48.1. Grieving the Past
Song Inspiration für dieses Kapitel: Apologize (Timbaland feat. One Republic), When We Were Young (Adele), Sign of the Times (Harry Styles)
Grieving the Past
Der Winter naht. Die einst grünen Blätter der Bäume haben sich restlos in braunes, dunkles Laub verwandelt, das jemand am Fuß der vielen Baumstämme zusammengekehrt hat. Wahrscheinlich einer der Floristen. Sonst gibt es zu dieser Jahreszeit in unserem Garten nicht viel zu tun. Der Winter ist noch nicht völlig angekommen doch hält bereits die gesamte Natur in seinen kalten, dunklen Klauen fest. Selbst die sanfte, süße Sommerluft hat sich in einen peitschenden Wind verwandelt, der mir den Geruch von Einsamkeit und nassem Holz in die Nase treibt. Das Bild des Gartes vor mir verschwimmt, als das Aroma eine Welle der Erinnerungen mit sich bringt.
Zwei kleine, lachende Kinder in bunten Kleidern, die über die blühende Wiese rennen, welche sich nun dunkel und leblos vor mir ausbreitet.
Familie und Freunde, die sich für formelle aber nicht freudlose Gartenpartys unter den Baumkronen der gewaltigen Buchen versammeln, deren nackte Stämme und Geäste nun unter der Wolkendecke eher schwarz als braun aussehen.
Aurelia, die sich für sehr clever hält, sich mit irgendeinem Jungen im Schuppen hinten am See zu verstecken, während meine Mutter die Bediensteten durch das gesamte Landhaus jagt, um sie zu finden. Von der Veranda, deren breite Stufen hinab in den Garten führen, kann ich nun den See in der Finsternis kaum ausmachen.
Obwohl mir die meisten Tage unerträglich vorkamen, kann ich doch nicht anders, als diese Zeit zu vermissen. Ich mache einen Schritt auf die Stufen zu und fahre mit meiner rechten Hand über den polierten, weißen Quarz der Brüstung. Wenn ich die Luft anhalte, kann man irgendwo in der Ferne einen Vogel hören. Ansonsten Totenstille. Seltsam wenn man bedenkt, dass wir uns mitten in der Stadt befinden. Das Kapitol schläft nie. Zumindest war das früher so. Bevor es den Krieg verloren hat.
„Du gedenkst aber nicht, dich hier auf die Stufen zu setzen, oder?", fragt eine entrüstete Stimme hinter mir.
Ich drehe den Kopf zur Seite und verziehe den Mund eine Sekunde lang zu einem Schmollen, bevor ich mich eines Besseren besinne und meine Gesichtszüge in eine neutrale Haltung zwinge. Bei der eisigen Luft um uns herum nicht weiter schwierig. „Ich habe mit dem Gedanken gespielt", gebe ich zu. „Aber das wäre mir glaube ich zu kalt."
„Ich bitte dich, Euphemia, eine Treppe ist sicher kein Ort zum Sitzen", erwidert meine Mutter mit einem Schnauben.
Ich antworte nicht, sondern starre stattdessen weiter auf den dunklen Garten. Wenn der Mond wenigstens scheinen würde, könnte ich mehr Einzelheiten ausmachen. Seit meiner Rückkehr ist alles so dunkel. Als hätte alles hier seine Farben verloren. Vielleicht bin ich aber auch einfach nicht mehr in der Lage, sie zu sehen. „Warum bist du hergekommen?", frage ich stattdessen und reiße den Blick von dem Garten los, um ihr ins Gesicht zu schauen.
Sie tritt näher an mich heran und zuckt mit einem Lächeln die Achseln. Ihre Hand tätschelt meinen rechten Arm in einer tröstenden Geste. „Ich dachte mir, dass du vielleicht ein bisschen Gesellschaft vertragen kannst. Störe ich dich etwa?"
„Natürlich nicht", murmele ich abwesend. „Ich hätte nur nicht erwartet, dass du kommst."
„Warum? Hälst du etwa so wenig von deiner Mutter, Euphemia? Meine Erziehung mag streng gewesen sein, aber das aus gutem Grund! Du musst mich nicht hassen, nur weil ich dafür gesorgt habe, dass ihr in dieser Welt überlebt."
„Du hättest wenigstens etwas sagen können, bevor ich mich für die Hungerspiele beworben habe. Stattdessen hast du dich das erste Mal in meinem Leben wirklich für mich gefreut und warst stolz."
„Stolz womöglich", erwidert meine Mutter nachdenklich. „Die Freude war nur Fassade. Was hätte ich denn machen sollen? Du warst nie so leichtgläubig und beeinflussbar wie deine Schwester. Wie hätte ich dir verständlich machen sollen, dass du den Fehler deines Lebens begehst, ohne dir auch die Wahrheit über alles andere offenbaren zu müssen?"
„Du kannst nicht alles gewusst haben", flüstere ich. „Ich glaube niemand wusste je die gesamte Wahrheit oder das gesamte Ausmaß."
„Natürlich nicht, aber die Bruchstücke haben gereicht", sagt sie dann und dreht den Kopf zu mir. Mit ihren Highheels ist sie ein Stück größer als ich. Ein weites Lächeln breitet sich auf ihren roten Lippen aus. Es ist dasselbe Lächeln, welches sie mir all die Jahre schon geschenkt hat, aber erst jetzt erkenne ich, wie ähnlich es meinem eigenem ist. Wie erzwungen. „Entweder man schwimmt mit dem Strom und lebt ein reiches, prächtiges Leben oder man zahlt den höchsten Preis. Dir hätte es viel schlechter ergehen können."
„Mir geht es auch so schlecht."
„Du lebst. Das ist alles, was für mich zählt. Wenigstens konnte ich eines meiner Kinder retten." Die Qual in ihrer Stimme lässt mich aufschauen.
„Wäre ich nicht gewesen, dann wäre sie heute noch am Leben", zische ich und reiße mich von ihr los.
Meine Mutter zuckt wieder mit den Achseln und nun ist sie es, die verloren in den Garten starrt. „Caius war Teil der Regierung. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, dann hätte man sie vielleicht gemeinsam mit ihm hingerichtet."
„Die Dinge sind aber nicht anders gelaufen." Meine Stimme ist kaum mehr als ein leises Wimmern, das von dem beißenden Wind um uns herum verschluckt wird. „Sie ist meinetwegen tot, genauso wie du und Vater."
Meine Mutter bleibt für eine lange Zeit still. „Ich wusste, dass es so enden würde. Ich habe es deinem Vater gesagt, aber er wollte nichts davon wissen. In dem Augenblick, in dem du gemeinsam mit ihm zu unserem Treffen aufgetaucht bist, wusste ich, dass du überleben würdest."
Meine Beine beben, aber ich kann nicht sagen, ob es an der Kälte oder an ihrer Anwesenheit liegt. Ich gebe dem Drang nach, mich zu setzen und bereue es sofort. Die Kälte der Veranda scheint jeden Funken Wärme aus meinem Körper heraussaugen zu wollen. Innerhalb weniger Sekunden hat sich das Zittern meiner Beine auf den Rest meiner Glieder ausgebreitet.
„Manchmal wünsche ich, dass ich es nicht überlebt hätte." Wie soll ich für den Rest meines Lebens mit dieser Leere in meinem Herzen leben? Das Gefühl in meiner Brust treibt mir heiße Tränen in die Augen. „Ich bin allein. Ganz allein. Was für einen Sinn macht das?"
„Hör auf mit diesen absurden Kommentaren, Euphemia", tadelt meine Mutter, legt mir aber einen Arm auf die Schulter. Wieder vergeht Zeit, bis sie spricht. „Und hör auf zu schmollen. Das gehört sich nicht für eine Dame. Außerdem hätte Aurelia gewollt, dass du lächelst. Wenigstens heute."
„Ich hätte gewollt, dass sie noch am Leben ist", gebe ich zurück und fühle mich fast schlecht, ihr mein Leid so direkt zu präsentieren. Das habe ich nie gemacht. „Es macht keinen Unterschied, ob ich lächele oder schmolle oder gar weine."
„Es macht einen Unterschied, Euphemia", erwidert meine Mutter und die Art wie sie meinen Namen ausspricht, lässt mich aufschauen. So sanft, so traurig, so reuevoll. „Heute ist ihr Geburtstag. Aurelia hätte gewollt, dass du an diesem Tag glücklich bist."
Mein Körper zuckt und ich falle durch die Dunkelheit. Ich will die Arme ausstrecken, nach etwas woran ich mich festhalten kann, doch da ist nichts. Nur ein langer schwarzer Tunnel. Meine Kehle ist rau und heiser, aber ich drücke den brennenden Schrei trotzdem hindurch. Dann trifft mein Rücken die Matratze, ich zucke erneut und richte mich seitwärts auf, meine Finger um den Rand des Betts gekrallt.
Ich blinzele. Einmal. Zweimal. Der Schock lässt mein Herz rasen und erst als sich mein Atem halbwegs beruhigt hat, kriegen meine Pupillen es auf die Reihe, die Schichten der Dunkelheit zur Seite zu schieben, die vor meinen Augen schweben. Das Badezimmerlicht brennt, so wie immer. Ich liege in meinem Bett, sicher und fernab vom Kapitol und dem verlassenen Landhaus meiner Eltern. Fernab von Aurelia. Aurelia. Tränen schießen mir in die Augen und ich habe das Gefühl, zu ersticken.
Ich drehe den Kopf und will mich zurück in meine Kissen fallen lassen, als ich Haymitchs Blick begegne. Er liegt in seinem eigenen Bett und hat sich auf die Seite gedreht, um mich anzuschauen. Seine Haare fallen ihm über die Stirn als er seinen Körper von der Decke befreit und sich auf seinen Ellbogen stützt. „Ich war mir nicht sicher, ob du einen Albtraum hast oder einfach nur unruhig schläfst", sagt er leise und schwingt seine Beine aus dem Bett.
„Es war nichts", sage ich, bevor Haymitch aufstehen und zu mir herübertrotten kann. „Wie viel Uhr haben wir?"
„Vier", antwortet Haymitch mit mechanischer Stimme. „Der Blick auf deinem Gesicht sagt was anderes, Süße. Sicher, dass alles in Ordnung ist?"
Ich nicke und schlüpfte zurück unter die Decke, bevor er auf falsche Gedanken kommt und mich womöglich beruhigen will. „Ich bin nur sehr müde", erkläre ich und drehe mich von ihm fort. Eine Sekunde lang flammt das schlechte Gewissen in mir auf, aber ich schiebe es von mir. Jedes weitere Wort würde nur dazu führen, dass ich an dem Kummer ersticke.
Haymitch verharrt reglos als würde er darauf warten, dass ich meine Meinung ändere. Erst nach mehreren Minuten, legt auch er sich wieder schlafen. Falls er denn überhaupt geschlafen hat. Ich weiß, dass auch ihn Albträume heimsuchen, auch wenn ich kaum etwas von ihnen mitbekomme. Ich habe keine Ahnung, wie er tagsüber überhaupt funktionieren kann, bei den wenigen Stunden, die er die Augen nachts überhaupt zumacht.
Ich schlafe nicht wieder ein. Ich liege auf der Seite und warte darauf, dass die Stunden vergehen. Haymitch bewegt sich im anderen Bett zwar ebenso wenig wie ich, aber mein Instinkt sagt mir, dass er genauso wach ist wie ich. Nicht, weil er sich um mich sorgt, sondern weil er einfach nicht schlafen will. Irgendwann klingelt sein Wecker, den er mit einer so schnellen Bewegung ausschaltet, die für einen Schlaftrunkenen wahrscheinlich nicht möglich gewesen wäre.
Haymitch steht auf und geht langsam und mit schlurfenden Schritten ins Badezimmer. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und versuche, mich in Luft aufzulösen. Das Unbehagen, den mein Traum mit sich gebracht hat, klammert sich immer noch an meine Glieder und ich habe das Gefühl, dass es auch so bald nicht verschwinden wird. Dieser Tag wird die Hölle werden, ich spüre es schon tief in meinem Magen, dort wo der Kern meiner Ängste sitzt.
„Willst du nicht aufstehen?", fragt Haymitch in diesem Moment und ich zucke vor Schreck zusammen. Ich habe nicht mitbekommen, wie er aus dem Badezimmer gekommen ist.
Ich drehe mich auf den Rücken und ziehe die Bettdecke bis an mein Kinn herunter, damit mein Verhalten ihm nicht noch verdächtiger vorkommt als es das wahrscheinlich schon tut. Eine seltsame Mischung aus Sorge und Verwirrung spiegelt sich in Haymitchs Augen. Er verzieht die Brauen in dieser typischen Geste, die deutlich macht, dass er nachdenkt. Es ist dunkel im Zimmer, er hat sich nicht die Mühe gemacht das Licht anzumachen. Trotzdem weiß ich, dass er an die Situation diese Nacht denkt und versucht, daraus eine Erklärung für mein jetziges Verhalten abzuleiten. Seine analytischen Fähigkeiten machen es schwer, ihn aus Dingen auszuschließen, weil er so gut darin ist, die richtigen Schlüsse zu ziehen.
„Ich habe heute frei", antworte ich deshalb und in dem Versuch, den Kummer aus meiner Stimme fernzuhalten, schieße ich über das Ziel hinaus. Zu fröhlich. Zu aufgesetzt.
Haymitch legt den Kopf schief. „Hattest du nicht erst vorgestern frei?" Die Skepsis ist unüberhörbar. Er glaubt mir nicht.
Röte steigt mir in die Wangen, weil ich drauf und dran bin, mich in einer so einfachen Lüge zu verrennen. Ich kann nicht klar denken. Die Hälfte meines Hirns ist immer noch dabei, die Bilder aus dem Traum zu verarbeiten; die Dinge, die meine Mutter zu mir gesagt hat. Ich wusste, dass es so enden würde. Wieso wusste sie es? Ich wusste es nicht. Sich darüber Gedanken zu machen ist völlig sinnlos, weil es nichts als ein Traum ist und meine Mutter diese Worte somit nie tatsächlich gesagt hat. Aber ich kann nicht anders.
„Ich bin nicht die Einzige, die freibekommen hat", erwidere ich in ausgeglichenerem Ton und zucke unter der Decke mit den Schultern. „Einige Maschinen in unserem Sektor sind ausgefallen. Die Mechaniker kümmern sich heute darum."
Haymitch nickt und ein Teil des Misstrauens verschwindet aus seinem Gesicht. Doch nicht alles. Er spürt, dass ich ihm nicht die Wahrheit sage, kann aber nichts Weiteres tun, ohne darauf zu beharren. Er nickt kurz und ein halbes Grinsen breitet sich auf seinen Lippen aus. „Du Glückspilz. Dann viel Spaß bei Johanna später."
Da ich meine freien Tage so gut wie immer bei Johanna verbringe, hat er wohl allen Grund dazu, davon auszugehen, dass es heute nicht anders sein wird. Für einen Moment steht er schwankend zwischen Tür und meinem Bett als würde er über etwas nachdenken, dann beugt er sich zu mir herunter und drückt mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund, bevor er geht. Sofort fühle ich mich schlecht, ihn angelogen zu haben.
Ich habe damit gerechnet, dass der heutige Tag mich mitnehmen würde und habe mich vorrausschauend dafür entschieden, in meinem eigenen Bett zu schlafen. Die richtige Entscheidung, wie sich herausstellt. Wäre ich in Haymitchs Armen aufgewacht, hätte ich mich nicht beherrschen können. Mein Körper braucht die Distanz, um zu trauern. Ich will ihn nicht mitreinziehen. Es fühlt sich nicht richtig an. Es gibt so vieles, worüber Haymitch sich bereits Gedanken machen muss. Katniss, Peeta, Finnick, der Krieg als solcher ... Darüber hinaus fühle ich mich verpflichtet, diesen Tag in stillem Gedenken zu verbringen.
Heute ist ihr Geburtstag. Aurelia hätte gewollt, dass du an diesem Tag glücklich bist. Wie soll ich glücklich sein, wenn ich nicht einmal weiß, ob sie lebt? Wie soll ich an sie denken, ohne Schuld zu verspüren? Ohne mich wären meine Eltern noch am Leben und falls Aurelia tatsächlich auch tot ist, dann gilt dasselbe auch für sie.
Jetzt wo Haymitch fort ist, kann ich den Tränen freien Lauf lassen. Ich schluchze in die Bettdecke und lasse meinen Körper beben, ziehe mich aus ihm zurück und übergebe meinem Unterbewusstsein die Kontrolle. Mein Geist verkriecht sich irgendwo in mein Inneres und wartet darauf, dass mein Körper sich abreagiert. Doch das tut er nicht. Stattdessen beschwört er eine Folge von Bildern herauf, die ich schon längst für vergessen gehalten habe.
Kindheitserinnerungen, Feiertage, Geburtstage. Aurelia hat ihren Geburtstag geliebt. Nicht, weil sie gern im Mittelpunkt stand, dafür hat meine Mutter in späteren ohnehin Jahren gesorgt, sondern weil es eine Seltenheit war, dass die gesamte Familie an einem Tisch saß. In unserem Haus war das nicht oft der Fall. Mein Vater war meistens zu beschäftigt und meine Mutter hielt nicht allzu viel vom traditionellen Begriff Familie, außer es war Besuch da, der beeindruckt werden musste. An solchen Tagen benahm sie sich wie die Mutter aus dem Kinderbuch.
Wenn der Krieg nicht wäre, würde Aurelia ihren Geburtstag wahrscheinlich in ein riesiges Spektakel verwandeln. Sie liebt Feste jeder Art. Sie liebt es, von ihrer Schar an Freunden umgeben zu sein, ihren Ehemann Caius und sich im besten Licht vor seinen Arbeitskollegen zu präsentieren und die perfekte Gastgeberin zu spielen. Meine Mutter hätte mich jedem wohlhabendem Single auf der Party vorgestellt und wäre zufrieden mit sich gewesen, während mein Vater und ich wissende Blicke gewechselt und hinter ihrem Rücken geschmunzelt hätten.
Du warst nie so leichtgläubig und beeinflussbar wie deine Schwester. Es stimmt. Aurelia in die Person zu verwandeln, die sie heute ist – angesehenes Model in der Highsociety, Ehefrau eines mächtigen Politikers, Vorzeigebürgerin des Kapitols –, war so leicht, dass es vielleicht von Anfang an ihr Schicksal gewesen ist. Aurelia würde nie einer Fliege etwas zu Leide tun, sie ist die Höflichkeit in Person und würde nie über jemanden ein schlechtes Wort verlieren. Sie ist die Frau, die sich jeder Mann an seiner Seite wünscht. Aurelia ist klug. Sie war an der Universität so wie ich, auch wenn sie sich in den Augen meiner Mutter für einen weiblicheren Studiengang entschieden hat als ich. Sie hatte nur nie die Chance, hinter die Fassade zu schauen. Sie kennt die Wahrheit nicht. Sie ist gefangen in dem goldenen Käfig aus Geld und Komfort, den meine Mutter schon in unserer Kindheit für sie geschaffen hat. Dieser Käfig hat sie mit den Jahren blind werden lassen. Wo früher Schüchternheit war, ist nun Stolz. Wo früher Zufriedenheit war, ist nun Genuss. Daran ist nichts falsch. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hätte ich mir viel Leid erspart, wenn ich nicht so oft aus der Reihe getanzt wäre.
Meine Mutter wollte uns zu perfekten Damen erziehen. Doch wo Aurelia Kritik hat über sich ergehen und sich ohne Widerstand hat formen lassen, habe ich mich zurückgezogen. Jeder Kommentar über mein Aussehen, meine Figur oder mein Verhalten haben mich weiter von meiner Mutter entfernt, weil es meine Gefühle verletzt hat. Ich konnte es nicht wegstecken wie meine Schwester. Jetzt frage ich mich, ob sie noch am Leben wären, wenn ich damals stärker gewesen wäre.
Entweder man schwimmt mit dem Strom und lebt ein reiches, prächtiges Leben oder man zahlt den höchsten Preis. Vielleicht hat sie uns die ganzen Jahre tatsächlich nur schützen wollen. Vielleicht wusste sie mehr, als sie preisgegeben hat. Es ist eine vage Vermutung, aber ich glaube trotzdem daran. Nicht, weil es die Erinnerung an sie leichter machen würde. Sie war eine schreckliche Mutter, auch wenn ich sie trotzdem geliebt habe. Ich glaube daran wegen dieses kurzen Moments vor ihrer Hinrichtung, als sie mich hinter dem Fenster erspäht hat. Wegen des plötzlichen, so sanften Lächelns auf ihren Lippen, welches sich für alle Ewigkeit in mein Hirn gebrannt hat. Wegen der Worte, die ihr Mund geformt hat, bevor es zu spät war. Ich liebe dich. Wäre sie die Frau, die sie all die Jahre vorgegeben hat zu sein – ohne Rücksicht, Mitgefühl und Moral – dann wäre sie wütend, außer sich vor Zorn gewesen. Stattdessen hat sie ihre Maske für einen letzten Augenblick fallen lassen. Als hätte sie gewollt, dass ich diesen Teil von ihr sehe, bevor es zu spät ist.
Die Beziehung zu meiner Familie war immer schon kompliziert. Ich glaube, dass es vielen im Kapitol so geht. Nichtsdestotrotz will sich das Loch aus Schmerz, Schuld und Schwermut nicht verschließen. Wie ein bodenloses Fass. Es gibt keine Worte, die dieses Gefühl in meinem Inneren treffend beschreiben würden. Es gibt nichts Schlimmeres als dieses Gefühl der Machtlosigkeit. Zu wissen, dass sie alle für immer tot sind, dass ihre Erinnerungen für immer mit ihnen begraben sein werden, dass ihre Existenz mit meinem eigenen Tod in Vergessenheit geraten werden. Zu wissen, dass nichts auf der Welt ihre Seelen und Gedanken zurückbringen kann, dass alles für immer verloren ist, als hätten sie nicht gefühlt, nicht gelebt. Es bringt mich um den Verstand. Den Tod zu begreifen, obwohl er mir über die Jahre so oft, so oft, begegnet ist, ist unmöglich.
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Hi! Ich hoffe, euch hat es gefallen! :)
LG
Skyllen
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