53.2. As It Was
Nach einem kuren Stopp im Präsidentenpalast stehen wir nun am Fuße eines Wolkenkratzers am Rande des Innenzirkels. Die unteren zehn Ebenen bestehen aus massivem weißem Beton und erst darüber zeichnen sich die ersten Fensterfronten der Wohnkomplexe ab. Hoch genug, dass man nicht hinaufklettern kann. Die schwarze, eiserne Tür ist dick genug, um anzudeuten, dass die Wände mit Metall verstärkt wurden. Hier wurde tatsächlich viel Wert auf Sicherheit gelegt.
Johanna lehnt gegen die Fassade des Gebäudes und mustert die Menschen, die uns vorsichtig betrachten als sie an uns vorübergehen. Unsere kleine Soldateneskorte ist nicht wirklich unauffällig. Haymitch hat darauf bestanden, sie mitzunehmen, weshalb wir zum Palast zurückgekehrt sind. Und einmal dort konnte ich nicht wieder gehen, ohne Johanna von dem Vorfall im Gefängnis erzählt zu haben. Sie hält mich für durchgeknallt, allein, weil ich es überhaupt erneut betreten habe. Aber ich kann ihr ansehen, dass sie ein kleines bisschen erleichtert ist, einen unserer Peiniger geschnappt zu haben. So wie sie ist, will sie ihm den Schädel wahrscheinlich am liebsten persönlich mit ihrer Axt einschlagen. Zumindest ist da dieser Funke in ihren braunen Augen, der zuvor nicht da war. Ich wollte, dass sie uns hierher begleitet. Nicht, weil sie großes Interesse an meiner Schwester hätte, sondern schlicht und ergreifend, weil ihr im Palast die Decke auf den Kopf fällt. Sie fühlt sich wie in einem neuen Gefängnis, nur dass die Zelle um einiges größer und luxuriöser ist. Die Sucht macht es nur schlimmer. Ich dachte, dass ihr etwas Abwechselung vielleicht guttun würde.
„Deine Verwandten sind ziemlich reich", stellt Johanna fest, während meine Augen zu dem Zahlenfenster gleiten, der als einziges neben der Tür prangt. Ich tippe den sechsstelligen Code ein, den Caius mir genannt hat und die Tür beginnt zu surren. Mehrere mechanische Klicken ertönen und ich drücke mich gegen die flache Tür, welche nicht einmal eine Klinke besitzt. Haymitch, Johanna und zwei Soldaten folgen mir als ich eintrete. Ein sanftes Licht erleuchtet einen quadratischen Vorraum, an dessen Ende drei Aufzüge liegen. Rechts von ihnen erwacht ein Display zum Leben.
„Es ist nicht das Geld meiner Familie", erkläre ich abwesend. Meine Augen fallen auf die dutzenden Namen, die neben den nummerierten Wohnungen stehen. Keiner der Namen ist mir bekannt, aber das ist der Sinn der Sache; der Sinn eines solchen Apartments: Niemand soll wissen, welche wohlhabende Familie hier residiert. Zur Wahrung der Privatsphäre und aus Sicherheitsgründen. Ich suche den richtigen Namen und drücke die Klingel. „Caius' Familie steht mit einem Fuß in der Tür der Elite. Er ist in der Regierung. Das hier gehört alles ihm."
„Vielleicht hast du ja aufs falsche Pferd gesetzt", kichert Johanna verächtlich und anstatt auf ihre Bemerkung einzugehen, drücke ich erneut die Klingel, diesmal länger. Das ist eine ihrer Stimmungsschwankungen. Ihre letzte Dosis muss abgeklungen sein, die Abwesenheit macht sich bemerkbar. Sie meint es nicht so, sie ist einfach zu alles und jedem so boshaft wie es eben geht.
„Ihr Schwager ist ein schmieriger Typ", brummt Haymitch und im selben Moment summt die Leitung, als die Sprechanalage zum Leben erwacht. Mein Herz schlägt mir plötzlich bis hoch in den Hals, mein Körper steif, mein Bauch aufgeregt vor Angst. Der alles entscheidende Moment.
„Wer ist da?" Eine hohe Stimme aus der die Vorsicht klingt. Mein Kopf sinkt in meine Hände und mir entkommt ein erleichtertes Seufzen, das sich wie ein halbes Schluchzen anhört, als ich Aurelia erkenne. Sie ist es. Sie lebt. „Effie bist du das?!"
Nun schießt mein Kopf in die Höhe. Woher weiß sie- Mein Blick fällt auf die kleine Kamera oberhalb des Displays. Sie kann mich sehen. Mich und die anderen, die hier im Vorraum stehen. Das Feld, wo ihr Gesicht hätte sein können, hätte sie ihre eigene Kamera aktiviert, bleibt schwarz. Automatisch streiche ich mir das Haar zurecht und atme einmal tief durch, bevor ich zu nicken beginne. „Ja, ich bin es", kommt es mir langsam über die Lippen.
Für einen langen Moment hüllt mich die Stille ein und ich fürchte bereits das Klicken in der Leitung. „Woher weißt du von dieser Wohnung?", fragt sie stattdessen, ihr Ton behütet. Sie ist nicht froh, mich zu sehen, aber auch nicht verärgert. Kein Wie geht es dir oder Verschwinde sofort.
„Caius hat mir die Adresse gegeben."
„Du hast mit ihm gesprochen? Ist er wieder frei?" Sie klingt hoffnungsvoll. Sie klingt so anders als ich es in Erinnerung habe. Die Energie, die sonst dort geschlummert hat, ist etwas anderem gewichen; einer Erschöpfung, die tiefer geht als simple Müdigkeit.
Ich schüttele den Kopf. „Er steht weiterhin unter Arrest. Ich habe ihn besucht und mit ihm gesprochen. Es geht ihm gut. Ich soll dir ausrichten, dass er sich um dich sorgt." Eine Lüge, aber ich will ihr Gemüt beruhigen; will, dass sie mich raufkommen lässt.
„In Ordnung", erwidert sie und nach all der Zeit kenne ich sie immer noch gut genug, um zu wissen, dass sie meine Lüge durchschaut. „Was machst du hier?" Direkt und auf den Punkt. Als gäbe es keinen Grund für mich, hier her zu kommen. Als wären wir Fremde, die einander nichts zu sagen hätten. Als hätten wir nicht tote Eltern zu betrauern. Als gäbe es nicht einen Haufen Geheimnisse zwischen uns, die es endlich zu lüften gilt. Sie ist alles, was mir von meiner Familie bleibt. Ich liebe sie, nicht weniger als in unserer Kindheit. Ihre Frage tut mehr weh, als ich erwartet habe und einen Moment lang habe ich keine Antwort. Ich weiß nicht, was sie auf meinem Gesicht sieht, das sie dazu bewegt, fortzufahren. „Ich habe so lange auf dich gewartet."
Das ist alles. Die Leitung klickt und erstirbt. Mein Herz zieht sich so schmerzhaft zusammen, dass die Welt um mich herum kurz schwarz wird. Dann macht es plötzlich Ping und die rechte Aufzugtür öffnet sich. Meine Knie sind weich vor Erleichterung und ich betrete den Aufzug, bevor Aurelia es sich womöglich anders überlegt.
Wir müssen keinen Knopf drücken, der Lift bringt uns automatisch zur richtigen Etage, hinauf in das Apartment unter der Penthousewohnung. Ein erneutes Klingeln, als die dicken Metalltüren sich öffnen, nur um den Blick auf eine weitere Stahltür freizugeben. Ich blinzele einmal und die Tür wird behutsam nach innen geöffnet. Aurelias karamellblonder Kopf taucht zwischen dem dünnen Spalt auf. Ihre himmelblauen Augen finden mein identisches Paar und ich schaffe es nicht einmal in Tränen auszubrechen, so dankbar bin ich, dass sie hier vor mir steht. Atmend. Lebend. Mit Blut, das durch ihre Adern fließt. Selbst wenn sie mir die Tür vor der Nase zuschlagen und mich nie wieder sehen wollen würde, wäre ich überglücklich. Ihr Leben ist ein Privileg, dem ich vor einer langen Weile abgeschworen habe. Ich habe sie so lange für tot gehalten, dass sich die Tatsache in meinem Verstand bereits verfestigt hat.
Der Moment geht vorüber und Unbehagen huscht über Aurelias Gesicht als sie meine Begleiter betrachtet. Ich verziehe peinlich berührt die Lippen, weil ich bisher keinen Gedanken daran verschwendet habe, wie es aussehen muss, hier mit zwei Siegern der Hungerspiele und einem Haufen Rebellensoldaten aufzukreuzen. Ich will mich bereits zu ihnen umdrehen, um ihnen zu sagen, dass sie unten warten sollen, als Aurelia die Tür vollständig öffnet und zur Seite tritt. „Kommt herein."
Die Soldaten sehen mehr als nur ein wenig deplatziert aus und selbst Haymitch und Johanna halten sich höflich zurück, als wüssten sie nicht wirklich etwas mit sich anzufangen. Wir stehen in einem breiten, langen Flur und Aurelia mustert uns kurz, bevor sie in ihre typische Gastgeberrolle schlüpft. „Bitte zieht eure Schuhe hier aus", sagt sie freundlich distanziert. Das hier muss ein so komischer Anblick sein. „Folgt mir ins Wohnzimmer."
„Ihr könnt hier warten", weist Haymitch die Soldaten an, bevor wir Aurelia durch den reichlich dekorierten Flur in ein weites, offengeschnittenes Wohnzimmer folgen. Eine breite Fensterfront eröffnet den Blick auf den Innenzirkel. Ich kann das Trainingscenter von hier sehen, das Penthouse von Distrikt 12. Sofort frage ich mich, ob sie vielleicht hier war, als die Friedenswächter mich vor all den Monaten festgenommen haben. Hätte sie ein Fernglas gehabt, oder nur eine etwas bessere Kamera, dann hätte sie förmlich dabei zusehen können.
Das Wohnzimmer ist klassisch eingerichtet, altertümlicher als das Haus meiner Eltern, aber nicht weniger schön. Eine braune Sofalandschaft nimmt den Großteil des Raumes ein und steht genau in der Mitte. Links neben den Fenstern brennt ein Feuer in einem Kamin. Das Parkett aus dunklem Holz ist mit mokka- und beigefarbenen Teppichen gesäumt. Ein goldener Schrank in der anderen Ecke, ein kupferfarbenes Regal rechts neben dem Eingang und ein breiter Kronleuchter aus gelbem Glas hauchen dem Raum etwas Leben ein. Anders als bei meinen Eltern zuhause sieht man, dass hier jemand lebt. Gegenstände des Alltags stehen hier und da, die Stoffdecke auf der Couch schlägt Falten und die Kissen sehen so aus, als hätte sie jemand plattgelegen.
„Hätte ich gewusst, dass ich Besuch bekomme, hätte ich Erfrischungen vorbereitet", entschuldigt Aurelia sich und erkundigt sich dann, ob jemand etwas trinken möchte. Wir lehnen alle höflich ab. Sie steht vor der Rückseite des Sofas und streicht sich mit den Händen über die Oberarme, als wüsste sie nicht recht, was sie mit mir oder der Gesamtsituation anfangen soll.
Aurelia sieht anders aus als ich sie in Erinnerung habe. Unser letztes Treffen war ein Brunch bei meiner Mutter zuhause, nur wenige Tage bevor ich für die Ernte nach Distrikt 12 gereist bin. Ich erinnere mich noch, dass ihre kirschrote Perücke an dem Tag besonders schön gestrahlt und ich meinen Blick kaum davon hatte abwenden können. Während die meisten Ehefrauen von Politikern sich eher dezent und konservativ kleiden, war sie stets in Glanz und Glamour gehüllt; immer die neuste Haute-Couture, immer gerade so auffällig, dass es keinen Bogen überspannte. Ich erinnere mich nicht mehr, was sie trug, nur dass die Nähte ihres Kleides im Licht geglitzert haben.
Jetzt trägt Aurelia ein enganliegendes, bernsteinfarbenes Etuikleid mit V-Schnitt. Schlicht, ohne Ausschmückungen. Ihre Füße stecken in schwarzen Pumps, deren Absatz keine zwei Zentimeter beträgt. Kein Schmuck ziert Hals, Ohren oder Handgelenke und ich muss an die Plünderung in ihrem Haus im Regierungsviertel zurückdenken. Sie wäre sicher nicht gegangen, ohne ihren wertvollsten Schmuck mitzunehmen.
Es ist das erste Mal in zwei Jahrzehnten, dass ich Aurelias echtes Haar zu Gesicht bekomme. Meine Mutter hat sie früh überzeugt, Perücken zu tragen und anders als ich hat sie ihres selbst dann nicht der Öffentlichkeit präsentiert, als Naturhaar in Mode war. Ich kann nicht sagen, ob sie es gefärbt hat, aber in unserer Kindheit kam es mir heller vor; ähnlicher zu meinem eigenen. Jetzt hat ihr Blond einen leichten Rotstich, wie das Fell eines Fuchses. Sie hat es in einem strammen Zopf hochgesteckt. Es lässt ihre markanten Wangenknochen hervorstechen, die sie in der gesamten Stadt berühmt gemacht haben. Keinerlei Make-up liegt auf ihren Zügen. Ihr Gesicht ist kaum merklich in sich eingefallen. Sie hat seit unserer letzten Begegnung abgenommen. Ihre geweiteten, blauen Augen, die wir gleichermaßen von unserer Mutter geerbt haben, fahren über meinen Körper hinweg und ich weiß, dass sie dasselbe über mich denkt.
Aurelia kommt langsam auf mich zu und obwohl sie meine ältere Schwester ist, werde ich das Gefühl nicht los, dass sie verlorener wirkt als ich. Sie bleibt einen Meter vor mir stehen und Kummer mischt sich in ihren Ausdruck. „Was haben sie nur mit dir gemacht?", murmelt sie betreten und bedrückt und dann öffnet sie die Arme. Ich komme ihr entgegen, ohne zu zögern.
Wir halten uns für eine Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Wir klammern uns aneinander, wiegen uns langsam hin und her, spüren den rasenden Herzschlag der anderen und als sie zu schluchzen beginnt, kann ich meine eigenen Tränen auch nicht länger zurückhalten. „Du weißt gar nicht, wie erleichtert ich bin, dass du am Leben bist", bringt Aurelia bebend hervor und löst sich so weit von mir, dass wir uns in die Augen schauen können. In ihren Pumps ist sie ein kleines Stückchen größer als ich. „Nach dem, was mit Mutter und Vater passiert ist ..." Sie schluchzt und streicht sich die Tränen von der Wange. „Als sie dich auf die Bühne gebracht haben ... Ich habe nur darauf gewartet, dass du als nächstes sterben würdest."
„Du bist nicht wütend?", frage ich leise und drücke die Hände zusammen, um sie vom Zittern abzuhalten. „Sie sind meinetwegen tot. Wenn ich nicht gewesen wäre, dann–" Aurelia unterbricht mich, bevor mein Ton eine noch hysterischere Oktave erreichen kann.
„Ich weiß, dass du ihnen das niemals mit Absicht angetan hättest, Effie", erwidert sie eindringlich und zweifellos, als wäre es ein Glaubenssatz, an dem sie bisher mit aller Kraft festgehalten hat. „Was auch immer du getan hast, ob du nun eine ... Rebellin ... bist oder nicht, du hättest niemals gewollt, dass sie dafür sterben."
Ich nicke vehement und wanke dann an ihr vorbei zum Sofa. Ein Blick zur Tür verrät mir, dass Haymitch und Johanna sich zurückgezogen haben. Wir sind allein. Meine Füße beben zu sehr, als dass ich länger aufrecht stehen könnte. Aurelia nimmt neben mir Platz und greift nach meiner Hand, als wäre sie sich nicht ganz sicher, ob das hier gerade wirklich passiert. „Was auch immer du gehört hast entspricht wahrscheinlich nicht der Wahrheit."
„Dann erzähl mir deine Seite der Geschichte", fordert Aurelia und ich höre die Unsicherheit in ihrer Stimme. Wie stark ist der Einfluss des Kapitols noch auf sie?
Ich blicke auf in ihr Gesicht und vor meinem geistigen Auge taucht ein jüngeres Bild ihrer selbst auf. Bis ins Teenageralter war sie meine beste Freundin. Ich habe ihr alles anvertraut, über Liebeskummer bis hin zu den Streitereien mit unserer Mutter. Es gab nichts, was sie nicht von mir wusste. Erst als meine Mutter ihr den Karrierepfad geebnet hat, welchen auch ich hätte gehen sollen, ist unsere Beziehung ausgekühlt. Plötzlich gab es Dinge, von denen ich nicht geglaubt habe, dass Aurelia sie verstehen würde. Dann hat sie Caius getroffen, was uns weiter voneinander abgekapselt hat. Als ich Teil der Hungerspiele wurde, hätte ich dringend jemanden gebraucht und wäre er nicht gewesen, wäre sie vielleicht die Person gewesen, zu der ich gegangen wäre. Aber mit einem Ehemann in der Regierung kann man sich schlecht über die Hungerspiele und ihre Ungerechtigkeiten ausweinen.
So viele Gründe, die uns auseinandergetrieben haben, die nun allesamt verpufft sind. Vielleicht ist es zu spät für sie, vielleicht ist sie zu tief im Sog des Kapitols drin, um zu verstehen. Dennoch oder möglicherweise gerade deshalb hole ich tief Luft und erzähle Aurelia alles. Wirklich alles. Meine ersten Jahre als Betreuerin bei den Spielen. Mein plötzliches Erwachen, als ich hinter den Vorhang geblickt habe. Die Tode, die Intrigen, die Feierlichkeiten. Caius' Verhalten über die Jahre. Das Verhalten der Elite, die Machenschaften der Elite. Meine emotionale Distanz über die Jahre. Die Situation in den Distrikten. Seneca Cranes Tod. Die Bedrohung durch Snow. Die aufkeimende Unruhe in 12, die mit dem Jubeljubiläum auf die anderen Distrikte übergesprungen ist. Haymitchs Geheimniskrämerei. Sein plötzliches Verschwinden. Meine Festnahme. Mein Gerichtsprozess, in dem ich als Rebellin festgemacht wurde. Die Monate in Gefangenschaft. Die Interviews. Die Hinrichtung unserer Eltern. Hier fange ich an zu schluchzen und unterbreche für eine Weile meinen Monolog, um nach Aurelias anderer Hand zu greifen, während sie leise mit mir weint. Dann geht es weiter. Ich habe keine richtige Kontrolle über die Worte. Sie sprudeln aus mir heraus, wie ein wirrer Strom, in dem ich mich verliere, weil ich nichts vergessen möchte, sodass die Ereignisse ihre Reihenfolge verlieren. Es fehlt unsere Rettung aus dem Gefängnis. Meine Rehabilitation in Distrikt 13. Die Annäherung von Haymitch und mir. Meine Freundschaft zu Johanna. Ich beende meine Erzählung mit dem Aufbruch ins Kapitol und schildere knapp, dass ich das Haus unserer Eltern und ihres besucht habe, um sie zu suchen, nur um schließlich Caius aufzusuchen.
Wir weinen und weinen und es dauert lang, bis Aurelia sich endlich räuspert, um Stellung zu nehmen. Ich erwarte allerlei. Ich erwarte nichts, weil ich ihr Inneres über die Jahre kaum mehr kenne und ich nicht mehr weiß, wie sie denkt. „Ich habe nie geglaubt, dass du eine Rebellin bist. Das hätte nicht zu dir gepasst. Ich habe mich monatelang gefragt, warum du trotzdem in den Fokus der Regierung geraten bist. Im Anbetracht, dass sie alle anderen Bediensteten der Hungerspiele hingerichtet haben, hättest du auch keine Rebellin sein müssen. Mutter hat angedeutet, dass es an Haymitch liegt. Sie hat Caius und mir nach eurem Treffen in der Stadt von seinem Auftauchen erzählt. Im Interview mit Caesar ist herausgekommen, dass sie Bilder von euch hatten. Das war für sie Grund genug, zu vermuten, dass du mit ihm unter einer Decke steckst."
„Aber was denkst du darüber? Denkst du, ich habe verdient was passiert ist? Denkst du Johanna oder Peeta haben es verdient?" Aurelia klingt so sachlich, als hätte sie sich das ganze Wissen angeeignet. Als hätte sie Caius' Worte aufgeschnappt.
Aurelia zögert und verzieht gequält das Gesicht. „Ich verabscheue jede Form der Gewalt. Wenn ich höre, was du erlitten hast ... Das wünsche ich niemandem. Auch nicht deinen Siegern oder jemand anders aus den Distrikten. Schließlich sind sie doch nur Kinder. Sie sind zu jung, um das alles wirklich zu verstehen."
„In den Hungerspielen haben auch Kinder gekämpft", bringe ich hervor und fühle mich etwas heuchlerisch dabei. Wem sage ich das? Ich war elf Jahre Betreuerin dieser Kinder.
„Du willst von mir hören, dass ich die Hungerspiele verabscheue und sie etwas Schreckliches sind", fasst Aurelia leise zusammen und starrt auf ihren Schoß, in dem sie ihre Hände zusammengefaltet hat. Ihre Finger zittern immer noch auf und ab. „Dabei weißt du, dass ich sie immer unterhaltsam fand. Ich habe keine Bindung zu diesen Kindern. Sie sind Stars. Ich verstehe, dass die meisten von ihnen sterben, aber ..." Aber jemanden auf dem Bildschirm sterben zu sehen, als wäre es nichts als ein Film ist anders. Oder aber es ist ihr egal. „Es ist mir nicht egal, aber ich habe mich beim Zuschauen auch nicht schlecht gefühlt. Ich werde den Spielen nicht hinterhertrauern oder sie vermissen, aber sie waren nun mal da. Da hast du die Wahrheit. Du würdest meine Lügen ohnehin durchschauen."
Mir fehlen die Worte. Nicht, weil ich fassungslos oder bestürzt bin. Mir war klar, dass sie in der Hinsicht wie meine Mutter ist, wenn auch weniger extrem. Ich war selbst wie sie, bis man mir die Kinder direkt vor die Nase gestellt hat. Es ist einfach nicht dasselbe, sie in Fleisch und Blut vor dir zu haben, ihre Ängste zu sehen, dich um sie zu kümmern, als wenn man ihren Tod nur im Fernsehen verfolgt, während man sich mit seinen Freunden betrinkt oder eine Gartenparty schmeißt, um nebenbei zu networken. Ich will sie auch nicht verteidigen, aber ich weiß, wie es ist und so ist es nun mal. Ich bin sprachlos, weil ich einfach nichts zu sagen habe.
„Ich glaube dir, Effie, wenn du sagst, dass die Menschen in den Distrikten eigentlich nichts wollen, als Gerechtigkeit für sich selbst", fährt Aurelia fort und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie sich verpflichtet fühlt, mir die Wahrheit zu sagen, nachdem sie meine gehört hat. „Aber sie haben unsere Stadt zerstört, sie haben sie sich unter den Nagel gerissen. Ist das Gerechtigkeit? Das Kapitol hat Fehler gemacht, das gebe ich zu, aber ich habe Angst, dass sie uns das antun, was wir ihnen angetan haben. Sie könnten, wenn sie wollten."
„Heißt das, du würdest die Zeit zurückdrehen, wenn du könntest?"
„Meine Ehe mit Caius war nur nach außen hin stabil, oft nicht einmal das", gibt Aurelia zu und seufzt. Ihr kupferblonder Zopf schwingt hin und her, während sie den Kopf schüttelt. „Ich habe ihn geliebt, als wir geheiratet haben, aber ich war damals sehr jung. Dennoch bin ich froh, dass ich mich für ihn entschieden habe. Caius hat mir ein Leben ermöglicht, das ich in vollen Zügen genossen habe. Falls sie ihn nicht hinrichten, werden sie ihn zumindest enteignen und somit bleibt mir nur das, was Mutter und Vater gehört. Der Lebensstandard ist nicht derselbe und ich weiß, dass ich mich privilegiert anhöre, aber so ist es nun einmal. Ich bin eine einzige Person. Ich könnte an dem Leid in Panem auch mit meinem Geld nichts ändern. Bin ich egoistisch, wenn ich sage, dass mir mein Leben wichtiger ist als das der anderen? Die Rebellen machen schließlich auch nichts anderes, als ihre Leben über unsere zu stellen."
In all den Jahren, in denen wir uns Woche für Woche bei meiner Mutter zum Brunch getroffen oder wir gemeinsam auf diversen Veranstaltungen waren, habe ich immer gedacht, dass sie liberaler eingestellt sei als Caius. Ich dachte, dass sie das Leid dort draußen verstehen würde. Aber vielleicht muss sie wirklich erst in der Haut von mir oder Johanna oder jemandem aus den Distrikten stecken, um zu verstehen, wie viele Leben gerettet werden konnten, nur weil Einzelpersonen wie Cinna, Portia oder Plutarch Heavensbee sich dazu entschlossen haben, die eigenen Privilegien beiseitezuschieben.
Liebe ich Aurelia nun weniger, weil sie meine Meinung nicht teilt? Ein Teil von mir möchte es, aber ich kann nicht. Ich will sie nicht hassen. Vielleicht lernt sie mit der Zeit. Sie ist meine Schwester, sie gehört zu mir, komme was wolle. Ich bin mir sicher, dass sie mich nicht in diesem Gefängnis im Stich gelassen hätte, wenn sie mich dort gesehen hätte. Ich weiß, dass meine Geschichte sie quält. Ich hoffe, dass sie darüber reflektieren wird.
„Wie ist es dir in den letzten Monaten ergangen?", frage ich dann. Ich will mehr über ihr Leben erfahren, wo ich nun so lang von der Bildfläche verschwunden war.
„Es war schrecklich, Effie", flüstert sie und greift wieder nach meinen Händen. „Als öffentlich geworden ist, dass Distrikt Dreizehn gar nicht zerstört, sondern die Basis der Rebellen ist, war Mutter sich so sicher, dass Haymitch dich dorthin mitgenommen hat. Ich glaube niemand war so neben der Spur wie sie, als Caius von deiner Inhaftierung und dem Prozess erfahren hat. Es ging alles so schnell. Gestern waren wir noch bei Mutter und Vater und Caius hat uns von allen bekannten Details berichtet und am nächsten Tag waren auch sie verschwunden. Selbst Caius wusste nichts. Das nächste und letzte Lebenszeichen war ihre Hinrichtung." Aurelia fängt erneut an zu weinen und ich schlinge ihr einen Arm um die Schulter, um sie zu trösten. „Es war schrecklich. Es war ... das haben sie nicht verdient." Sie schluchzt und zittert und zerquetscht meine Hand. „Aber wem erzähle ich das?"
Nach einem entschuldigenden Blick erzählt sie weiter. „Ich dachte ... Caius und ich dachten beide, dass sie dich nach dem ersten Interview hinrichten würden. Caius wusste nicht, was sie sonst noch mit dir hätten machen können. Aber dann gab es ein zweites Interview und ein Drittes und ich hatte Hoffnung, dass du in Haft geredet hast und sie dich deshalb begnadigen würden. Da dachten wir noch, dass das Kapitol den Krieg gewinnen würde. Aber dann haben sie die Bomben auf Distrikt Dreizehn geworfen und es gab keinen weiteren Anhaltspunkt zu dir. Erst jetzt durch dich weiß ich, dass die Rebellen damals ins Gefängnis eingebrochen sind, um euch zu befreien. Die Monate darauf waren reines Chaos. Ich habe die meiste Zeit versucht, meinem üblichen Alltag nachzugehen, um mich abzulenken. Die Friedenswächter haben uns mehrmals besucht, um mir Fragen über dich zu stellen, aber ich wusste nichts. Der Druck auf Caius wurde immer größer und er hatte Schwierigkeiten, Rechtfertigungen für meine Familie zu finden. Die Tatsache, dass wir uns privat so selten gesehen haben, hat mich anscheinend gerettet."
„Es tut mir leid, dass Caius und du in das alles mit reingezogen wurdet. Ich wünschte, dass sie euch in Ruhe gelassen hätten. Jeden Tag in Dreizehn hatte ich Angst, dass sie dich auch hinrichten würden." Meine Stimme bricht und es wird schwer, die dunklen Bilder meiner Zelle aus meinem Hirn fernzuhalten.
„Ich wünschte, dass sie dich in Ruhe gelassen hätten", erwidert Aurelia. „Egal welche Anschuldigungen im Raum liegen. Du bist ein Mensch. Du hast dem Kapitol gedient. Du hast Rechte. Dass sie dir das angetan haben, ist unverzeihlich."
„Wieso hat Caius dich nicht hierher begleitet?", frage ich, anstatt auf ihre Worte einzugehen. Zu sehr erinnern sie mich an ein ähnliches Gespräch, welches ich vor sehr langer Zeit mit Haymitch geführt habe. Erinnern mich, dass ich einst genauso war wie sie.
„Ich wünschte, dass es möglich gewesen wäre", seufzt Aurelia. „Er konnte seine Regierungspflichten nicht vernachlässigen. Wir haben immer noch versucht, den Krieg zu gewinnen, auch wenn es schließlich vergebens war. Das war der Zeitpunkt, als er mich hier abgesetzt hat. Zum Glück habe ich noch mein eigenes Geld, sodass ich mir weiter Essen bestellen konnte, nachdem Caius' Konten eingefroren wurden."
„Du lässt dir Essen hierher liefern?" Es verblüfft mich, dass tatsächlich nicht die komplette Wirtschaft in den Abgrund gerissen wurde. So sieht das Kapitol zumindest aus.
Aurelia zuckt die Achseln. „Es gibt kaum Lebensmittel hier und unsere Angestellten sind zu ihren eigenen Familien geflüchtet, als der Krieg ernst wurde. Die Preise sind zwar unverschämt in die Höhe geschossen, aber es kommt anscheinend kaum Nahrung aus den Distrikten rein."
„Sie fangen erst langsam an, die Lieferketten ins Kapitol wieder herzustellen", erkläre ich monoton. „Es wird noch eine Weile brauchen, bis alles beim Alten ist. Wenn überhaupt."
„So ist das wohl im Krieg", murmelt sie und starrt durch die Fenster hinaus auf die zerstörte Stadt. Die orangene Sonne geht langsam hinter den Dächern der Wolkenkratzer unter und lässt die gläsernen Türme wie funkelnde Diamanten aufleuchten. Die Skyline ist unbeschadet davongekommen und repräsentiert weiterhin das, wofür die Distrikte sich zusammengetan haben.
„Wie geht es nun weiter?", fragt Aurelia nach Minuten der Stille.
Ihre Frage hinterlässt einen Kloß in meinem Hals und öffnet ein neues Loch der Furcht in meinem Magen, das erst kürzlich entstanden ist und an das ich mich noch nicht ganz gewöhnt habe. „Die Stadt wird sich erholen. Das Land wird neu aufgebaut. Es werden Wahlen stattfinden, nachdem alle Prozesse vorüber sind", sage ich mit schwankender Stimme. „Um alles andere kümmern wir uns, sobald mein eigenes Urteil feststeht."
Aurelia wendet mir den Kopf zu, ihre gezupften Augenbrauen verwirrt gehoben. „Wovon sprichts du da?"
„Ich war Betreuerin der Hungerspiele, ob nun für Distrikt Zwölf oder nicht." Jetzt bin ich es, die mit den Schultern zuckt. Als würde es mich nicht treffen. Als wäre es mir egal. „Die Rebellen haben mich angeklagt für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Mein Prozess ist einer der ersten, die nächste Woche stattfinden. Es kann sein, dass sie mich hinrichten werden."
-
Oh oh,
hier passiert einiges. Effie trifft endlich (!) ihre Schwester wieder! Und am Ende beichtet sie ihr, das sie selbst angeklagt wurde. Drama incoming!
Wie hat es euch gefallen? Über eure Meinung freue ich mich sehr! Ich lade jetzt jede Woche hoch, weil ich die Geschichte fertig geschrieben habe und nur noch hochladen muss.
Liebe Grüße
Skyllen :)
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