57.1. Figure It Out: Effie
Song Inspiration: Wings – Birdy, Figure It Out – Royal Blood
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Figure It Out: Effie
Drei Jahre später.
Sommer in Distrikt 12 ist warm. Sehr warm. Wie ein niemals endender schwall an Hitze, der in jeden Zentimeter deines Körpers eindringt und keine Ruhe gibt, bis tiefe Nacht sie ablöst. Eine trockene Hitze, die nur dank der Nähe zu den Bergen und ihren abkühlenden Brisen erträglich ist. Der Sommer hier gefällt mir besser als die schwüle Wärme in Distrikt 4, die auch nach einer Abkühlung im Meer an einem klebt – besser als der feuchte Schweiß in deinem Nacken, der sich irgendwann in staubiges Salz verwandelt. Außerdem greift das Salzwasser die Spitzen meiner Haare an. Das tut der See im Wald hinter Distrikt 12 nicht.
Der See, der zu Sommerzeiten von grünen Farnen und bunten Wildblumen umgeben ist, ist einer der ersten Orte, die ich Johanna und Annie zeige, als sie nach Distrikt 12 kommen. Es ist ihr erster Besuch, der einem kurzen Aufenthalt von Haymitch und mir in 4 vorausgeht. Eine völlig andere Welt als 12 oder das Kapitol. Wunderschön mit seinen türkisenen Gewässern und tiefgrünen Palmen. Die vielen Grüntöne dort erinnern an Finnicks seegrüne Augen und auch die Sonne scheint mit Finnick um die Wette zu strahlen. Selbst der Sand sieht aus wie die Farbe seiner Haare. Als wäre das hier tatsächlich der bestimmte Ort auf dieser Welt für ihn gewesen.
Mags und Finnick liegen nun gemeinsam und für immer hier. Direkt unter freiem Himmel, direkt an der See. Unter den Sternen und neben den Wellen des Meeres.
Trotz all der Schönheit von Distrikt 4 bin ich froh, wieder in 12 zu sein. Vielleicht liegt es an Haymitch und den Kindern oder an all den Jahren, in denen ich bereits für diesen Distrikt gedient habe, aber ich möchte nirgendwo anders sein. Natürlich ist es hier nicht perfekt. Weitab von perfekt. Obwohl der Großteil des Distrikts neu errichtet wurde, sind wir noch nicht auf dem technischen Stand vieler anderer Distrikte. Die Kohleproduktion läuft schleppend, da die Mienen über die Jahrzehnte der fahrlässigen Nutzung und durch die Bomben des Kapitols immer noch kaum zu gebrauchen sind. Die meisten Menschen misstrauen mir, auch wenn sich dieses mit den Jahren nach und nach zu legen scheint. Aber wir sind noch lange nicht an dem Punkt, wo ich behaupten würde, dass man mich akzeptiert. Das ist in Ordnung. Ich bin froh, dass sie mir überhaupt eine Chance geben.
Die spiegelnde Oberfläche des Sees glitzert, als sich der kleine Fin mit wackelnden Füßen auf Johanna zubewegt und dabei fast das Gleichgewicht verliert, als er mit dem Wasser in Berührung kommt. Annie und ich sitzen im Schatten einer Baumkrone und beobachten amüsiert, wie Johanna – die einige Meter von dem Kleinkind entfernt im Wasser kniet – ermutigend mit den Händen winkt. Fin lacht und läuft dann selbstbewusster auf Johanna zu. Er sieht genauso aus wie sein Vater. Manchmal erkenne ich in ihren Gesichtern, wie schmerzlich diese Ähnlichkeit ist. Johanna ist gut darin, es zu überspielen.
Es hat eine lange Zeit gedauert, bis Johanna so weit war, überhaupt einen Fuß in jegliche Form von Wasser zu setzen. In einem Distrikt wie 4 undenkbar, würde man meinen. Und doch hat sie fast zwei Jahre gebraucht, bis sie ihre Angst überwinden konnte. Sie sagt, dass sie den See mehr mag als das Meer, weil es ein klares Ende besitzt. Seitdem sie mit Annie an die Küste gezogen ist, reden wir nicht mehr viel über die Zeit im Gefängnis. Wir beide haben auf unsere eigenen Arten zu heilen begonnen und befinden uns in unterschiedlichen Stadien. Wobei ihre Traumata ohnehin tiefer gehen. Jetzt, wo die Hungerspiele und die Rebellion langsam aber sicher in den Hintergrund rücken, kriegen wir einander öfter zu Gesicht. Nach dem Chaos und dem Tod brauchte jeder erst einmal Ruhe, um zu verarbeiten, was sich während und nach den 75. Hungerspielen ereignet hat. Und um endlich mit den Schrecken von all den Jahren davor abzuschließen. Irgendwie.
Jeder geht anders mit den Geistern um. Annie und Johanna haben Fin. Katniss jagt. Peeta backt. Haymitch trinkt. Und züchtet Gänse. Ich habe angefangen zu schneidern. Zumindest ab und zu, wenn mir eine Idee durch den Kopf schießt. Ich vollende die wenigsten von ihnen. Stattdessen stricke und nähe ich Kleidung für Haymitch und die Kinder oder flicke in die Jahre gekommenes. Was auch immer einen davon abhält, verrückt zu werden.
Wir haben uns alle verändert. Ich glaube, dass wir noch mittendrin in dem Veränderungsprozess stecken.
Johanna flucht immer noch wie verrückt, aber die Hitze in ihren Worten ist verschwunden – ebenso wie der Hass. Sie scheint ausgeglichener zu sein, als hätte sie endlich eine Art Mittelpunkt gefunden. Sie hat dem Morphin ein für alle Mal den Rücken gekehrt und kümmert sich stattdessen um Fin. Ihre Axt ist dabei immer noch ihr treuster Begleiter, obwohl sie kilometerweit von ihrer eigentlichen Heimat entfernt ist. Distrikt 4 scheint ihr gut zu tun.
Haymitch hat dem Alkohol zwar nicht völlig entsagt, aber nach Jahrzehnten der Sucht ist das auch kaum möglich. Es folgt eher einer schleichenden Entwöhnung, die auf recht gutem Weg ist. All meinen Ängsten zum Trotze hat er sich in den letzten drei Jahren zum Guten verändert. Sein heißes Temperament ist abgeklungen. Die ewige Gleichgültigkeit ist einer Fürsorge gewichen, die er am Anfang vehement zu unterdrücken versucht hat; weil er dachte, dass all das hier wieder in sich zusammenfallen würde. Zu lange kannte Haymitch nichts als die Einsamkeit. Er ist weiter misstrauisch und überbeschützend gegenüber Fremdem, aber das bin ich auch. Wahrscheinlich wir alle. All meinen Befürchtungen zum Trotze kümmert sich Haymitch nur noch mehr um seine Liebsten und auch um Distrikt 12. Seine Geister sind immer noch da, aber sie terrorisieren ihn seltener. Jetzt wo er sieht, wie die Welt sein kann. Gerade weil er sieht, wie die Welt mit einer lebenden Familie hätte sein können, ist aus seiner Wut mit der Zeit Melancholie geworden.
Am Abend bevor Johanna und Annie gemeinsam mit Fin zurück nach Distrikt 4 reisen, finden wir uns alle ein letztes Mal bei Katniss und Peeta zum Essen zusammen. Irgendwann im Laufe der Jahre ist aus Peetas Haus immer mehr auch ihr Haus geworden, bis Katniss ihr eigenes anderen Rückkehrern nach 12 überlassen hat.
Sie tun sich gut. Sie blühen in der Gegenwart des anderen regelrecht auf. Ich kann es nicht anders beschreiben, aber so ist es. Katniss ist weiter Katniss, aber genau wie Haymitch lernt sie endlich durchzuatmen, als sie mit der Zeit begreift, dass das hier tatsächlich von Dauer ist. Ihre grauen Augen, die für so lange von einem Schleier der Abwesenheit getränkt waren, finden wieder Kraft zu strahlen. Katniss findet wieder Kraft zu lachen. Noch nicht oft, aber es einmal gehört zu haben genügt, um zu wissen, dass Haymitch und ich in unserer Aufgabe nicht versagt haben. Mentor und Eskorte. Wir haben unsere Kinder am Leben erhalten. Es gibt keinen besseren Triumph.
Peeta erinnert mich mehr und mehr an sein altes Selbst. Während Haymitch und Katniss lange gebraucht haben, um sich an die düstere Präsenz von Distrikt 12 zu gewöhnen, ist er hier regelrecht aufgelebt. Seine Kunst stützt ihn; hilft ihm, sich auszudrücken. Und ist dabei ein einzigartiger Blick in die Vergangenheit aus seiner Perspektive. Je mehr Zeit vergeht desto heller und ausgeglichener werden seine Bilder. Aber so wie wir alle hat auch er seine dunklen Tage, an denen die letzten Reste der Gehirnwäsche an seinem Verstand kratzen. So wie wir alle hat auch er Menschen zu beklagen.
Jetzt, wo wir zum ersten Mal seit unserem Scheiden im Kapitol alle wieder an einem Ort versammelt sind, sind es nicht nur die schönen Erinnerungen, die an die Oberfläche gespült werden. Es erinnert mich ein wenig an die finale Nacht vor den 75. Hungerspielen, als einige der Sieger im Penthouse von Distrikt 12 zusammengekommen sind, um einen letzten gemeinsamen Abend zu verbringen, bevor sie möglicherweise vom Tod getrennt werden.
So wie damals stoßen wir auch heute an. Diesmal auf die verlorenen Freunde und Familienmitglieder, die uns tatsächlich durch den Tod entrissen wurden. Wir halten unsere Gläser in die Höhe und gedenken den Opfern, die sie gebracht haben, ohne die wir heute nicht hier gemeinsam stehen würden. Und während das kristalline Klirren der Gläser noch durch den Raum hallt, senken wir allesamt die Köpfe. Es fühlt sich ein wenig so an, als würden wir ihre Namen alle leise im Gedächtnis aufsagen. Und doch höre ich sie so deutlich, als hätte jemand sie laut ausgesprochen.
Mags. Chaff. Finnick. Cinna. Portia. Rue. Primrose.
Ich blicke zu Haymitch. Seine Mutter. Sein Bruder. Sein Mädchen.
Peetas gesamte Familie und all die anderen Bewohner von Distrikt 12, die den Bomben nicht entkommen sind.
Elowen. Ramon. Alle Tribute aus Distrikt 12, die wir nicht retten konnten. All die Tribute aus den anderen Distrikten, deren Namen ich nicht kenne.
Lyssandra und Marcus. Meine Eltern.
Und als der Moment der Schuld, der Trauer, des Schmerzes vorüber geht, essen, trinken und lachen wir. Sie alle hätten es nicht anders gewollt. Sie würden wollen, dass die Bewohner dieser neuen Welt Frieden mit dem Schrecken des vergangenen Panems finden.
Und zwischen die Phasen des Lachens mischen sich auch Augenblicke des Ankeifens, der Flüche, der Streitereien. Nie für lang. Wir wissen, dass das hier unsere Familie ist. Und auch wenn alles nun mehr als drei Jahre zurückliegt, wird mehr Zeit vergehen müssen, um diese Wunden zu heilen. Die Traumata. Die Erinnerungen. Falls sie jemals ganz verschwinden. Falls wir jemals völlig geheilt werden können.
Irgendwann, die Dunkelheit hat die Sonne bereits seit einigen Stunden vom Horizont verdrängt, stehe ich draußen hinterm Haus der Kinder. Gegen die Veranda gelehnt, die bei Licht Blick auf den Garten freigegeben hätte.
In der Ferne zirpen die Grillen in der sauberen Sommerluft. Aus den Tiefen des Waldes heult eine Eule ihren Warnruf. Durch die leicht geöffneten Fenster hinter mir dringt gedämpftes Gelächter zu mir heraus. Ein Schleier trockener Wärme umgibt mich. Ich habe den Kopf in den Nacken gelegt, um in den Himmel zu schauen. Die Sterne strahlen mir hier draußen deutlich und klar entgegen und es ist einfach, sich in ihrem Anblick zu verlieren. Anders als im grellen Kapitol, wo sie vom Schein der Stadt verschluckt werden.
Die Tür geht auf und fällt Sekunden später wieder zu. Der Holzboden der Veranda knarrt, als eine Gestalt aus dem Haus schlüpft. Sein Geruch umgibt mich zuerst, kurz darauf auch seine Arme. Ich schmiege mich in Haymitch hinein, ohne meine Augen vom Sternhimmel abzuwenden. Haymitch weiß, dass er mich fasziniert; dass er mich abschalten und abdriften lässt.
„Woran denkst du, Prinzessin?" Seine Stimme ist rau vom Lachen und Reden. Er neigt das Kinn und seine Bartstoppel pieken gegen meine Stirn. Das mit dem Rasieren klappt auch nach drei Jahren noch nicht so gut, wie ich es gern hätte. Aber wie könnte ich ihm das entgegenhalten bei all dem, was ich gewonnen habe?
Nicht nur Haymitch hat sich verändert. Ich mich auch.
Meine Traumata, die ich aus dem Gefängnis erst nach Distrikt 13, dann ins Kapitol und schließlich nach Distrikt 12 geschleppt habe, sind einer Phase der Selbstfindung gewichen. Nicht fort, aber leichter zu ertragen. Haymitch und die Kinder machen sie erträglich, lassen sie mich manchmal für eine kurze Zeitspanne sogar völlig vergessen.
Ich weiß endlich, wer ich abseits des Glamours, der Pflichten des Kapitols und der Rebellen bin. Ich habe mehr als ein Jahrzehnt gebraucht, endlich zu begreifen, wer ich bin. Um mir endlich selbst zuzuhören, ohne die Bedürfnisse einer Gesellschaft über meine eigenen zu stellen. Jetzt bin ich frei und kenne mich selbst besser als je zuvor.
Ich träume kaum noch von meiner Mutter. Wenn doch, dann sind es meistens erfüllende Träume, aus denen ich aufwache und in die ich am liebsten wieder zurückkehren würde. Schnipsel aus meiner Kindheit. Momente, in denen der Druck des Kapitols für einige Augenblicke auf keinem von uns gelastet hat; wo es nur uns beide gab. Oder Szenarien, die sich mein Hirn ausdenkt. Wünsche und Sehnsüchte, die nie Wirklichkeit geworden sind.
Ich vermisse mein altes Leben nur noch selten. Aber manchmal sind da doch die Tage der Nostalgie. Wenn all das Positive das Negative überwiegt. Zumindest für einen Wimpernschlag. Wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich der alten Effie wirklich gerecht werde. Ob sie noch am Leben wäre, ob sie zufrieden mit diesem Leben wäre, ob sie traurig wäre.
Aber dann denke ich an all das Schlimme. An all die Verbrechen und Opfer, die zu bringen waren. An all die Narben, die ich und meine neue Familie für den Rest unserer Leben werden tragen müssen.
Dann erinnere ich mich, dass die alte Effie nicht tot ist. Dass sie immer noch existiert. In mir. Dass wir eins sind und es nie zwei Effies gab. Ich lebe, ich bin zufrieden mit diesem Leben und kann trotzdem trauern. Das ist okay und das ist gut und richtig.
Es war es wert. Das hier war den Schmerz und die Jahre des Leidens wert. Für die Kinder. Für Haymitch. Für mich.
„Ich denke daran, dass das hier die Wahrheit ist."
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