45.2. Capitol and Districts

Haymitch ist seit fast zwei Wochen fort. Die Mission in Distrikt 2 ist komplizierter als vorerst angenommen. Mehr sagt man mir nicht. Jeder Tag scheint mich ein wenig mehr aufzufressen. Johanna merkt es. Finnick merkt es auch. Zu Peeta wollen sie mich ohne Haymitchs Aufsicht nicht lassen. Irgendwie schaffe ich es, eine grundlegende Routine aufrechtzuerhalten. Arbeiten, den Tag bei Johanna verbringen, schlafen.

„Ich vermisse Fisch", stöhnt Finnick resigniert neben mir und lässt seine Gabel sinken. „Mein Gott, was würde ich für einen frischen, salzigen Fisch geben ..."

Annie neben ihm nickt sehnsüchtig, während sie auf das Essen auf ihrem Tablett hinabschaut. Wir haben uns in den hintersten Winkel der Kantine zurückgezogen, damit der Lärm sie nicht so sehr stört. Es fällt ihr schwer, inmitten der vielen Menschen zur Ruhe zu kommen, allerdings bleibt ihr keine andere Wahl, als hier zu essen, wenn sie nicht zurück in die Krankenstation eingewiesen werden möchte.

„Ihr beiden seid mir zwei verwöhnte Gören", sagt Johanna und verdreht die Augen als sie sich den letzten Rest ihres Kartoffelpürees in den Mund stopft. Anders als Annie hat sie nicht die Erlaubnis, Speisen aus der Kantine zu essen, weshalb sie ihr Tablett aus der Krankenstation einfach hergebracht hat. Dafür hat sie zwar einen Riesenstreit mit einer der Wachen provoziert, aber man hat sie schlussendlich doch durchgelassen, weil sie damit gedroht hat, sich direkt bei Coin über ihn zu beschweren. „Geht doch zurück in euren privilegierten Distrikt, wenn ihr ihn so sehr vermisst. Auf dem Weg könnt ihr ja bei Snow einen Zwischenstopp einlegen und ihm sagen, dass euch die ganze Rebellion schrecklich leidtut und ihr lieber auf eure Freiheit verzichten wollt, solange es guten Fisch zu Abend gibt."

„Johanna", kommt es empört von mir und ich schlage ihr mit den Fingern leicht auf den Handrücken. „Ein wenig mehr Respekt würde dir guttun."

„Hör auf dich aufzuführen wie meine Mutter", ist alles, was die junge Siegerin zurückgibt.

„Der Entzug scheint dir nicht gutzutun", bemerkt Finnick und mustert Johanna über den Rand seines Bechers hinweg. Ein bübisches Grinsen umspielt seine Lippen.

„Halt die Klappe", erwidert Johanna und verzieht missgelaunt die Brauen. Nach kurzem Schweigen seufzt sie laut und fährt mit ihrer Tirade fort, die wir uns seit dem Absetzen des Morphix anhören müssen. „Diese verdammten Ärzte. Mein ganzer Körper tut scheiße weh, aber das interessiert niemanden. Wenn diese verrückte Doktorin mir noch einmal erklärt, dass mein Körper sich von ganz allein erholen wird, schwöre ich, werde ich ihr den nächstbesten Gegenstand in den Schädel rammen."

„Sag sowas lieber nicht in Anwesenheit des Sicherheitspersonals, sonst überweisen sie dich schnurstracks in die Geschlossene", flüstert Annie und fixiert mit ihren meeresgrünen Augen einen Punkt hinter Johanna. „Das ist einem verwundeten Soldaten aus Sechs passiert, nachdem er von einer Granate getroffen worden ist und seine Beine verloren hat." Sie kichert und senkt dann den Blick auf ihr halbleeres Tablett.

Finnick greift nach ihrer Hand und drückt ihre Finger in einer beruhigenden Geste. „Vielleicht solltest du einfach nochmal mit deiner Ärztin reden, Jo." Die Worte sind zwar nicht an Annie adressiert, aber der Klang seiner Stimme scheint sie zurück in die Gegenwart zu holen. Sie nickt mit dem Kopf und schenkt Johanna ein aufmunterndes Lächeln.

„Das habe ich auch bereits versucht, aber sie ist zu stur", erkläre ich Finnick und seufze. „Es ist wie früher. Egal was ich ihr sage, sie macht genau das Gegenteil und zieht mich dann damit auf, nur um mich in den Wahnsinn zu treiben."

„Ich bin froh, dass sich manche Gewohnheiten nie ändern", sagt Finnick und grinst. Er hat sein blondes Haar wachsen lassen und mittlerweile fällt es ihm knapp über die Ohren. „Nicht alles früher war schlecht. Wenn ich ehrlich bin, habe ich die Saison im Kapitol manchmal schon genossen. Nicht wegen der Spiele natürlich, aber wegen euch allen. Und wenn ich das sage, wird das schon was heißen."

Johanna gibt ein Schnauben von sich. „Dann bist du genauso bescheuert wie Trinket. Ich habe jede Sekunde in dieser gottverdammten Stadt gehasst, zurecht wie ich finde. Da könnt ihr noch so tolle Freunde sein. Nichts kann das ändern."

Finnick zuckt mit den Achseln, lässt sich aber nicht von Johanna beirren als er fortfährt. „Klar war die meiste Zeit im Kapitol schlecht, aber es gab auch schöne Momente. Unser letzter Abend vor dem Jubeljubiläum zum Beispiel. Es hat Spaß gemacht, herumzualbern und die Realität für eine Weile zu vergessen. Ich hoffe, dass wir diese Treffen beibehalten, wenn der Krieg vorbei ist." Er zwinkert in meine Richtung und ich lächele bei dem Gedanken an das Spiel, das er und ich an dem Abend gespielt haben. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein. Wie viel Zeit ist seitdem vergangen? Fünf Monate? Sechs vielleicht? In 13 fällt es mir schwer, die Zeit im Auge zu behalten.

Die Realität vergessen", imitiert Johanna und lacht ein kaltes, unglückliches Lachen. Sie hebt ihre Augen vom Tisch und funkelt Finnick an. Die offene Wut in ihrem Blick sollte mich wundern, weil sie und Finnick eigentlich einen guten Umgang pflegen, aber der Entzug ihrer Droge macht es ihr nicht leicht. „Merkst du eigentlich was für einen Bullshit du redest?"

Finnick öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, als die Bildschirme in der Kantine mit einem zippenden Kurzschluss anspringen. Die Leute an den benachbarten Tischen drehen ihren Kopf herum und auch wir verstummen in der sich anbahnenden Diskussion. Für eine Sekunde flackert das Bild schwarz, dann taucht Katniss auf. Gemurmel um uns herum bricht aus. Ich spüre, wie mein Magen sich vor Überraschung zusammenzieht.

Katniss steht auf einem von hohen, hellen Lichtern umringten Platz. Ich erkenne Distrikt 2 nur, weil ich bei der Tour der Sieger schon einmal dort war und das Justizgebäude eine einmalige Architektur aufweist, die mich fasziniert hat. Hinter Katniss leuchtet die Bahnstation in demselben Neonlicht, das die Dunkelheit aus jedem Winkel des Platzes auszumerzen versucht. Katniss trägt ihre schwarze Uniform, die eigens von Cinna angefertigt wurde, ihren Bogen in den Händen. Obwohl das Licht auf sie herunterscheint, wirken ihre konzentrierten Augen dunkel, als sie die Kamera fixiert und uns direkt in die Gesichter starrt.

„An alle Menschen in Distrikt Zwei, hier spricht Katniss Everdeen. Ich spreche zu euch von der Treppe eures Justizgebäudes aus, wo ..." Katniss wird von dem lauten, metallischen Quietschen zweier Züge unterbrochen, die in diesem Augenblick in den Bahnhof einfahren. Das Mädchen dreht sich um und die Kameras zoomen auf die Menschen, die aus den Türen springen. Sie sind bewaffnet und winken mit ihren Gewehren hin und her. Als würden sie sichergehen wollen, dass man sie auch sieht. Den Zügen folgt eine Rauchwolke. Einer der Waggons hat Feuer gefangen und zwingt die Verwundeten, weiter auf den Platz vorzudringen. Ob das zum Plan der Rebellen gehörte? Ich kann nur hoffen, dass Haymitch nicht irgendwo hinter den Kameras steht. Der Gedanke, dass er in Reichweite für ihre Kugeln sein könnte, lässt meine Finger erzittern.

Die Menschen gehen in Deckung und im selben Moment treten Rebellensoldaten aus den Schatten ins Freie und scharren sich um Katniss, die still und steif auf die Menschen blickt, eine Qual in ihren Augen, als hätte sie Mitleid mit ihnen. Eine Sekunde später werden von irgendwoher Kugeln abgefeuert und die Menschen um mich herum zucken zusammen. Keiner kann sagen, ob einer der Rebellen oder jemand aus dem Zug gefeuert hat. Die Lichter gehen aus. Schmerzensschrei und Gestöhne werden direkt in die Kantine übertragen und mir wird schlecht. Als ein verwundeter Mann aus dem Bahnhof taumelt und zusammenbricht, regt sich Katniss plötzlich. Die Qual in ihrem Gesicht ist einer Entschlossenheit gewichen und sie schießt nach vorne.

„Halt! Nicht schießen!" Ihre Stimme schallt über den Platz und sie stürmt auf den Mann zu. „Halt!" Katniss geht neben dem Mann in die Hocke, um ihm aufzuhelfen, als dieser mit einem Mal auf die Knie geht und sein Gewehr hervorzieht. Der Lauf seiner Waffe zielt direkt auf Katniss' Kopf. Das Mädchen hält ruckartig in ihrer Bewegung inne und sieht ehrlich erstaunt aus.

In der Kantine bricht Chaos aus. Die Leute reden laut durcheinander und erheben sich teilweise von ihren Plätzen. „Das hat sie nun von ihrem Helferinstinkt", sagt Johanna, aber ihre Stimme ist dünn und heiser.

Finnick neben mir zieht Annie in eine beruhigende Umarmung und wechselt einen beunruhigten Blick mit mir. Seine tiefgrünen Augen funkeln vor Besorgnis, als wir gebannt auf den Bildschirm starren. Das Zittern in meinen Fingern hat sich in ein unangenehmes Kribbeln verwandelt und breitet sich auf meine Arme aus.

Katniss macht einige Schritte rückwärts und hebt beschwichtigend ihren Bogen, bleibt dann jedoch an Ort und Stelle stehen, als wäre sie festgefroren. „Gib mir einen Grund, weshalb ich dich nicht erschießen sollte", murmelt der Mann so leise, dass Katniss' Mikro es kaum auffängt. Er hat eine Verletzung im Gesicht und Blut rinnt über seine Wange.

Katniss zögert für eine Sekunde, als würde sie überlegen. „Das kann ich nicht", gibt sie schließlich zu und das rauschende Chaos um uns herum verstummt genauso schnell, wie es aufgebraust ist. Der Mann scheint ebenso verwirrt von ihrer Aussage, denn sein Gesicht verzieht sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse der Verwunderung. Der quälende Funken des Mitgefühls, das kurz aus Katniss' grauen Augen verschwunden ist, drängt sich wieder einen Weg in ihr Gesicht. „Ich kann es nicht. Das ist das Problem, nicht wahr? Wir haben euer Bergwerk in die Luft gesprengt. Ihr habt meinen Distrikt abgebrannt. Wir haben allen Grund, einander zu töten. Also tu es. Mach das Kapitol glücklich. Ich habe genug davon, ihre Sklaven für sie zu töten." Katniss senkt den Bogen, lässt ihn auf den Boden fallen und tritt ihn mit ihren Stiefeln außerhalb ihrer Reichweite.

Johanna kichert. „Der Spottölpel hat tatsächlich Mumm, das muss man ihr lassen."

„Ich bin nicht ihr Sklave", sagt der Mann und verzieht die Augenbrauen. Einen Augenblick lang fährt sein Blick von Katniss zu den Rebellensoldaten, die nun ihn ins Visier genommen haben. Falls er abdrücken sollte, wird er innerhalb von Sekunden von einem Kugelhagel durchbohrt werden.

„Ich schon", erwidert Katniss mit ruhiger Stimme. In Momenten wie diesen ist sie kaum wiederzuerkennen. „Deshalb habe ich Cato getötet ... und deshalb hat er Thresh getötet ... und der wiederum Clove ... die versucht hat, mich zu töten. So geht es immer weiter und wer gewinnt? Nicht wir. Nicht die Distrikte. Immer das Kapitol. Immer Snow. Aber ich habe es satt, eine Figur in ihren Spielen zu sein."

Immer das Kapitol. Ich bin froh, dass die Menschen alle wie gebannt auf die Bildschirme starren. Wenn ich Katniss ins Gesicht starre, überkommt mich eine Schuld, der ich mir schon viel zu lange bewusst bin und viel zu lange ignoriert habe. Wie kann ich ein guter Mensch sein, nach allem, was ich für die Hungerspiele getan habe? Vielleicht verdiene ich eine Bestrafung dafür.

„Als ich heute Abend den Berg einstürzen sah, da dachte ich ... dass sie es schon wieder geschafft haben. Schon wieder haben sie mich dazu gebracht, euch zu töten – die Menschen in den Distrikten. Aber warum habe ich es getan? Distrikt 12 und Distrikt 2 haben keinen Streit miteinander – außer dem, den das Kapitol uns aufgezwungen hat." Katniss lässt sich vor dem Mann auf die Knie fallen, um auf Augenhöhe mit ihm zu sprechen. „Und warum kämpft ihr gegen die Rebellen auf den Dächern? Gegen Lyme, die euer Sieger war? Gegen Leute, die eure Nachbarn, vielleicht sogar Verwandte waren?"

„Ich weiß es nicht", gibt der Mann schließlich zu, rührt sich aber nicht als Katniss sich wieder erhebt und ihm den Rücken zukehrt.

Die Kameras folgen Katniss' Blick, der auf die Dächer des Justizgebäudes gerichtet ist. Dabei schwankt die Kamera am Eingang des Bauwerkes vorbei. Bis auf die Soldaten und die Kameracrew ist niemand zu sehen. Das Atmen fällt mir sofort etwas leichter. „Und ihr da oben?" Ihre Frage ist an die Rebellen gerichtet, die mit ihren Maschinengewehren auf dem Dach hocken und auf ihren Einsatz warten. „Ich komme aus einer Bergarbeiterstadt. Seit wann verurteilen Bergarbeiter andere Bergarbeiter zu einem solchen Tod und halten sich dann bereit, diejenigen zu töten, die sich aus den Trümmern befreien können?"

Katniss deutet auf die Menschen, die sich um den verwundeten Mann gescharrt haben und ebenso schlimm, wenn nicht noch schlimmer aussehen. „Diese Leute sind nicht euer Feind!" Dann dreht sie sich wieder dem Mann zu, der immer noch sein Gewehr auf sie gerichtet hat. „Die Rebellen sind nicht euer Feind! Wir alle haben nur einen Feind, und das ist das Kapitol! Jetzt haben wir die einmalige Chance, seiner Macht ein Ende zu bereiten, aber dafür brauchen wir jeden Einzelnen in den Distrikten!" Katniss streckt ihre Hände nach dem Mann aus und ein hoffnungsfrohes Schimmern leuchtet in ihren Augen. „Bitte! Schließt euch uns an!"

Die Stille nach ihrer Rede ist so laut, dass selbst das Schweigen der Menschen in der Kantine zu schreien scheint. Als würde die ganze Welt schreien. Katniss dreht sich zur Seite, ihre Augen heften sich auf einen der Bildschirme, auf dem dasselbe Bild läuft, das auch wir gerade zu sehen bekommen. Der Mann senkt sein Gewehr, Zwiespalt spiegelt sich auf seinen verbrannten Zügen. Dann löst sich ein Schuss aus der Menschenmenge, zu weit im Dunkeln, als dass man die genaue Herkunft ausmachen könnte. Eine Sekunde später wird Katniss nach hinten geschleudert und stürzt leblos zu Boden.

Der Schrei, der sich aus meiner Kehle löst, scheint gleichermaßen von Johanna und Finnick zu kommen. Wir springen auf als die Rebellen zu schießen beginnen. Die Kamera bewegt sich hektisch nach hinten. Der Kugelhagel ist das letzte, was wir hören, bevor die Verbindung gekappt wird. Dann wird der Bildschirm schwarz.

„Verdammte Scheiße", flucht Johanna und schleudert ihr Tablett vom Tisch.

Annie hat zu weinen angefangen. Ihr Körper bebt und zittert und Finnick nickt uns mit vor Angst geweiteten Augen zu, bevor er einen Arm um sie legt und fluchtartig die Kantine verlässt. Eine Taubheit hat Kontrolle über meinen Körper übernommen, das Kribbeln in meinen Armen ist verschwunden. Ich fühle rein gar nichts. Als hätte mich jemand in Watte gepackt und die Geschwindigkeit der Zeit heruntergedreht. Ich drehe meinen Kopf in Johannas Richtung, doch es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis die Bewegung vollendet ist. Meine Beine bewegen sich weg von der Bank, auf der wir gerade noch gesessen haben, aber jeder Muskelstoß zieht sich in die Länge, als wäre ich alt und gebrechlich. Der Herzschlag in meiner Brust wird lauter und schlägt mir bis zum Hals, wie eine Trommel tönt es in einem hektischen Rhythmus und scheint dabei alle anderen Geräusche um mich herum auszublenden. Das Kreischen der Menschen um uns herum. Ihr Weinen. Johannas Fluche.

„Verdammte Scheiße."


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Naa? Wie hat euch dieses Kapitel gefallen? :) Bin gespannt was ihr denkt!

LG

Skyllen

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