einen entspannten Start in eure Quarantäne-Woche. Bleibt gesund!
Eure Anna Vanilla ♥️
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