54.2. Justice at Last
„Ich wurde im Penthouse von Friedenswächtern festgenommen", beginne ich meinen Monolog. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie mich unterbrechen werden. „Von dort wurde ich in das Gefängnis gebracht, in dem man auch die anderen Sieger festgehalten hat. Ich wurde von einem Mann verhört, Corporal Cullen. Er hat mir einige Fragen zur Rebellion gestellt, die ich nicht beantworten konnte. Die erste Nacht habe ich in einer normalen Zelle verbracht. Am nächsten Tag hatte ich meinen Prozess, auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ich wurde des Hochverrats für schuldig befunden und mir wurde gesagt, dass das Urteil sofort vollstreckt werden würde." Ich lasse aus, wie ich durchgedreht bin und mir einer der Friedenswächter ins Bein geschossen hat. „Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich in einem dunklen Raum aufgewacht bin. Ich–" Ich schlucke und spüre, wie die Innenseiten meiner Hände feucht werden. „Ich war an ein Bett gefesselt und sie haben mich über Schläuche ernährt. In dem Zustand haben sie mich für zwei Wochen gelassen, das habe ich später bei meinen weiteren Verhören erfahren. Ab da wurde ich immer von demselben Friedenswächter verhört. Er hat sich mir als Adrian vorgestellt."
Seinen Namen auszusprechen, raubt mir den Atem. Ich habe das Gefühl, von einem Zug überfahren zu werden und Haymitch neben mir muss spüren, dass ich abgleite. Er greift nach meiner Hand und drückt sie so fest, dass es schmerzt. Bleib im hier und jetzt. Verschwinde nicht.
Ich kneife die Augen zusammen und fokussiere mich auf den Schmerz in meiner Hand. „Nach dem ersten Verhör wurde ich in eine neue Zelle gebracht. Sie haben ihn Sektor Sieben genannt. Dort habe ich die meiste Zeit verbracht. Sie haben mich gefoltert." Meine Stimme bricht und ich will innehalten, aber dann erinnere ich mich an Lynchs Worte. Je mehr Details, desto relevanter für das Strafmaß. Plötzlich schießt eine Wut durch meine Adern, die die Angst zurückdrängt. Ich richte meine Augen auf Coins Soldaten und denke an die alte Effie, die Männer allein mit ihrem Blick in die Schranken zu weisen wusste. „Schläge, Tritte, Elektroschocks. Wollen Sie auch wissen, was ich gegessen habe?" Es soll höhnisch klingen, aber stattdessen ist mein Ton voll von Qual.
Ich drehe mich nicht zu Haymitch, weil ich die Emotionen in seinen Augen erst gar nicht sehen will. Ich weiß, dass er sich dafür verantwortlich macht, was mir passiert ist. „Irgendwann später, ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, hat Adrian mich in eine Leichenhalle mitgenommen. Ich weiß nicht, sie auch einst Gefangene gewesen waren, aber sie hatten dort auch Kinder aus Distrikten." Ich versuche mit ganzer Kraft, die Bilder aus meinem inneren Auge fernzuhalten, aber das ist kaum möglich, wenn ich es gleichzeitig erzähle. Ich lasse aus, dass sie mir ein Kind aus 12 zu Essen gegeben haben. Ich bringe es nicht über mich, diese Worte laut auszusprechen.
„Ich habe Adrian dort an diesem Tag getötet", sage ich und meine Stimme klingt tot. Die Stimmung im Raum ist so aufgeladen, dass ich sie greifen könnte, wenn ich wollte. Ich finde nicht die Kraft, diesen Satz zu erläutern. Stattdessen fahre ich fort, als hätte ich nicht gerade einen weiteren Mord gestanden. „Einige Tage danach haben sie meine Hinrichtung vorgetäuscht. Sie haben mir ein Serum verabreicht, das Wahnvorstellungen ausgelöst hat. Sie haben mir sogar mit etwas in den Kopf geschossen, aber ich weiß nicht, was es war. Danach haben sie mich aufgepäppelt und in eine neue Zelle gebracht. Johanna Mason war in der neben mir. Sie haben sie gefoltert, mich aber in Ruhe gelassen. Irgendwann haben sie uns dann in eine Zelle gesteckt."
Ich räuspere mich und senke den Blick auf den Tisch. Meine Augen bleiben an den Bildern hängen, die ich eben zu ignorieren versucht habe. Aber jetzt, wo mein Körper bebt und ich das Gefühl habe, jede Sekunde in mir zusammenzufallen, lenken sie mich ab. Mit zitternden Fingern deute ich auf eines der Bilder. „Das war das Interview, nachdem sie meine Eltern hingerichtet haben", bringe ich heiser hervor. „Ich erinnere mich an das Kleid. Sie haben mir das Blut von den Händen gewischt, bevor sie mich dort auf die Bühne gebracht haben, weil ich so doll gegen die Fensterscheibe geklopft habe, die mich von meinen Eltern getrennt hat." Ich spüre, wie ich mich in den Details verrenne; spüre die eisblauen Augen meiner Mutter auf mir, bevor die Kugel durch ihren Schädel fährt.
Der Raum ist zu heiß, die Luft ist zu stickig, meine Brust ist zusammengepresst, als gäbe es keinen Platz mehr hier. Alles dreht sich, nur die Bilder vor meinem inneren Auge sind glasklar zu erkennen. Jetzt, wo ich im Kapitol bin, noch viel schärfer als in der Zeit in Distrikt 13. Ich möchte aufspringen, mich umdrehen und davonrennen. Ich will mich verkriechen und weinen, bin kein Funken dieser Emotionen in meinem Körper mehr übrig ist. Ein Teil von mir will sich ihrem Urteil einfach beugen, egal wie schlimm das Strafmaß ausfällt, nur damit ich nicht noch ein einziges, weiteres Wort sprechen muss.
Ich will vergessen. Ich will mich nicht erinnern. Und trotz allem mache ich weiter. Ich weiß nicht, wie. „Es war das erste Mal, dass ich Peeta seit den Hungerspielen wiedergesehen habe. Johanna hat mir erzählt, dass er vor mir eine Weile neben ihr in der Zelle gewohnt hat, aber sie ihn zum Ende hin woanders untergebracht haben. Ich habe ihn nur bei diesen zwei Interviews gesehen, die Caesar Flickerman mit uns abgehalten hat. Das Erste im Fernsehstudio, das Zweite im Präsidentenpalast. Nach Peetas Bombenwarnung haben sie uns einige Tage in Ruhe gelassen. Dann kamen sie mit mehreren Friedenswächtern wieder. Sie haben Johanna mitgenommen und mich gefoltert. Das war das letzte Mal. Sie sind fluchtartig verschwunden, als ein Alarm ertönt ist. Irgendwann danach bin ich in Distrikt Dreizehn aufgewacht."
Jetzt wissen sie alles. Fast alles. Das sollte genug sein. Das sollten genug Details sein. Ich habe das Bedürfnis, mich zu übergeben. Haymitch drückt immer noch meine Finger, aber ich spüre den Schmerz nicht länger. Da ist eine Leere in meinem Magen, die alles andere ausblendet. Eine Leere, die mich damals so oft verschluckt hat, ohne die ich meine Gefangenschaft sicher nicht überlebt hätte. Mein Körper bebt, meine Emotionen sind am Ende.
Sergeant Lynch lobt mich für meine Stärke und ich habe das Bedürfnis, ihn ins Gesicht zu schlagen. Auf die Art, wie Haymitchs Kopf in seine Richtung schnellt, glaube ich, dass er ähnliche Gedanken hat. „Ihre Erzählungen geben uns einen guten Einblick in das Grauen, welches Sie und die anderen Sieger durch das Kapitol erfahren haben", sagt Richter Mickens nach einem langen Räuspern. Seine Haut ist blass um die Nase geworden. „Ihre Gefangenschaft, die offensichtlich aufgrund vermuteter Informationen über die Rebellion veranlasst wurde, ist ein schwerwiegender Faktor, den ich bei Ihrer Strafe berücksichtigen werde. Die Vermutung, dass Sie heimlich für die Rebellen gearbeitet haben, konnte nie widerlegt werden. Des Weiteren habe ich zwei Aussagen von Siegern vorliegen, die Ihre Treue den Rebellen gegenüber bestätigen. Johanna Mason bestätigt Ihren Teil der Geschichte, was die Gefangenschaft angeht, auch wenn sie nie so ins Detail gegangen ist. Darüber hinaus hat sie unter Eid versichert, dass Sie bereits vor Ihrer Gefangennahme Sympathie mit den Rebellen hegten. Eine Aussage, die ziemlich viel Spielraum für Interpretation lässt, was Mister Abernathy jedoch weiter ausführen konnte. Laut seinem Bericht waren Sie es, die ihn jahrelang heimlich mit Informationen für die Rebellion versorgt hat. Beispielsweise sind die maßgeblich für die Rekrutierung von Cinna verantwortlich gewesen, ein weiterer Rebell aus dem Kapitol."
Ich reiße den Kopf zu Haymitch, was sicherlich verdächtig wirken muss, aber ich kann einfach nicht anders. Er hat unter Eid gelogen und starrt mir nun so selbstsicher in die Augen, als würde er die Geschichte tatsächlich selbst glauben. Dass ich Cinna eingestellt habe, war pures Glück und hatte rein gar nichts mit der Rebellion zu tun. Bei so vielen nichtskönnenden Stylisten war seine Bewerbung ohnehin ein Segen gewesen. Aber Rekrutierung? Geheime Informationen?
Und Johanna hat ebenfalls in meinen Gunsten ausgesagt. Sie hat mir nichts erzählt, dass sie meinetwegen überhaupt befragt wurde. Dass sie unter Eid gelogen hat, überrascht mich jedoch weniger. Ihr Respekt für Coin ist nicht viel größer als der für Snow. Dennoch macht es mich sprachlos.
„Möchten Sie sich dazu äußern, Miss Trinket? Die Fakten sind doch korrekt, oder?", fragt Mickens nun. Sein Blick macht deutlich, dass er zumindest vermutet, dass ihre Aussagen Lügen sind.
Ich nicke, meine übliche Maske an Ort und Stelle. „Ihre Aussagen entspricht der Wahrheit." Lügen, mit denen Haymitch und Johanna mir womöglich das Leben gerettet haben.
„Dann komme ich nun zur Urteilsverkündung", sagt Mickens und starrt gefasst auf ein Blatt vor sich, als stünden dort die genauen Worte meines Urteils bereits niedergeschrieben. Als hätte nichts von dem, was ich hier heute gesagt habe, je eine Rolle gespielt. Ich will glauben, dass es nicht wahr ist. „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil. Euphemia Trinket, Sie werden der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in allen Punkten schuldig gesprochen. In Einbezug der Tatsache, dass sie insgeheim zugunsten der Rebellion gehandelt haben und aufgrund Ihrer Gefangenschaft durch die Regierung unter Präsident Snow, welche Sie des Hochverrats am Kapitol für schuldig befunden hat, wird ein milderes Strafmaß verhängt. Sie haben bereits schweres Leid erfahren, welches Sie sicher für den Rest Ihres Lebens begleiten wird. Deshalb halte ich eine Todes- oder Gefängnisstrafe für überzogen. Stattdessen werden Sie verpflichtet, jeglichen Besitz und jegliches Vermögen an die neue Regierung unter Präsidentin Coin zu übergeben, der in Zusammenhang mit Ihrer Zeit als Bedienstete der Hungerspiele entstanden ist. Darunter zählt der gesamte Wohlstand, den Sie sich durch Ihre Bezahlung erarbeitet haben, abgesehen von persönlichen Gegenständen. Alle Ihre Konten werden eingefroren und ihre Besitztümer beschlagnahmt."
Es fühlt sich an, als würde eine Last von meinen Schultern fallen, von deren Existenz ich bis zu diesem Moment nicht mal gewusst habe. Vor meinem inneren Auge ziehen all die Jahre des Schmerzes vorbei, all die Jahre die ich für die Spiele gearbeitet habe. Es fühlt sich an, als würde jemand den letzten Draht kappen, der mich noch mit diesem Teil meiner Vergangenheit verbunden hat. Der Schmerz und die Schuld sind immer noch da, aber ich kann wieder etwas leichter atmen. Es ist abgeschlossen. Meine Dämonen gehören nun offiziell der Vergangenheit an. Die alte Effie ist nun endgültig Geschichte.
Haymitch neben mir presst erleichtert die Luft aus den Lungen, als hätte er sie bis jetzt angehalten. Seine Finger, die meine Hand bis eben zusammengedrückt haben, verschränken sich mit meinen und ich halte mich an ihm fest, um nicht die Orientierung zu verlieren, als wir uns langsam erheben. Richter Mickens bewegt die Lippen, Sergeant Lynch wechselt einige Worte mit Haymitch, aber nichts davon dringt an meine Ohren. Es ist, als hätte jemand die Verbindung zu meinen Ohren unterbrochen. Alles woran ich denken kann, ist, dass dieser schreckliche Teil meines Lebens nun für immer hinter mir liegt. Abgeschlossen.
Ich erinnere mich nicht, wie wir den Gerichtsraum verlassen oder wie die Soldatengarde uns zurück ins Erdgeschoss eskortiert. In meinem Kopf suche ich nach diesen Erinnerungen, aber da ist nichts. Als hätte mein Gehirn für einige Minuten einfach ausgesetzt. Dann hält Haymitch mir plötzlich die Tür zum Wagen auf und ich klettere hinein. Er hat die Tür noch nicht einmal richtig zugezogen, als er seine Lippen auf meine presst.
Mir entkommt ein überraschtes Gemurmel, bevor ich mich Haymitch entgegenlehne. Der Wagen setzt sich in Bewegung und ich bin froh, dass der Fahrer durch eine Wand von uns getrennt ist, als Haymitch seine Arme um meinen Körper schlingt und seine Lippen über meine gleiten. Das Herz in meiner Brust pocht wie verrückt, das Blut schießt mir hoch in die Wangen und alles, was ich einatme riecht nach ihm. Meine Finger finden seinen Nacken und ich streiche ihm durch sein dunkelblondes Haar, während seine Hände über meinen Körper fahren, als hätte er mich noch nie zuvor berührt.
Der Geschmack von Whiskey auf seiner Zunge, ein stürmischer Kuss auf der Rückbank einer Limousine, diese heiße Leidenschaft, als würden wir uns jede Sekunde die Kleider vom Leibe reißen. Plötzlich habe ich wieder das Gefühl, in der Zeit zurückgereist zu sein. Hat dieser Prozess da gerade tatsächlich stattgefunden oder war das alles nur eine wilde Einbildung meiner Fantasie? Wenn das Auto gleich zum Stehen kommt, werden wir dann vor dem Trainingscenter oder Präsidentenpalast halten?
Zehn Minuten später ist es der Präsidentenpalast, der vor unseren Augen auftaucht und mein Inneres ist erleichtert. So sehr ich die Zeit damals mit Haymitch genossen habe, so froh bin ich, dass sie vorbei ist. Das was wir hatten war pure Begierde und der Ausblick auf Gefühle, die hätten sein können, wenn wir in einer anderen Welt gelebt hätten. Das was wir jetzt haben, ist vielleicht nicht genau das, was ich mir für mich selbst gewünscht habe, aber anders würde ich es nicht haben wollen. Denn wir leben jetzt in dieser anderen Welt.
Der Wagen hält, Haymitch springt heraus und im nächsten Moment wirbelt er mich durch die Luft. Wir stehen auf den Treppen des Palastes, wo der Mann gelebt hat, der sein Leben zerstört und zur Hölle gemacht hat und auf seinem sanften, vorsichtslosen Gesicht breitet sich ein Lächeln aus, welches mein Herz schneller schlagen lässt. Der Wind fegt uns die Haare ins Gesicht, als er nach meiner Hüfte greift und sich um die eigene Achse zu drehen beginnt. Mir entkommt ein kicherndes, glückliches Lachen und ich schlinge meine Arme um seinen Hals, während Haymitch uns weiterdreht.
Wir ignorieren die seltsamen Blicke der Soldaten, als wir wenig später an ihnen vorbeilaufen, hinein in den Palast und fort von der bitteren Kälte, die der Winter mit sich gebracht hat. Er wird nicht mehr lang anhalten, sagt Haymitch. Bald werden die ersten Anzeichen des Frühlings hereinbrechen und bis dahin wird alles vorbei sein, was uns noch an diesem Ort festhält.
„Es ist vorbei, Prinzessin", flüstert Haymitch in einem Ton, der deutlich macht, wie surreal das Ganze für ihn ist. Als könnte auch er nicht glauben, dass diese Qualen, die uns für so lange beherrscht haben, nun unwiderruflich der Vergangenheit angehören; dass wir nun endlich diese neuen Menschen werden können, von denen vor allem er für so viele Jahre geträumt hat; in einem Leben, das er schon längst hätte führen müssen. „Jetzt ist alles vorbei."
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Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch! :)
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