51. The End

The End

Nach der Hochzeit fängt alles an bergabzugehen. Die Distrikte haben sich vereinigt. Der Krieg im Kapitol beginnt. Eine Weile habe ich noch das Gefühl, dass für uns alles gut ausgehen könnte. Wir sind weiter in Distrikt 13, fernab der Gefahr und in Sicherheit. Jedoch bin ich eine der wenigen, die diese Privilegien zu genießen scheint. Mit jedem Tag verschwinden mehr Menschen aus 13 und machen sich auf in die Hauptstadt, um in die Schlacht zu ziehen. Haymitch sagt, sie haben bereits genügend Fußsoldaten vor Ort, aber das scheint niemanden aufzuhalten. Auch Katniss und Johanna nicht.

Seitdem Katniss bei Johanna eingezogen ist, kriege ich Johanna kaum noch zu Gesicht. Ich weiß nicht, was sich verändert hat, doch in Johanna scheint nach all den Wochen des vor sich Hinvegetierens von den einen auf den anderen Tag eine alte Flamme erwacht zu sein. Sie erinnert sich langsam wieder daran, wer sie war, bevor alles nach dem Jubeljubiläum den Bach herunter gegangen ist. Sie kommt wieder zu Kräften, wenn auch Schritt um Schritt. Sie und Katniss haben sich den Kadetten angeschlossen, die auf die Soldatenprüfung hinarbeiten, um noch vor Ende des Kriegs ins Kapitol verschifft zu werden.

Ein Teil von mir versteht es. Beide Siegerinnen hassen das Kapitol, ich könnte nicht einmal sagen, in wem der Hass stärker ist. Katniss und Johanna waren nie Freunde, aber etwas hat sich geändert. Etwas zwischen ihnen ist klarer geworden. Der Großteil von mir, der bequemliche und egoistische Teil, will nicht verstehen, weshalb sie sich freiwillig in einen Kampf einmischen wollen, der sie in der Vergangenheit so viel Schmerz gekostet hat. Vielleicht ist es aber genau dieser Schmerz, der sie antreibt. Vielleicht würde ich anders empfinden, wenn ich auch nur die leiseste Ahnung von dem hätte, was sie durchgemacht haben.

Mit jedem verstreichenden Tag hoffe ich mehr und mehr, dass der Krieg schnell ein Ende findet. Schneller als Katniss und Johanna für ihre Ausbildung brauchen. Allerdings habe ich schon vor einer langen Zeit gelernt, dass die Dinge meistens nicht so laufen, wie man es sich erhofft. Das hier ist keine Ausnahme.

Es muss später Abend sein, als ich mich zu Johanna ans Bett setze. Sie ist wach, aber sediert. Ihre braunen Augen fahren über mich hinweg, als wäre ich gar nicht da. Enttäuschung liegt in ihrem Blick. Kein Zorn, kein Trotz, keine Furcht. Das Kapitol, welches sie eigentlich bekämpfen wollte, hat sie eingeholt. Das Kapitol und die Dinge, die es mit ihr in den untersten Ebenen des Gefängnisses angestellt hat. Sie hat es nicht geschafft. Am Ende ihrer Prüfung hat kein Einberufungsbefehl, sondern ein weiterer Krankenhausaufenthalt auf sie gewartet. Haymitch hat mir erzählt, was sie in der Simulation erwartet hat und es hat ausgereicht, um meine eigenen Dämonen aus ihren Verstecken zu bringen.

Katniss und Finnick fliegen gemeinsam ins Kapitol, was darin resultiert, dass Annie mir an Johannas Bett Gesellschaft leistet. Der Gedanke, dass selbst Finnick außerhalb der sicheren Mauern dieses Bunkers sein wird, macht mich nervös. Das einzige Bild, was ich diese Nacht vor meinem inneren Auge habe, ist sein verängstigtes Gesicht bei unserer ersten persönlichen Begegnung. Je mehr Zeit in Distrikt 13 vergangen ist, desto mehr habe ich mich in der sicheren Illusion gewogen, dass die Kinder nun alles hinter sich haben würden. Nach all den Kindern, die wir verloren haben, dachte ich, dass es endlich damit vorbei wäre. Ich fühle mich immer noch für sie verantwortlich, sorge mich immer noch um sie.

Der einzige Lichtblick sind Haymitchs spärliche Informationen über die Mission, für die Katniss' Team ausgewählt wurde. Sie werden nicht an der Front kämpfen, sondern nur Propomaterial für Plutarch und Beetee sammeln. Der Lichtblick hält nicht lange an.

Die Tage vergehen wie im Fluge und im Nachhinein kann ich mich an kaum etwas erinnern. Mit jedem weiteren Tag, den Katniss fort ist, verschlechtert sich Johannas Verhalten. Sie fällt in alte Muster zurück. Es ist das Morphium. Doch Haymitch ist nicht besser. Er versucht, die Symptome zu verbergen, aber da wir uns ein Zimmer teilen, grenzt es an Unmöglichkeit. Das Zittern seiner Finger ist stärker, er kann es weniger kontrollieren. Er kriegt nachts kaum ein Auge zu. Jetzt wo der Krieg im vollen Gange ist, bekomme ich ihn wieder weniger zu Gesicht.

Manchmal habe ich das Gefühl, zu träumen. Die Tage reihen sich aneinander und plötzlich sind ganze Wochen vergangen. Ich habe das Gefühl, aus einem Tiefschlaf zu erwachen, nur um zu merken, dass alles um mich herum sich verändert hat. Als wäre ich selbst wieder unter dem Einfluss des Morphins, wie damals als sie mich gerade erst aus dem Kapitol befreit hatten.

Noch während dem Training von Katniss und Johanna haben die Ärzte begonnen, Peeta Freilauf zu gewähren. Jetzt, wo sich der Distrikt in eine leere Höhle verwandelt hat, verbringt er viel Zeit mit uns. Auch wenn das nicht unbedingt bedeutet, dass wir irgendetwas tun. Wir reden, aber vermeiden schwierige Themen. Meistens sitzen wir einfach nur in der verlassenen Kantine und versuchen, die Zeit totzuschlagen. Peeta stellt Fragen und wir versuchen, ihn nicht in Rage zu versetzen. Delly ist auch oft da. Sie hat einen beruhigenden Einfluss auf ihn. Wir anderen sind zwar physisch anwesend, aber irgendwie schafft es keiner, dem gerecht zu werden. Nicht, weil wir nicht wollen. Wir können nicht. Es ist anders als die Besuche in Peetas Zimmer. Realer. Johanna, die bei jedem Versuch unsererseits, ein ernstes Gespräch zu beginnen, wie ein wildgewordenes Tier aufspringt und davonrennt, erinnert mich daran, dass sich nach einem Gespräch nicht mehr einfach nur die Tür schließt und ich weggehen kann. Peeta stellt viele Fragen über die Zeit in Gefangenschaft und das ist für Johanna und Annie gleichermaßen ein Tabuthema. Delly und ich geben uns Mühe, oberflächlichere Gespräche am Laufen zu halten, aber an die meisten erinnere mich abends kaum mehr.

Für eine Weile, ich kann nicht sagen wie lange, sind diese Gespräche in der Kantine alles, was unsere Tage ausmacht. Dann, von heute auf morgen, ist Peeta verschwunden. Kaum jemand weiß, was mit ihm geschehen ist und die, die es wissen, verlieren kein Wort darüber. Johanna und ich hocken in ihrem Krankenzimmer und diskutieren darüber, was wir vielleicht übersehen haben, als Haymitch hereinplatzt. Ich habe ihn seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen, nicht einmal über Nacht. Er sieht schrecklich aus. Wahrscheinlich hat er nicht einmal seine Klamotten gewechselt. Fettige Strähnen kleben an seiner verschwitzten Stirn und die Ringe unter seinen glanzlosen Augen sind stärker als je zuvor. Sein Blick lässt meine Nackenhaare auffahren. Alles rückt in den Hintergrund, als er den Mund aufmacht.

„Peeta ist im Kapitol", sagt Haymitch, seine Stimme so zerrissen, dass ich vom Bett springe und ihm entgegenlaufe. „Coin persönlich hat ihn Katniss' Einheit zugeteilt."

Man hat über Haymitchs Kopf hinweg entschieden, ihn erst einen halben Tag nach Peetas Aufbruch informiert. Mit Absicht natürlich. Haymitch hätte ihn niemals ins Kapitol gehen lassen. Als Plutarch ihm endlich berichtet hat, war Peeta schon seit Stunden in der Hauptstadt. Wir haben keine Ahnung, wie es ihm geht. Alles was wir wissen beruht auf einem Telefonat, das Haymitch mit Katniss führen durfte. Peetas Verfassung ist schlecht. Das Kapitol triggert Erinnerungen, für die er noch lange nicht bereit ist. In Katniss' Anwesenheit zu sein, triggert Erinnerungen, die ihnen beiden zum Verhängnis werden könnten.

Johanna, die seit ihrer fehlgeschlagenen Prüfung eine Achterbahnfahrt an Emotionen durchlebt, rastet aus. Haymitch und ich brauchen zwei weitere Pfleger, um sie ruhigzustellen. Bis dahin hat sie bereits den Großteil ihres Zimmers kurz- und kleingeschlagen. Das Blut an ihren Knöcheln bringt mich zum Würgen und als Haymitch seine Hand nach mir ausstreckt, schlinge ich meine Arme um seinen Hals und presse meine Stirn gegen seine muffige Uniform.

Die Informationen über den Fortschritt des Krieges kommen langsam. Das meiste wissen wir nur, weil wir den Großteil unserer Zeit in der Kantine verbringen, in der es einen Fernseher gibt, der mit dem Notfallsender des Kapitols verbunden ist. Obwohl Haymitch an der Kontrolle des Krieges beteiligt ist, kommt er kaum in Berührung mit Informationen, die Katniss' Team betreffen. Alles was wir wissen ist, dass sie weiter nichts als Propos drehen. Falls diese Informationen überhaupt der Wahrheit entsprechen. Seitdem Coin entschieden hat, Peeta ins Kapitol zu schicken, ist unser Misstrauen gegenüber der Regierung des Distrikts sprunghaft in die Höhe gestiegen.

Ein weiterer Tag und wieder sitzen wir in der leeren Kantine. Johanna hat sich auf einem Tisch ausgestreckt wie eine Katze. Annie und ich sitzen auf beiden Seiten von ihr. An irgendeinem Punkt habe ich angefangen, wieder zu zeichnen. Gelernt im Studium und danach wieder vergessen, ist es über die Jahre der Hungerspiele irgendwann zu einem Hobby geworden. Nur während die Spiele liefen. Ich weiß also nicht, was ich davon halten soll, dass ich gerade jetzt wieder damit angefangen habe.

Johanna hat die Augen geschlossen, ich kritzele irgendetwas vor mich hin und Annie verfolgt abwesend die Bewegungen des Bleistifts, als der Fernseher mit einem leisen Klicken anspringt. Wir drehen die Köpfe. Heute hat sich an der Front nicht viel getan. Umso schneller schlägt mein Herz, als das Bild zu einer Reporterin des Kapitols schaltet. Ungewöhnlich. Normalerweise zeigen sie kurz und knapp die Schäden, während eine Offstimme Fakten über Verluste und Evakuierungsgebiete vorliest.

Die Reporterin zögert nicht, als sie von der Sichtung eines Kampftrupps rund um den Spottölpel Katniss Everdeen berichtet. Wie die Gruppe bis zu einem verlassenen Wohnblock verfolgt wurde, auf den die Kamera nun heranzoomt. Ein Großteil des Hauses liegt in Schutt und Asche. Wie zur Bestätigung schießen sie eine weitere Rakete in den riesigen Trümmerhaufen, der einen Teil des Nachbargebäudes mit in die Tiefe zieht.

Katniss Everdeen ist tot. Mit ihr auch die früheren Kapitollieblinge Peeta Mellark und Finnick Odair." Wieder und wieder zeigen sie die Bilder. Die Reporterin redet und redet, gestikuliert wie wild, ein weites Lächeln auf den Lippen. Doch ich höre nicht, was sie sagt.

Die Nachricht trifft mich wie ein Schlag gegen die Brust. Ich kann nicht atmen. Johanna neben mir hat sich in einem Ruck aufgerichtet und stürzt beinahe vom Tisch, in dem Versuch, die Beine zur Seite zu bewegen. Annie schlägt sich die Hände vor's Gesicht und sinkt in sich zusammen. Ihr Körper wird von Schluchzern auseinandergerissen. Wir sollten sie trösten, aber weder Johanna noch ich sind zu irgendetwas fähig.

In diesem Moment stürmt Haymitch in die Kantine. Sie ist riesig, aber er weiß, wo wir sitzen. Annie schreit ohnehin so laut, dass er uns auch so gefunden hätte. Der Blick auf seinem Gesicht spricht Bände. Da sind keine Tränen in seinen Augen, nein, Haymitch weint nicht. Für gewöhnlich trinkt er, um den Schmerz zu vergessen. Er muss hergelaufen sein, um uns die Nachricht zuerst mitzuteilen. Das Kapitol war schneller.

„Wir haben den Kontakt verloren", ist alles was er sagt, bevor wir uns in die Arme fallen.

Wir halten uns für eine Zeit, die mir vorkommt, wie Stunden. Ich denke zurück an unsere Jahre bei den Hungerspielen. Wir waren nie gut darin, mit Verlusten umzugehen. Damals waren es Kinder, die wir kaum kannten. Damals hat es uns bereits von innen heraus zerfressen. Jahr für Jahr ein bisschen mehr. Jetzt, wo wir eine persönliche Bindung zu ihnen haben, ist es tausend Mal schlimmer. Plötzlich – und diese Erkenntnis kommt Jahre zu spät – verstehe ich wirklich, weshalb Haymitch nie eine Bindung zu ihnen aufbauen wollte. Keine Bindung, kein Schmerz.

Katniss, Peeta, Finnick. Haymitch erzählt mir leise, dass Gale auch unter ihnen ist. Dann muss ich automatisch an Hazelle und die kleine Posy denken und ich kann meine eigenen Tränen kaum zurückhalten. Wären wir allein, wären sie schon längst gefallen. Aber hier neben Johanna und Annie, ist es anders. Ein Teil von mir glaubt, dass es auch für Haymitch so leichter ist. Wir klammern uns aneinander und versuchen, dabei nicht auseinander zu fallen. Was für einen Sinn hat dieser Krieg noch, wenn sie am Ende alle tot sind? Ich will das Ende nicht erleben, wenn keiner von ihnen mehr da ist. Ich habe es viel mehr verdient, zu sterben, als diese Kinder.

Dem Fernseher wird wieder Leben eingehaucht und diesmal ist es Präsident Snow persönlich, dessen Gesicht auf dem Monitor auftaucht.

Johanna, die bisher umhergelaufen ist und alles umgestoßen hat, was nicht niet- und nagelfest ist, hält in ihrer Bewegung inne. Ein tiefes, hysterisches Zischen kommt aus ihrer Kehle. „Du dreckiger Bastard!"

Snow hält eine Rede, in der er den Tod von Katniss, Peeta, Finnick und auch Gale bestätigt. Er sieht zufrieden aus, vielleicht sogar einen Hauch erleichtert. Zumindest so lange, bis das Programm von den Rebellen unterbrochen wird und Coins Gesicht Snows ersetzt. Johanna beginnt nur lauter zu fluchen. Coin hält eine ähnliche Rede, vereinigt dabei jedoch die Distrikte weiter gegen das Kapitol und lobt Katniss in den Himmel. Als hätte das Mädchen ihr tatsächlich etwas bedeutet. Haymitch knurrt verächtlich. Wir alle wissen es besser. Wir wissen, dass sie schon seit Peetas Entsendung auf Katniss' Tod gewartet hat.

„Ich warte schon seit dem Moment unserer ersten Begegnung darauf, dass du an all dem hier zerbrichst. Du hast nie in diese Welt gehört. Und doch ..." Haymitchs Stimme klingt gequält. Er ist so nahe an der Linie, wie ich ihn seit Jahren nicht erlebt habe. Seit seinem eigenen Sieg hat er jeden Schmerz mit Alkohol betäubt. Wie kommt er nun mit ihm klar? „Du überraschst mich, Effie. Ich verstehe nicht, wie du es machst."

Er klingt verzweifelt, so zornig. Ist es also der Zorn, der den Alkohol ersetzt hat? Ich habe genügend Wutausbrüchen beigewohnt, sie teils am eigenen Leib erlebt. Ich bin nicht wie er oder Johanna, die alles um sich herum mit in ihr Chaos hineinziehen. Ich fresse alles in mich hinein und ertrinke an dem Schmerz, leise und allein.

„Ich bin schon vor langer Zeit zerbrochen, Haymitch. Du warst einfach nicht da, um es mitzukriegen." Ich will ihn mit den Worten nicht verletzen, aber sie sind die Wahrheit.

Die folgenden Stunden versetzen mich in eine unangenehme Trance, in der ich mich nicht länger in Distrikt 13, sondern im Kapitol befinde. Es ist eine gewöhnliche Saison der Hungerspiele und unsere Tribute sind wie immer als eine der ersten am Füllhorn gestorben. Der Verlust von Kindern ist allgegenwärtig. Mit einem Mal kann ich mich ganz deutlich an diesen einen Traum erinnern, der mich während des Jubeljubiläums heimgesucht hat. Als Haymitch und ich später schlafen gehen ist es genau dieser, der mich verfolgt. Diesmal verschwinden Katniss und Peeta mit den übrigen Tributen in der Dunkelheit, anstatt weiter meine Hände zu halten. Allein Haymitchs Arme um meinen Körper erinnern mich daran, dass nicht alles so ist wie damals. Manches ist besser, manches dafür schlimmer.

Als die Totmeldungen am nächsten Morgen abrupt zurückgezogen werden, habe ich die schlimmste Nacht seit meiner Entlassung aus der Krankenstation hinter mir. Haymitch geht es nicht besser. Seine eigenen Dämonen scheinen auch keine Ruhe gegeben zu haben. Die Erleichterung bleibt jedoch aus. Der Schock sitzt zu tief, wir sind zu sehr an die Angst gewöhnt, als dass wir sie so einfach abschütteln könnten. Deshalb versuche ich mir einzureden, dass es mich nicht ganz so schwer trifft, als sie Finnick und einen Großteil des restlichen Teams gegen Abend hin dann doch für tot erklären. Die Ereignisse überschlagen sich so schnell, dass ich mir nicht sicher bin, wie viel davon tatsächlich wahr ist. Kann das alles wirklich passiert sein?

Katniss und Peeta leben. Finnick nicht. Finnick ist tot.

Annie hat einen Anfall. Ich habe keine Ahnung, was genau ihr fehlt. Falls es überhaupt etwas Physisches ist; wir bezweifeln es. Sie weint und schluchzt und schüttelt sich. Johanna hat sich in die hinterste Ecke des Krankenzimmers zurückgezogen, mit dem Rücken zu uns. Sie ist nicht davongelaufen. Ich weiß, dass sie nichts lieber tun würde als das. Ich will es auch. Annie anzuschauen, bringt einige unschöne Erinnerungen hoch, die meine Finger unkontrolliert beben lassen. Aber wir können nicht gehen. Wir können sie nicht allein lassen. Nicht jetzt, wo Finnick nie mehr zurückkehren wird, um sich um sie zu kümmern. Wenn ich die Augen schließe, kann ich ihn neben Annies Bett stehen sehen, sein bübisches aber sanftes Lächeln auf den Lippen, wie er ihr durchs Haar streicht und sie beruhigt. Er ist der Einzige, der sie beruhigen kann.

War der Einzige, korrigiert eine leise Stimme in meinem Kopf.

Wir haben so lange davon geträumt, dieses Leben zu führen und jetzt ist es endlich zum Greifen nahe. Plötzlich, obwohl die letzten Wochen wie im Zeitraffer an mir vorbeigeflogen sind, habe ich wieder das Gefühl, in diesem großen Saal neben Finnick zu stehen. Das Leben, das er sich gewünscht hat, war tatsächlich zum Greifen nahe. Aber nicht nah genug.

Wir bleiben so lange bei Annie, wie unsere Nerven es uns erlauben; meistens so lange, bis die Ärzte sie sedieren. Es ist ein reges Kommen und Gehen. Irgendwie pendeln wir den ganzen Tag zwischen ihrem Krankenzimmer und der Kantine hin und her. Jetzt, wo sich der Krieg tatsächlich langsam dem Ende nähert, werden wir alle nervöser. Es wird nicht mehr lange dauern, keine Woche mehr, aber wahrscheinlich nur wenige Tage. Wenn überhaupt. Auch wenn der Kommentator aus dem Kapitol das zu keinem Punkt durchsickern lässt. Er versucht, alles so positiv wie möglich darzustellen. Wenn man bedenkt, dass das Kapitol verliert, erscheint er nicht sehr glaubwürdig. Vor allem, wenn die Rebellen den Notfallkanal gerne unterbrechen, um die Menschen über die für gewöhnlich verschwiegenen Fortschritte der Invasion zu unterrichten.

Johanna und ich sitzen in der leeren Kantine und starren auf den Fernseher. Ich glaube, wir haben heute nur drei Sätze gewechselt. Keinem von uns ist nach Reden zu Mute. Sie stand Finnick ziemlich nah. Aber die Sieger standen sich generell alle sehr nah und die Rebellion hat sie nur noch näher zusammengeschweißt. Ich glaube Finnick war das, was für Johanna einem Bruder am nächsten kam. So wie Finnick für Haymitch wie ein Sohn war.

Johanna flucht und ich zucke zusammen. Snow hält eine weitere Ansprache. Über die Flüchtlinge im Kapitol. Er öffnet seinen Präsidentenpalast für sie. Das Gesicht dieses Mannes reicht aus, um Johanna aufspringen zu lassen. Irgendjemand hat das Chaos aufgeräumt, das sie bei ihrem letzten Wutausbruch hier hinterlassen hat. Natürlich haben sie das, schließlich essen hier noch einige Menschen, auch wenn man sie nun kaum zu Gesicht bekommt.

Das Kapitol in diesem desaströsen Zustand der Zerstörung zu sehen ist schrecklich. Die Stadt, die immerzu gestrahlt und für ihre Extravaganz und Aufgewecktheit bekannt war, hat jeglichen Glanz verloren. Die Menschen aus den Distrikten, von denen die allermeisten zum ersten Mal einen Fuß in die Hauptstadt setzen, zerstören alles, was für ihre Überheblichkeit steht. Alles Schöne, alles Außergewöhnliche. Alles, was ihnen selbst immer verwehrt geblieben ist. Die Straßen sind voller Flüchtlinge. Die Menschen sehen heruntergekommen aus. Doch selbst jetzt sehen es viele, vor allem die aus den inneren Stadtteilen, für notwendig, ihre wertvollsten Habseligkeiten mitzunehmen. Es ist bizarr.

Der Kommentator benennt die neuen Evakuierungszonen und gibt Anweisungen für die Flüchtlinge. Immerzu hoffe ich, irgendwo ein bekanntes Gesicht zu sehen. Jetzt, wo der Krieg meine Heimat zertrümmert, steigt meine Sorge um Aurelia. Die meisten Menschen aus Distrikt 13 haben mich gerade so toleriert. Wahrscheinlich auch nur wegen der Gesellschaft, die ich pflege. Ich muss mich nicht anstrengen, um mir vorzustellen, was sie dann mit Kapitolern machen, die ihnen in der Stadt zufällig vors Visier laufen.

Doch bei den tausenden Flüchtlingen, von denen die Kameras nur einen Bruchteil aufnehmen, erkenne ich das Gesicht meiner Schwester nirgends. Der Bezirk, in dem Caius und sie wohnen, ist nicht Teil der Evakuierungszone, weshalb ich sie in Sicherheit wiege. Der Teil, in dem ich mit meiner Familie großgeworden bin und wo auch meine eigene Wohnung steht, war gestern an der Reihe. Mein Herz blutet und irgendwie schäme ich mich dafür. Das Kapitol hat so viel Leid gebracht und trotzdem kann ich nicht anders, als über den Zustand der Stadt traurig zu sein. Es ist immer noch meine Heimat. Alle meine Erinnerungen liegen dort. Viele schlecht, aber viele gut; auch wenn diese weit in der Vergangenheit liegen.

Schritte hallen durch die weite Halle der Kantine, aber weder Johanna noch ich drehen den Kopf. Nicht weil wir zu fokussiert auf den Bildschirm wären, sondern einfach, weil uns das Interesse fehlt. Erst als sich Haymitch direkt vor uns aufbaut und die Sicht auf den Monitor verdeckt, schenken wir ihm Beachtung.

Für eine lange Sekunde wechseln Haymitch und ich einen Blick und wieder habe ich das Gefühl zu fallen; wieder habe ich das Gefühl, dass mir ein Schauer den Rücken herunterläuft. Schlechte Nachrichten. Es gibt in dieser Welt nichts mehr außer schlechte Nachrichten.

Haymitch öffnet den Mund, aber Johannas schnippische Stimme kommt ihm zuvor. „Was auch immer es ist, es ist uns egal. Halt einfach die Klappe und verschwinde." Die Frustration in ihr scheint kurz davor, überzuschwappen. Sie ist in einer neuen Phase des Entzugs und dass gerade alles um uns herum auseinanderfällt, macht es nicht besser.

„Effie, geh in unser Quartier und hol die Tasche, die im Schrank liegt. Pack alles ein, was du mitnehmen willst. Kleidung, Hygiene, was auch immer. Aber beeil dich. Johanna, du auch. Geh und pack deine Sachen. Wir verschwinden. Jetzt sofort."

Das Schweigen, das folgt, fühlt sich erdrückend und erleichternd zugleich an.

„Jetzt sofort?", wiederholt Johanna, verblüfft, dass der Zeitpunkt, über den wir schon so lange reden, endlich gekommen ist.

„Jetzt sofort", antwortet Haymitch und schaut hektisch auf seine Uhr. „Wir treffen uns in fünfzehn Minuten am Hangar."

Haymitch verschwindet in Richtung Hangar und Johanna und ich laufen zu unseren Quartieren. Es ist vorbei. Der Krieg ist vorbei. Wir fliegen ins Kapitol. Das hier sind unsere letzten Minuten in Distrikt 13.

Als ich in unserem Zimmer ankomme, weiß ich natürlich, welche Tasche Haymitch meinte. Wir haben oft genug über diese Vorkehrungen gesprochen. Es war von Anfang an klar, dass der Aufbruch ins Kapitol ein schneller Prozess sein würde, falls die Distrikte den Krieg gewinnen sollten. Es gibt kaum etwas einzupacken. Außer der Kette und den Ohrringen, die Haymitch mir vor Finnicks und Annies Hochzeit geschenkt hat, habe ich hier keine persönlichen Gegenstände. Die Kette habe ich seit dem Tag nicht abgelegt und die Ohrringe ziehe ich nur nachts aus.

Der Hangar ist voller grauer Menschen, aber es herrscht kein Chaos. Jeder weiß, wo er hinmuss. Die restliche Flotte von Distrikt 13 wird ins Kapitol abrücken. Haymitch findet mich, bevor ich ihn finde. Dann taucht Johanna an meiner Seite auf und wir betreten das größte Hovercraft. Coin und Plutarch und die Berater der Präsidentin sind bereits anwesend. Sie haben das Kontrollzentrum auf die Brücke des Schiffs verlegt. Ein riesiger Raum mit Blick nach vorn. Die Wände, die nicht aus Glas bestehen, sind mit Monitoren zugepflastert. Auf jedem läuft eine andere Szene des Kriegs; die Gefechte laufen noch.

Die Flotte hebt pünktlich wie ein Uhrwerk ab. Der Flug wird knappe drei Stunden dauern. Die Vorstellung, dass ich in nur drei Stunden wieder dort, wieder im Kapitol sein werde, ist unbegreiflich. Die Vorstellung, dass bald alles vorbei sein könnte, ist unbegreiflich.

Haymitchs Finger schließen sich um meine, während wir neben einem der Fenster stehen und nach draußen schauen. Wälder und Felder, nichts als das. Kein Anzeichen von Leben. Kein Anzeichen von Krieg. Das mulmige Gefühl in meinem Magen sagt mir, dass sich das bald ändern wird. Ich drücke Haymitchs Hand fester und sein Daumen beginnt, Kreise auf meinen Handrücken zu zeichnen.

„Wir haben gewonnen", flüstert Johanna. Ihre Stimme klingt weit entfernt, heiser und ungläubig. Als würde sie darauf warten, jede Sekunde aus einem Traum zu erwachen. Die Rückkehr scheint nicht nur bei mir gemischte Gefühle auszulösen. Den Rebellen um uns herum geht es anders. Die sonst steifen, zurückhaltenden Menschen aus Distrikt 13 geraten alle ein wenig in Ekstase. Das hier ist, worauf sie seit 75 Jahren hinarbeiten.

„Noch haben wir gar nichts", erwidert Haymitch gereizt.

"Gibt es wieder Kontakt zu Katniss' Team?", frage ich leise. Haymitch schüttelt den Kopf und dann schweigend wir; lauschen den hektisch fröhlichen Menschen um uns herum, die sich alle auf das Ende vorbereiten. Auf das Ende und den Neuanfang. Ich frage nicht, weshalb wir bereits auf dem Weg sind, wenn die Schlachten offenkundig noch laufen; ich lehne einfach nur meinen Kopf gegen Haymitchs Schulter.

Das Ende kommt eine Stunde darauf. Unerwartet und anders. Bilder, die Albtraumpotenzial haben. Bilder, die weder Haymitch noch Johanna oder mich schockieren, weil sie für viele Jahre Alltag für uns gewesen sind. Schmerzen tut es trotzdem nicht weniger. Selbst die Rebellen um uns herum halten inne und starren gebannt auf die Bildschirme; verfolgen, wie die Barrikade aus Kindern vor dem Präsidentenpalast von den Bomben zerrissen wird, die ihnen in Form von Fallschirmen entgegensegeln. Fallschirme, die jedem aus den Hungerspielen vertraut sind, aber für Gewöhnlich nicht mit dem Tod einhergehen.

„Jetzt schlachtet Snow schon Kapitolkinder ab, um seinen Arsch zu retten", bringt Johanna hervor, Ekel und Zorn schwingen in ihrem Ton mit; aber keine Überraschung.

Eine zweite Welle von Bomben detoniert und jetzt zucken selbst wir überrascht. Wer die erste Explosion überlebt hat, ist spätestens jetzt tot. Es sind nicht mehr nur Kinder, sondern auch Sanitäter und Soldaten aus beiden Lagern, die den Fallschirmen zum Opfer fallen. Keine Seite scheint so grausam zu sein, als dass sie den Kindern nicht hätten helfen wollen. Nun sind auch sie nicht länger.

Ich will weinen, ich will schreien, ich will zusammenbrechen. So viele sinnlose verlorenen Leben. Was ist der Sinn des Lebens, wenn es so verläuft? Furcht und Wut und Krieg und Tod.

Das Kapitol legt die Waffen nieder, noch bevor wir den Boden erreichen. Krieg ist Krieg, aber Kinder zu opfern, ist selbst für viele Friedenswächter ein Schritt zu weit. Wie ironisch. Snow hat sich nun auch in den Augen der Kapitoler in einen Mörder verwandelt. Coins Gesicht sieht ziemlich zufrieden aus, als die Nachricht kommt, dass der Präsidentenpalast gestürmt und Snow festgenommen wurde.

Erst als das Hovercraft einen Außenposten des Kapitols erreicht und wir das Schiff über eine Rampe verlassen; erst als sich in der Ferne die glitzernde Skyline der Hauptstadt vor uns auftut, beginnt Haymitch zu sprechen. Seine Hand ist immer noch mit meiner verschränkt, als er die Worte hervorbringt. Sie klingen verbittert und wütend und aussichtslos zugleich.

„Nicht Snow hat diese Fallschirme abgeworfen. Wir waren das."


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Hi,

sorry dass ich so lang auf mich hab warten lassen. Ich war im Urlaub zwischendurch. Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen!

LG

Skyllen :)

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