50. Love of Stars and Sea
Love of Stars and Sea
Der Saal, in dem die Feierlichkeiten der Hochzeit stattfinden, ist groß genug, um mindestens doppelt so viele Menschen zu beherbergen als tatsächlich kommen. Nicht jeder in Distrikt 13 hat eine Einladung erhalten; eigentlich nur die Wenigsten. Für Präsidentin Coin ist die Vermählung von Finnick und Annie nichts weiter als ein zusätzliches Propo, mit dem sie Snow die Einigkeit der Distrikte unter die Nase reiben kann. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte es gar keine Feier gegeben. Zum Glück hat Plutarch einen gewissen Einfluss auf sie. Ich kann sie ohnehin nicht leiden, aber wenn sie Finnicks Tag mit ihrer Besessenheit für Rationierung und Disziplin versaut hätte, dann hätte ich sie wahrscheinlich gänzlich verabscheut.
Ein Lächeln schleicht mir aufs Gesicht, als ich den Saal betrete. Haymitch und Plutarch haben die Pläne von Johanna und mir tatsächlich nicht schlecht umgesetzt. Zwei Blöcke an Stuhlreihen nehmen den hinteren Teil der länglichen Halle ein. In der Mitte der Stühle verläuft ein Gang bis hinauf zu einem Torbogen aus Farnen und Blumen, die Katniss und Gale von ihrem letzten Jagdausflug mitgebracht haben. An den Wänden hängt Dekoration, die die Kinder aus 13 in der Schule gebastelt haben. Hinter den Stühlen ist der Großteil der Fläche frei, bis auf einen rechteckigen Tisch mit Tellern und Besteck, der gegen die rechte Wand gerückt wurde. Beetee hat für die passende Stimmung gesorgt und den Saal in ein dämmriges, gelbliches Licht getaucht. Es ist nicht viel, aber alles, was wir in 13 auf die Beine stellen konnten.
Viele Gäste sind bereits eingetroffen und die Reihen füllen sich. Ich entdecke die Präsidentin mit Plutarch an ihrer Seite, die in einer der ersten Reihen platznimmt. Einige bekannte Gesichter aus Distrikt 12 schwirren umher. Die kleine Posy, die alte Sae. Haymitch versteckt sich wahrscheinlich noch in irgendeinem Vorraum, weil er erst gemeinsam mit Finnick und Annie den Saal zu Beginn der Zeremonie betreten wird. Johanna und Katniss sitzen zwei Reihen hinter Coin und ich steuere auf sie zu.
Ich laufe durch den Mittelgang und betrachte den Torbogen. Er ist wirklich schön geworden. Ich bin fast an ihrer Reihe angekommen, als meine Augen die Kameracrew wahrnehmen, die umherläuft und die besten Winkel für die Zeremonie auskundschaftet. Ihr Anblick stimmt mich nachdenklich. Ich weiß, was Plutarch und Coin mit ihrem Propo bezwecken wollen, aber ich frage mich, ob sie sich nicht vielleicht in etwas verrannt haben. 13 könnte jede Mühe in diese Hochzeit stecken und trotzdem würde sie nie das Level einer Feier im Kapitol erreichen. Niemand feiert so exzentrisch wie das Kapitol. Ich fürchte mich davor, dass die Leute über das Propo lachen werden, anstatt es ernst zu nehmen. Noch ist die Hauptstadt nicht eingenommen, noch wähnen sich ihre Bewohner in Sicherheit. Ich glaube nicht, dass sie die eigentliche Nachricht des Propos erkennen werden. Sie werden sich auf die Oberflächlichkeiten stürzen, so wie sie es immer schon getan haben.
„Da bist du ja, Trinket", ruft Johanna in diesem Moment und hebt ihre Hand in einer Geste, die kein wirkliches Winken aber trotzdem eine Begrüßung ist. Sie grinst zu mir herüber und ich lächele leicht als ich die Stuhlreihe hindurchgehe und mich neben sie setze. Ihr Blick wandert von meinem Gesicht herunter zu meiner Brust und sie weitet die Augen. Im selben Moment legt sie den Kopf in den Nacken und beginnt zu lachen. „Haymitch hat dich wirklich so krass am Haken."
Katniss' dunkle Augen folgen Johannas und sie fasst sich beinahe instinktiv an den eigenen Hals, greift jedoch nur Luft. Ich bin mir sicher, dass sie Peetas Amulett unter ihrer Uniform trägt. Versteckt über ihrem Herzen.
Ich will gerade etwas auf Johannas Necken erwidern, als allgemeines Schweigen durch den Saal huscht. Neben dem Altar beginnt Musik zu spielen. Wir drehen den Kopf synchron nach vorn, wo eine kleine Gruppe sich rechts neben den Bogen gestellt hat. In ihrer Mitte steht ein dunkelhäutiger Mann mit einer Geige in den Händen, dessen Bogen in federleichten Bewegungen über die Saiten des hölzernen Instruments fliegt. Seine Haut ist vom Alter gezeichnet und eine lange Brandwunde an seinem Hals lässt darauf schließen, dass er Flüchtling aus einem anderen Distrikt sein muss. Um ihn herum hat sich eine Gruppe an Kindern positioniert und mein Herz wird automatisch schwer, wenn ich daran denke, wie wenige von ihnen es hier in 13 gibt.
Die Musik haben weder Johanna noch ich organisiert, doch irgendjemand muss daran gedacht haben. Es ist das erste Mal seit mindestens einem Jahr, dass ich ein echtes Instrument zu Gesicht kriege. Die Melodie ist simpel, aber den Blicken der Gäste um mich herum zu urteilen, scheinen einige von ihnen sie wiederzuerkennen. Sie neigen rhythmisch die Köpfe hin und her und Lächeln breiten sich auf ihren Lippen aus, während sie lauschen.
Die Türen zum Saal schließen sich mit einem mechanischen Ton und die Mädchen und Jungen erheben ihre Stimmen zu einem lieblichen Gesang, als die geeinte Menge sich nach hinten dreht, um die drei Personen in Augenschein zu nehmen, die gerade den Raum betreten haben. Haymitch fällt mir zuerst ins Auge. Er steht einige Schritte vor dem Brautpaar, mit durchgestrecktem Rücken und wirkt hochkonzentriert. Man sieht ihm an, dass ihm die viele Aufmerksamkeit missfällt. Finnick und Annie hingegen scheinen von innen heraus zu strahlen. Annie trägt ein grünes Seidenkleid, eines von Katniss' von der Tour der Sieger, und es scheint wie angegossen zu passen. Ihr rötliches Haar funkelt im Kontrast zu dem dunklen Grün, das beinahe dieselbe Farbe wie der Farn im Bogen hat und ein zufriedenes Lächeln umspielt ihren Mund. Finnick sieht genauso glücklich aus wie sie, mit funkelnden meergrünen Augen, gekleidet in einem schwarzen Anzug. Wahrscheinlich Peetas. Eine Sekunde lang sticht mein Herz bei dem Gedanken an ihn. Er sollte hier sein.
Finnick und Annie bewegen sich und erst da bemerke ich das feine Netz, das sie beide bedeckt. Geknüpft aus langem Gras liegt es über ihren Köpfen, bis hinab zu ihren Füßen. Haymitch dreht sich ein letztes Mal zu ihnen um und schreitet dann zwischen den beiden Stuhlreihen nach vorn zum Bogen. Seine Augen fahren über die Menschen, bis er Katniss, Johanna und mich findet und sein Mund verzieht sich zu einem zufriedenen Schmunzeln.
Am Altar angekommen, wendet Haymitch sich dem Brautpaar zu, die ihm langsam nach vorne folgen und einen Meter vor ihm zum Stehen kommen. Schulter an Schulter. Finnick ragt neben Annie in die Höhe. Die Stimmen des Kinderchors verstummen und mit ihr verfliegt die Melodie des Geigenspielers, bis sie nichts als ein kaum hörbares Wispern ist.
Haymitch räuspert sich und sein Blick fällt auf Annie, deren Gesicht ich nun nicht mehr sehen kann, weil sie dem Publikum den Rücken zugewandt hat. „Annie Cresta, Tochter des niemals endenden Wassers und des endlosen Himmels. Als ein Kind aus Distrikt Vier hast du unter den Sternen und neben den Wellen des Meeres das Antlitz dieser Welt erblickt. Nun hast du dich entschieden, im Beisein deiner Familie den Bund der Ehe einzugehen." Eine Sekunde lang hält Haymitch inne und lässt die Kraft seiner Worte sinken. Dann räuspert er sich und seine grauen Augen verdunkeln sich, als er fortfährt. „Du hast mich ausgewählt, als Teil dieser Familie dieses heilige Ritual zu begleiten." Annie nickt und streckt ihre Hand aus. Haymitch öffnet seine eigene, die er bis dahin verschlossen gehalten hat und legt ein kleines schwarzes Säcken in ihre Handfläche.
Dann dreht Haymitch sich zu Finnick und wiederholt seine Worte. „Finnick Odair, Sohn des niemals endenden Wassers und des endlosen Himmels. Als ein Kind aus Distrikt Vier hast du unter den Sternen und neben den Wellen des Meeres das Antlitz dieser Welt erblickt. Nun hast du dich entschieden, im Beisein deiner Familie den Bund der Ehe einzugehen. Du hast mich ausgewählt, als Teil dieser Familie dieses heilige Ritual zu begleiten." Nun ist es Finnick, der nickt und seine Hand ausstreckt, in die Haymitch ein identisches Säckchen legt.
„Euer Bund wird von den beiden Tüten an Sand repräsentiert, die ihr nun in den Händen haltet", fährt Haymitch fort und greift nach einer gläsernen Schüssel, die auf dem Altar steht. „Eine Tüte repräsentiert dich, Annie Cresta, und eine repräsentiert dich, Finnick Odair, und alles, was ihr wart, alles, was ihr seid und alles was ihr sein werdet. Bitte mischt den Sand."
Haymitch hält Finnick und Annie die Schüssel hin. Das Paar öffnet die Schleifen der Säckchen und schüttet den Sand, den es enthält, gleichzeitig in die Schüssel. Ihre Lächeln weiten sich, als kein Sand mehr da ist, den man vermischen könnte. Der Ausdruck in Haymitchs Augen ist so weich, wie ich ihn selten erlebt habe. „Da ihr den Inhalt eurer Beutel in einen dritten Behälter geschüttet habt, existieren die individuellen Behälter an Sand nicht länger. Sie sind nun eins, genauso wie diese Sandkörner niemals wieder voneinander getrennt werden können."
Mit der Schüssel voll Sand in den Händen dreht Haymitch sich zum Altar, stellt diese dort ab und greift nach einer gläsernen Karaffe, die zur Hälfte mit Wasser gefüllt ist. Finnick schaut hinab zu Annie und streckt seine Hand aus, welche sie ohne zu zögern greift, als Haymitch das Wasser in die Schüssel gießt. Dann treten sie direkt unter den Bogen vor.
„Mögen eure getrennten Leben wie die sieben Meere zu einem verschmelzen und möge eure Liebe um euch wirbeln, wie die sich ändernden Gezeiten." Haymitch hält inne und starrt für einen Moment auf die Schüssel, ein unlesbarer Ausdruck auf seinem Gesicht. Das Schweigen der Menge ist beinahe greifbar. Sie lehnen sich nach vorn, als würden sie keine Silbe verpassen wollen. Selbst Johanna scheint fasziniert von den Bräuchen aus Distrikt 4 zu sein; ihre desinteressierte Einstellung vergessen.
„Jetzt ist die Zeit gekommen, eure Schwüre auszutauschen", sagt Haymitch schließlich und lächelt Annie an, was so untypisch für ihn ist, dass ich ihn kaum wiedererkenne.
Mein Herz beginnt zu schmelzen, als Annie und Finnick sich einander zudrehen und sich an den Händen nehmen. Annie muss ihren Kopf weit in den Nacken legen, um Finnick in die Augen schauen zu können, aber es scheint sie nicht zu stören. Ihr Gesicht strahlt, als sie den Mund öffnet, um die Worte auszusprechen, die sie für immer aneinanderbinden werden. „Ich, Annie Cresta, stehe in dem niemals endenden Wasser und unter dem endlosen Himmel, um zu schwören, dass ich den Bund der Ehe mit dir, Finnick Odair, eingehen möchte. Im Beisein unserer Familien, lebend und verstorben gleichermaßen, versichere ich, dass ich den Rest meines Lebens an deiner Seite verbringen, dich ehren und respektieren und in jeder Notlage zu deiner Hilfe eilen möchte." Annie taucht ihre Finger in das Wasser der Schüssel und drückt sie dann sanft gegen Finnicks Lippen. „Als Frau aus Distrikt Vier will ich unter den Sternen und neben den Wellen des Meeres verkünden, dass ich heute und für alle Zeit dein sein werde."
Tränen laufen mir über die Wangen, als Finnick seine feuchten Lippen öffnet, um seinen eigenen Schwur zu leisten. Haymitchs Augen treffen meine über das Brautpaar hinweg und ich sehe, wie schwer es ihm fällt, seine Gefühle herunterzuschlucken. Im Beisein unserer Familien, lebend und verstorben gleichermaßen. Ich habe keine Ahnung, ob Annie die Phrase verändert hat oder sie tatsächlich immer so war. Aber ich weiß, wie viel sie den beiden und auch Johanna, Katniss und Haymitch bedeuten muss. Im Beisein jener, die wir von Herzen lieben, die heute jedoch nicht mehr unter uns weilen, ohne die wir heute nie hier stehen würden. Die Abwesenheit von Mags hängt in der Luft. Chaff, Rue und die vielen anderen Menschen, deren Opfer der Rebellion den Weg geebnet haben.
„Ich, Finnick Odair, stehe in dem niemals endenden Wasser und unter dem endlosen Himmel, um zu schwören, dass ich den Bund der Ehe mit dir, Annie Cresta, eingehen möchte. Im Beisein unserer Familien, lebend und verstorben gleichermaßen, versichere ich, dass ich den Rest meines Lebens an deiner Seite verbringen, dich ehren und respektieren und in jeder Notlage zu deiner Hilfe eilen möchte. Als Mann aus Distrikt Vier will ich unter den Sternen und neben den Wellen des Meeres verkünden, dass ich heute und für alle Zeit dein sein werde." Finnicks nasse Finger streichen liebevoll über Annies Mund und der Blick seiner tiefgrünen Augen ist unendlich sanft.
Finnick und Annie lehnen sich einander entgegen und ihre Lippen legen sich aufeinander, als hätten sie eine ewig lange Zeit darauf warten müssen, sie endlich zu vereinen. Während sie sich küssen, ihren ersten Kuss in der Ehe miteinander teilen, greift Haymitch nach dem Netz, welches immer noch auf ihren Körpern liegt und zieht es fort.
„Ihr habt eure Lippen mit Salzwasser befeuchtet, eure Schwüre gesprochen und euren Sand vermischt. Also seid ihr hiermit und für immer Ehefrau und Ehemann", bringt Haymitch mit rauer Stimme hervor.
Wie aufs Stichwort, beginnt der Geigenmann wieder zu spielen. Diesmal ein anderes Lied, das nur in den Flüchtlingen aus Distrikt 4 Erinnerungen zu wecken scheint. Die Kinder singen ein Lied, dessen Worte alt klingen und dessen Inhalt von einer Hochzeit im Ozean handelt. Finnick reicht Annie seinen Arm und Seite an Seite spazieren sie zwischen den Menschen hindurch, die sich von ihren Stühlen erheben und zu klatschen beginnen, als das Paar an ihnen vorbeischreitet. Dann treten sie selbst aus den Stuhlreihen in den Mittelgang und folgen ihnen zur freien Fläche des Saals, wo sie ihren ersten Tanz beginnen.
Es hat den Anschein, als wären die dreihundert Gäste gar nicht da. Finnick hat seine Arme um Annies Hüfte gelegt und führt sie harmonisch im Kreis. Die dunkelgrüne Seide ihres Kleides schwingt vor und zurück, während sie ihm folgt. Die Augen jeweils in denen des anderen verschlungen, scheinen sie die Außenwelt völlig auszublenden. Gerade gibt es nur sie, nur Finnick und Annie.
Als ihr Tanz zu Ende ist, wird das Paar von allen Seiten beglückwünscht. Aus der lieblichen Ballade entspringt ein schnelleres, rhythmisches Volkslied und die Menschen strömen vermehrt auf die freie Fläche, um zu tanzen. Sie halten sich an den Händen und tanzen im Kreis, klatschen und drehen sich und lachen, als gäbe es keinen Krieg.
Johanna, Katniss und ich warten, bis der Großteil seine Glückwünsche übermittelt hat, bevor wir uns zu Finnick und Annie gesellen. Wenn man nicht gewusst hätte, wer heute geheiratet hätte, dann hätte man es allein anhand ihrer leuchtenden Gesichter erraten. Johanna überrascht sowohl mich als auch Katniss, als sie Finnick umarmt und ihn für den Bruchteil einer Sekunde an sich drückt. Sie löst sich so schnell von ihm, dass nur der fragende Blick, den Katniss mir zuwirft, mir Gewissheit gibt, dass ich es mir nicht eingebildet habe. Auf ihren Lippen spielt ihr typisches Grinsen und sie klopft Annie leicht auf die Schultern. Katniss murmelt eine Gratulation und nickt beiden zu.
Finnicks strahlende Augen schweifen zu mir und eine Erinnerung durchzuckt mich, als ich seinen Blick erwidere. Ich ziehe ihn in meine Arme, oder er mich, weil er größer als wir alle ist und richte seine Krawatte. Ein Reflex, der mir nach meiner Gefangenschaft wohl nicht abhandengekommen ist. „Ich bin so stolz auf dich, Finnick", flüstere ich und spüre, wir meine Kehle sich zuschnürt. Tränen in meinen Augenwinkeln drohen überzulaufen, aber ich blinzele sie fort. Ich tätschele Annies Arm einmal und sie erwidert mein Lächeln. Sie und ich sind uns nicht mehr ganz so fremd wie zu unserer Ankunft in 13. „Ich freue mich so sehr für euch beide. Ich übermittle auch Glückwünsche von Peeta."
„Vielen Dank, Effie", sagt Annie und drückt mein Handgelenk in einer erwidernden Geste.
„Ich bin froh, dass ihr alle dabei sein konntet", fügt Finnick hinzu und grinst in die Runde, obwohl ich ihm in den Augen ablesen kann, dass er sich tatsächlich lange mit dem Thema befasst haben muss. Ohne das Jubeljubiläum und die darauffolgende Rebellion hätten Annie und er nur vor Mags heiraten können. Keinem der anderen wäre es erlaubt gewesen, sie in Distrikt 4 zu besuchen und der Zeremonie beizuwohnen.
Johanna beginnt etwas zu erwidern. Irgendetwas über Hochzeiten und das Kapitol. Annie kichert und selbst Katniss' Lippen verziehen sich amüsiert. Ich höre nicht wirklich hin, denn meine Gedanken wandern zurück zum Jubeljubiläum, zur Zeit vor der Rebellion. Ich frage mich, ob das je aufhören wird oder ob ich immer ein wenig nostalgisch zurückschauen werde.
„Du bist mir immer ein guter Freund gewesen, Finnick", murmele ich leise, als Johanna gerade in eine andere Geschichte ausschweift. „Du warst mein erster richtiger Freund in der Gruppe. Sie haben mich alle verabscheut und wie Luft behandelt. Nur du nicht. Ich bin dir unendlich dankbar dafür."
Finnick schaut zu mir herab und seine Lippen heben sich. Er verschränkt die Arme vor der Brust und legt den Kopf in den Nacken, als würde er nachdenken. „Ich war vierzehn, als ich meine Spiele gewonnen habe", sagt er, als wäre es etwas, das nicht bereits die ganze Welt wüsste. „Als sie mich im Jahr nach meinem Sieg ins Kapitol geschleppt haben, um die Kinder zu betreuen war ich vollkommen unvorbereitet. Mags war natürlich da, aber ich war trotzdem verloren. Ich weiß nicht, wie viel Haymitch dir je darüber erzählt hat, in der Arena zu sein." Er hält inne und schmunzelt. „So wie wir ihn kennen, wahrscheinlich nicht sonderlich viel. Selbst allein unter Siegern hat er kaum etwas darüber verloren."
„Die Arena war immer ein Tabuthema für ihn", gebe ich zu.
„Ich weiß nicht, wo ich heute ohne Mags und Haymitch wäre", fährt Finnick fort und nun liegt ein trauriger Ausdruck in seinen grünen Augen. „Ich war den Menschen im Kapitol näher als die meisten anderen Sieger. Viele von meinen Kunden waren nicht ... böse. Sie hatten einfach ein völlig verdrehtes Bild von Moral. Aber wie auch, wenn alle um einen herum nicht anders sind? Ich konnte euch Kapitoler nicht hassen, nicht so wie Haymitch oder Johanna es getan haben."
„Vielleicht ist das nicht das passende Thema heute", schlage ich vor und schaue zu Johanna, Katniss und Annie, die kaum von uns entfernt stehen, aber in einer ganz anderen Bubble zu sein scheinen. „Du hast, geheiratet Finnick!" Meine Stimme klingt ein wenig atemlos, als könnte ich es noch gar nicht glauben.
„Mein Punkt ist nur, dass ich damals nett zu dir war, weil ihr mir leidgetan habt. Ihr Kapitoler wusstet es einfach nicht besser.", erklärt Finnick schließlich und wirft mir einen fast entschuldigenden Blick zu. „Ich habe nicht erwartet, dass wir Freunde werden, Effie. Aber nicht nur Mags und Haymitch haben mir geholfen, am Leben zu bleiben. Du auch."
Meine Wangen erröten bei dem Kompliment, das ich ziemlich sicher nicht verdient habe. Ich mag ihm geholfen haben, aber wie vielen anderen Kinder nicht? Finnick und ich sind über die Jahre gute Freunde geworden. Ich habe mich um ihn gekümmert, als wäre er mein eigener Sieger. Unsere Kinder sind immer früh gestorben und mit einem betrunkenen Mentor, der meine Hilfe ohnehin nicht wollte, gab es nicht viel anderes für mich zu tun. Ich werde die Nacht, in der er mit Bluterguss im Gesicht bei uns im Penthouse aufgetaucht ist, nie vergessen. Er hat dringend Hilfe gebraucht und seitens des Kapitols gab es kaum jemanden, der sich tatsächlich um sein Wohlergehen gesorgt hätte. Seine eigene Eskorte miteingeschlossen.
„Ich bin euch allen dankbar für das friedliche Leben, das Annie und ich haben können. Keine Unterdrückung mehr, keine Hungerspiele mehr, kein Sterben mehr." Finnick sieht zufrieden aus. Seine Augen ruhen mit solcher Hingabe auf Annie, dass nicht mal ein Blinder seine Liebe leugnen könnte. „Ich fühle mich schuldig, es zuzugeben, weil so viele für unseren Traum sterben mussten. Vor allem bei Mags. Aber es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich unglücklich bin. Ich bin so erleichtert, dass die Rebellion erfolgreich ist; dass wir den Krieg gewinnen werden. Wir haben so lange davon geträumt, dieses Leben zu führen und jetzt ist es endlich zum Greifen nahe."
„Du musst dich nicht schuldig fühlen", erwidere ich und tätschele sanft seinen Rücken. Mein Blick folgt seinem und für einige Minuten beobachten wir die Drei. Johanna und Katniss sehen zufrieden aus, mehr oder minder zumindest. Annie strahlt. Mein Lächeln wird breiter. „Das mag komisch klingen, aber Johanna hat letztens etwas sehr Weises zu mir gesagt. Wir dürfen erleichtert über die Entwicklung der Dinge sein, ohne uns schuldig für die Toten fühlen zu müssen. Es waren nicht wir, die die Entscheidungen gefällt haben, all diese Verbrechen zu begehen. Wir waren selbst nur Schachfiguren. Wir haben ein Recht darauf, glücklich zu sein." Ich erwähne nicht, dass es mir meistens selbst schwerfällt, mich daran zu halten. Aber meine Position in diesem Netz aus Gräueltaten ist ohnehin eine andere.
Finnicks Grinsen weitet sich und er beginnt zu lachen. „Das hat Jo gesagt?", fragt er ungläubig. „Ich wusste gar nicht, dass sie so tiefgründige Gedanken hat."
Ich schnaube empört und schlage ihm spielerisch mit der flachen Hand auf den Arm. „Also wirklich, Finnick, wie unhöflich."
„Du hast recht", kichert Finnick und beobachtet mich mit einem dieser belustigten Blicke, die er und Johanna mir früher immer zugeworfen haben, wenn sie erfolglos versucht haben, sich über mich lustig zu machen. „Ich sollte sofort rübergehen und mich entschuldigen. Jo!"
Johanna dreht sich mit gehobenen Brauen zu uns und setzt ein verwundertes Gesicht auf, als Finnick mit gehobenen Armen und theatralisch betrübtem Gesicht auf sie zumarschiert. „Was zur-"
„Es tut mir so unendlich leid, Jo!" Finnick verbeugt sich vor Johanna und ich breche in Gelächter aus. Johannas Augen verkleinern sich misstrauisch zu Schlitzen, während Annie das Szenario verfolgt, als wäre sie solche Dinge von Finnick gewöhnt.
„Katniss schmollt vor sich hin, Johanna und Finnick zanken sich und du bist irgendwie darin verwickelt", murmelt in diesem Augenblick eine Stimme an meinem Ohr. „Manche Dinge scheint auch eine Rebellion nicht zu ändern."
Ich drehe mich zur Seite, um Haymitchs breitem Schmunzeln zu begegnen. Er schaut nicht zu mir, sondern auf die anderen Sieger und sieht ziemlich zufrieden aus. Ich erlebe ihn selten so unbeschwert, ohne jegliche Mauern um ihn herum. Als er den Kopf schließlich mir zuwendet, hebt er die rechte Hand und berührt mit seinen Fingern meinen linken Ohrring. Ganz kurz nur, als würde er nicht wollen, dass ihn jemand dabei erwischt. Doch der sorglose Ausdruck verschwindet nicht.
„Lust zu tanzen?", fragt Haymitch unverblümt und ich muss mehrmals blinzeln, um die Bedeutung seiner Worte zu registrieren.
„Du willst freiwillig tanzen?", schieße ich halb ernst halb vergnügt zurück. „Das scheint die Rebellion dann wohl verändert zu haben."
Haymitch verdreht die Augen und greift nach meiner Hand, um mich von den anderen wegzuziehen. „Ich dachte mir, dass es dir gefallen würde", brummt er, lässt aber nicht locker. Wir schlängeln uns zwischen der grauen Menschenmenge hindurch, bis wir den Rand des Saals erreichen. Haymitch dreht sich zu mir um und einen Moment lang schauen wir uns einfach in die Augen, abseits der tanzenden und lachenden Leute; abseits all der Gäste hier im Raum. Dann umfasst seine rechte Hand meine Hüfte und er zieht mich näher zu sich heran, während er seine andere Hand in die Höhe hebt, die immer noch mit meiner verschränkt ist.
Haymitchs Füße beginnen sich über den Boden zu bewegen und tragen mich mit sich. Langsamer als der hektische Rhythmus, den der Geigenmann anspielt. Es ist ein anderer Tanz. Ein Tanz, den man hier in 13 nicht tanzen würde, weil er zu förmlich, zu abgehoben ist. Ein Tanz, den wir gemeinsam im Kapitol getanzt haben. Einmal in unserem ersten gemeinsamen Jahr und einmal in unserem Letzten.
Alles was ich sehe ist Haymitchs Gesicht, welches nur Zentimeter von meinem eigenen entfernt ist. Die Musik ist nur ein fernes Rauschen, genauso wie die Menschen und Lichter um uns herum. Da sind nur er und ich und die Erinnerungen, die dieser Tanz mit sich bringt, weil er plötzlich etwas Fremdes hat, obwohl ich ihn seit meiner Kindheit beherrsche. Ich schaue hoch zu Haymitch und auf einmal ist da wieder der Kloß im Hals; diese falsche Wehmut, die mir die Kehle zuschnürt.
Das Lied geht zu Ende und einige Sekunden stehen wir einfach nur da, Körper an Körper, die Blicke ineinander verhakt. Ich warte auf den sarkastischen Kommentar. Tänze mit Haymitch enden immer mit einem sarkastischen Kommentar. Doch da kommt nichts. Stattdessen beginnt das nächste Lied und mit ihm setzt auch er sich wieder in Bewegung.
„Vermisst du es?", fragt er und ich muss eine Weile über seine Worte nachdenken, um zu verstehen, was er eigentlich meint.
„Oft", gebe ich zu und kann ihm mit einem Mal nicht mehr in die Augen schauen. Ich fürchte mich davor, dass es er es falsch verstehen könnte. „Ich vermisse meine Familie. Die kleinen Dinge, die mir jetzt im Nachhinein so groß vorkommen. Das Kapitol ist immer noch meine Heimat."
„Also hasst du sie nicht?" Haymitchs graue Pupillen betrachten mich nachdenklich.
„Das Kapitol ist nicht schuld an all dem Leid, Haymitch", sage ich leise und drehe den Kopf fort von ihm. „Ich hasse die Menschen, die mir wehgetan haben, die meine Eltern getötet haben. Aber das sind nicht die gewöhnlichen Bürger im Kapitol. Die Regierung, die Friedenswächter, die ... Elite. Sie sind schuld, sie gehören verantwortlich gemacht, aber nicht der Rest."
„Ich weiß." Haymitch lässt meine Hand los, schlingt sie um meinen Rücken und zieht mich näher zu sich heran. Ich tue es ihm gleich und lehne meinen Kopf gegen seine Brust. „Es fällt mir nur manchmal schwer zu glauben, wie man auf so ein System reinfallen kann."
„Ich glaube nicht, dass sie alle darauf hereinfallen." Ich denke an meine Mutter und ihre letzten Worte; an den Traum mit ihr. Ich denke an August und Cecily, meine Freunde von der Uni an die ich seit Monaten keinen einzigen Gedanken verloren habe, die nie Gefallen an den Hungerspielen gefunden haben. Ich denke an die jüngere Version meiner selbst, die ignorant, naiv und selbstbezogen war. „Einige sind blind, einige verdrängen die Realität, einige kümmern sich nicht darum. Nicht jeder im Kapitol lebt im Luxus. Die Menschen dort haben ihre eigenen Probleme. Die Hungerspiele finden nur einmal im Jahr für wenige Wochen statt. Was ist mit dem Rest des Jahres? Klar, es gibt immer noch Unmengen an Menschen, die die Spiele gefeiert haben, aber ich denke, dass es anders wäre, wenn sie tatsächlich hautnah dabei gewesen wären."
Haymitch und ich drehen uns langsam im Kreis, schwingen von einer Seite zur anderen, folgen einem inneren Takt. „Sie stellen die Distrikte im schlimmsten Licht dar. Die Menschen im Kapitol halten uns für Barbaren. Ich habe keine Ahnung, wie wir ihnen klarmachen können, dass nicht wir die Monster sind."
Haymitch hat recht. Wie viele Menschen können die Rebellen von der Wahrheit überzeugen, die ihr Präsident ihnen seit Jahren vorenthalten hat, wenn sie selbst so viele Privilegien verlieren werden? Wie erklärt man einem verzogenen Kind, das sein ganzes Leben in Saus und Braus gelebt hat, dass es nun ein Geschwisterchen hat, mit dem es teilen muss? Wie bringt man jemandem moralische Grundsätze bei, wenn sie ihr ganzes Leben etwas anderes gelernt haben?
„Ich weiß es auch nicht", gebe ich zu und schließe die Augen. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, glaube ich nicht, dass außer in den jüngsten Generationen noch viel getan werden kann. Ich denke an meine Schwester und frage mich, ob sie bereit wäre, einen Distriktler wie einen Kapitoler zu behandeln.
„Ich bin froh, dass das nicht unsere Aufgabe sein wird", murmelt Haymitch und zieht mich fester zu sich heran. „Wenn der Krieg vorbei ist, müssen wir uns um gar nichts mehr kümmern."
„Ich kann es kaum erwarten, diesen Distrikt zu verlassen."
Haymitch lacht gegen mein Ohr und das Beben seines Körpers geht auf meinen über. „Und ich erst, Prinzessin. Ich hasse diesen Bunker."
Ich frage nicht, was unsere nächste Destination sein wird. Es ist klar, wo uns das Ende des Kriegs hinführen wird. Dorthin, wo alles angefangen hat. Zurück ins Kapitol, wo sich unsere Wege vor Monaten getrennt haben; wo die letzten Puzzlestücke der Wahrheit um meine Familie sich endlich zusammenfügen werden. Ich fürchte mich vor dem Tag, in meine Heimat zurückzukehren und doch kann ich es kaum mehr erwarten. Ich weiß zwar nicht, was nach dem Krieg kommt, aber ich weiß mit Sicherheit, dass ich endlich mit den Narben abschließen will, die er hinterlassen hat.
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