42. I Want You Next To Me

I Want You Next To Me

Ich kann nicht sagen, wann ich anfange zu träumen. Mir fehlt jedes Zeitgespür. Es fühlt sich an, als würde mein Körper fallen, ohne je den Grund zu erreichen. Ich schwebe zwischen Raum und Zeit, zwischen Realität und Fantasie, doch alles, was ich vor meinem geistigen Auge sehe, ist diese Frau. Sie ist immer allein, immer umgeben von einer endlosen Dunkelheit. Und doch sieht sie mich vor sich stehen. Mal erzählt sie, was sie dort draußen, in ihrem Distrikt, durchleben musste und weshalb es nötig war, ein Exempel an mir zu statuieren. Mal schreit sie mir Worte entgegen, die meine Ohren nicht erreichen, obwohl ich direkt vor ihr stehe. Ihre Stimme verwandelt sich in ein hysterisches, verzerrtes Kreischen. Mal prügelt sie einfach nur mit ihrem Schlagring auf mich ein. Dann leuchtet mein nasses Blut in der Finsternis und rinnt an ihren Fingerknöcheln herab.

Doch als ich zu mir komme, sind ihre rabenschwarzen Augen alles, woran ich mich erinnern kann. Wieder blinzele ich gegen eine vertraute Helligkeit an und es ist fast schon paradox, wie oft ich in den vergangenen Monaten bereits in genau dieser Position aufgewacht bin: In einem unbequemen Krankenbett unter grellem Neonröhrenlicht mit einem Schlauch in der Armbeuge.

Als der sterile Geruch des Raumes meine Nase trifft, höre ich das beschleunigende Piepsen der Herz-Lungen-Maschine auf meiner Rechten. Obwohl mir das Geräusch vertraut ist, braucht mein vernebelter Kopf eine ganze Sekunde, bis er begreift, dass das Gerät da gerade mein Herz imitiert. Mein Körper reagiert mit Furcht auf all diese roten Flaggen. Eine altbekannte Kälte macht sich in meiner Brust breit. Plötzliche Panik umklammert meine Glieder in einem festen Griff. Mein Körper spürt den Infusionskanal, der in meinem linken Arm steckt, ohne die Lider aufschlagen zu müssen. Eine dunkle Erinnerung braut sich vor meinem inneren Auge zusammen. Das Herz in meiner Brust setzt einen Schlag aus, als würde es versuchen, gegen den Instinkt in meinem Kopf anzukämpfen, der vor der Gefahr warnt, in der ich mich befinde. Aber ich falle trotzdem in das klaffende Loch, das sich in meiner Mitte auftut.

Für einen ewiglangen Moment lasse ich es zu, dass die Angst mich mit ihrer gesamten Stärke in die Kissen drückt. Wie ein Gewicht auf meinem Brustkorb, das mich daran hindert, die Wasseroberfläche zu erreichen. Kann es sein, dass das Kapitol mich tatsächlich in eine Simulation gesteckt hat? Bin ich nun aus diesem Traum erwacht, nur um wieder in das Gesicht eines Friedenswächters zu schauen?

Ich versuche mir die letzten Ereignisse zurück ins Gedächtnis zu rufen. Da war diese Frau, sie war in Begleitung zweier starker Männer, die mich gegen eine Wand drückten. Ich erinnere mich an den dumpfen Schmerz, der wie Blitzschläge durch meinen Körper gefahren ist und trotzdem nicht wirklich wehgetan hat. Wenn ich stillliege und aufmerksam bin, kann ich das nachlassende Pochen immer noch auf meiner Haut vernehmen. Welches Schmerzmittel auch immer sie mir gegeben haben, man hat mir nicht viel davon eingeräumt, wenn der Effekt bereits wieder abklingt. Kein gutes Zeichen.

Meine Augenlider flattern als sich meine Pupillen an das grelle Licht gewöhnen. Das Erste, was ich sehe, als sie ihren Fokus wiedererlangen, ist der Schlauch in meinem Arm. Schwindel erfasst mich und meine Kehle schnürt sich zusammen. Meine Hand schnellt reflexartig nach vorne und ein Teil von mir ist froh darum, weil es bedeutet, dass ich immer noch bereit bin mich zu wehren, anstatt sie gewähren zu lassen. Meine Finger bekommen den Infusionsschlauch nach einigen Versuchen in einem sicheren Griff zu fassen und zerren ihn aus meiner Armbeuge, ohne darauf zu achten, mir dabei nicht wehzutun.

Dann tönen plötzlich Schritte über den gefliesten Boden. Raue Finger schließen sich um mein Handgelenk und der Schrei bleibt mir in der Kehle stecken. Ich reiße den Kopf hoch und treffe ein Paar grauer Augen, dunkelblondes Haar und einen ungepflegten Dreitagebart. Mein Herzschlag normalisiert sich sofort.

„Es ist alles gut, Süße", sagt Haymitch und ich kann spüren, wie die Furcht in meinen Gliedern abebbt wie ein sinkender Pegelstand. „Du bist in Sicherheit." Er sagt nicht, dass es mir gut geht. Er weiß, dass es mich nicht interessiert. Er kennt den einzigen Gedanken, der gerade von Bedeutung für mich ist. Du bist nicht im Kapitol.

Ich seufze und lehne mich zurück in die Kissen, die mir mit einem Mal nicht mehr hart und unangenehm erscheinen. Wie lächerlich meine Emotionen doch sind. Ein Blick auf meine Umgebung hätte ausgereicht, um mir diese Achterbahnfahrt zu ersparen. Es ist nicht mein altes Krankenzimmer, sieht dem aber beinahe zum Verwechseln ähnlich. Bis auf die Glasfront, die sich nun auf meiner linken Seite befindet, ist alles identisch. Haymitch steht links von meinem Bett und seine Augen fahren suchend über mein Gesicht, als würde er nach Anzeichen einer Panikattacke suchen. Er weiß nicht, dass er sie gerade abgewendet hat. Ich wünschte, ich hätte die Kraft, ihm davon zu erzählen. Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, welch positiven Effekt seine bloße Anwesenheit auf mich hat. Doch ich kann nicht. Jedes Mal, wenn ich es versuche, bildet sich dieser riesige, unüberwindbare Kloß in meinem Hals, der mich davon abhält. Vielleicht schaffe ich es eines Tages.

Am Fuß des Bettes, gegen das Metallgestell gelehnt, steht Katniss. Ihr langes, braunes Haar fällt ihr in losen Strähnen über die Schultern. Der Nebel, der bei unserer letzten Begegnung auf jedem ihrer Züge lag, ist verschwunden und wurde von einer erstaunlichen Klarheit ersetzt, mit der sie mich nun mustert. Eine Klarheit, die mir die Nackenhaare aufstellt, weil sie eine Erfahrung und Gewissheit ausstrahlt, über die kein siebzehnjähriges Mädchen verfügen sollte. Ich sehe die Vision, die viele andere vor mir bereits in ihr gesehen haben. Besorgnis spricht aus ihrer Haltung und doch kann man ihr die Hilflosigkeit auf den zweiten Blick ansehen, mit der sie hier im Raum steht. Als würde sie versuchen, ihre Machtlosigkeit, etwas an der Situation zu ändern, hinter dieser Mauer aus Stärke zu verstecken.

„Wir hätten Bettnachbarn werden können, wenn sie sich noch etwas mehr Mühe gegeben hätten", sagt Johanna in diesem Moment mit fröhlicher Stimme und meine Aufmerksamkeit wandert von Katniss zu der jungen Siegerin, die auf meinem Bett sitzt und sich etwas zurücklehnt, um mich grinsend zu betrachten. Ich kenne sie gut genug, um hinter ihre Fassade schauen zu können und bemerke das Funkeln in ihren haselnussfarbenen Augen. Wut und Furcht.

„Wie schade, ich habe ihnen doch extra gesagt, dass sie fester zuschlagen sollen", murmele ich mit dünnerer Stimme als erwartet zurück. Ich räuspere mich, bevor ich weiterspreche. „Haben sie deine Bettruhe etwa aufgehoben oder wie hast du es hergeschafft?"

Johanna lächelt ein düsteres Lächeln. „Denkst du, ich bleibe ruhig sitzen, nachdem man mir erzählt, dass du dich schon wieder in Schwierigkeiten gebracht hast?"

„Das hättest du nicht tun müssen", sage ich und setze ein Lächeln auf, das offensichtlich nicht meine Augen erreicht. „Du musst dich schonen."

Johanna schnaubt und verdreht die Augen. Haymitch mischt sich ein, bevor sie etwas erwidern kann. Er macht einen Schritt auf mich zu und steht nun direkt neben mir. „Was ist das Letzte woran du dich erinnern kannst?"

Back to Business also. Ich seufze in mich hinein und werfe ihm einen Blick zu, der ihm sagt, wie wenig Lust ich habe, darauf zu antworten. Doch der Ausdruck in seinen eigenen Augen ist flehend und er wirkt so besorgt wie ich ihn nur selten erlebt habe. Es erinnert mich zu sehr an seine Zeit als Mentor, wenn er mal geistig anwesend genug war, um den Tod unserer Tribute tatsächlich zu registrieren. Also erzähle ich ihnen in knappen Worten, wie es zu dem Angriff gekommen ist. Wie ich hier gelandet bin, kann ich aber nicht sagen.

Katniss ergreift zum ersten Mal das Wort. Ihre Stimme ist leise und angespannt, aber eine Verwirrung brodelt darunter. Als könnte sie nicht glauben, mich hier wahrhaftig liegen zu sehen. Als würde es an schiere Unmöglichkeit grenzen. Ich frage mich, wie dieser Irrglaube in ihr aufkeimen konnte, dass ich nicht auf dieselbe Weise bluten könnte wie sie auch. Vielleicht sieht sie immer noch das Kapitol in mir und kann nicht begreifen, dass auch wir Leid erfahren können. „Eine Patrouille hat sich dort gefunden, wo man dich überfallen hat. Du warst bewusstlos als die Soldaten dich hergebracht haben."

Der Raum scheint sich durch Katniss' knappen Worte merklich aufzuheizen. Haymitch verkrampft kaum merklich und selbst Johanna beißt die Zähne zusammen, dreht mir dabei aber den Rücken zu. Ich zucke nur mit den Achseln. Meine Vergangenheit ist weit von einer reinen Weste entfernt und ich kann es ihnen irgendwie nicht verübeln, versucht zu haben, diese Ungerechtigkeit auf ihre eigene Art wieder gerade zu biegen. Auch wenn eine Menge Wut mit dem Übergriff verbunden war, war es letztlich eine Verzweiflungstat. Distrikt 13 ist in vielerlei Hinsicht nichts anderes als ein großes Gefängnis. Mein Gefängnis hat mich auch zu einer Verzweiflungstat gezwungen.

„Was willst du jetzt tun?", fragt Katniss, überrascht von meiner desinteressierten Reaktion.

Ich schüttele nur vage den Kopf und verfalle in eine abwesende, gleichgültige Haltung. Haymitch hält sich aus der Konversation zurück, ein seltsamer Blick in seinen Augen. Es ist das erste Mal, dass er diese verletzliche Seite von mir sieht – weil sie bis jetzt jedem außer dem Gefängnis im Kapitol vorenthalten war. Ich verschließe mich für einen Moment vor der Außenwelt und lausche auf mein Inneres. Es ist nicht die Furcht, auf die ich spekuliert hätte, sondern eine Resignation, die mir fremd ist. Eine Gleichgültigkeit demgegenüber, was geschehen ist und Haymitch und Katniss müssen es auch sehen, denn sie geben sich Mühe, ihre Gesichter neutral zu halten.

„Bist du nicht wütend? Sieh was sie mit dir gemacht haben", fügt Katniss dann mit einiger Distanz hinzu. Sie kann immer noch nicht allzu viel mit mir anfangen. Sie hasst mich nicht, aber in ihrem Kopf ist die Trennung zwischen Kapitol und Distrikten schwarz und weiß. Sie weiß, dass ich nicht auf der Seite ihres Feindes stehe und doch zählt sie mich nicht zu ihren Verbündeten. Sie schaut zu Haymitch und muss sich mit einem Mal am Bettgerüst festhalten, um aufrecht stehen zu können. Emotionen flackern über ihre Züge. Was auch immer sie auf dem Gesicht ihres Mentors erkannt hat, muss sie an einen eigenen Schmerz erinnern, denn plötzlich schaut sie weg und schafft es nicht mehr, meinem Blick zu begegnen. Als würde ich sie an jemanden erinnern.

Je weiter ich in meine Trance abrutsche, desto stärker wird der unsichtbare Wall um Haymitch. Als würde er sich vor meiner Gefühllosigkeit schützen wollen. Nur Johanna zuckt zu alldem nicht einmal mit der Wimper. Ihr grimmiges Lächeln wird von ihrem kantigen Gesicht umrahmt, während sie sich zu mir herüberlehnt. „Wütend auf ein paar Fremde, die was genau gemacht haben?" Sie greift nach meinem Arm und ihre flinken Finger ziehen mir den Morphiumschlauch in einer präzisen Reaktion aus der Armbeuge. Sowohl Haymitch als auch Katniss zucken, als würden sie nach vorne schnellen, falls ich Anzeichen des Widerspruchs mache. Doch ich lasse sie gewähren. Es ist sowieso kein Schmerzmittel durch den Kanal geströmt, sodass mein Körper nicht auf einem dieser Trips ist, die Johanna so genießt.

Fast schon geistesabwesend drücke ich den Knopf an der Leiste hinter dem Bett, nur um bei ihren folgenden Worten zusammenzuzucken. „Das ist doch gar nichts im Gegensatz zu dem, was sie im Kapitol durchgemacht hat", fährt Johanna fort und ihre fast schon feindseligen Augen ruhen auf Katniss. Ihre trockenen Lippen verzerren sich zu dem Geist eines Lächelns, das mich mehr an damals als an jetzt erinnert und sie dreht sich wieder zu mir. „Ich wette du hast die Schläge weggesteckt, ohne sie wirklich zu spüren. Wahrscheinlich könnte ich dir die Hand brechen und es wäre immer noch nichts zu dem, was–"

„Das reicht", knurrt Haymitch mit einer solchen Schärfe, dass die junge Siegerin ruckartig ihren Kopf in seine Richtung wendet. Haymitchs Hände sind zu Fäusten geballt und dennoch kann ich das Zittern seiner Fingerspitzen sehen. Er hat Mühe, seine Emotionen im Schach zu halten. Die Atmosphäre in dem kleinen Raum steht auf der Kippe, als er sich vor Johanna aufbaut. Wie ein Löwe es bei seiner Beute tut, bevor er sie in Stücke reißt. Haymitch zeigt Johanna die Zähne. „Kein weiteres Wort."

„Du hast mir nichts zu sagen", faucht Johanna zurück und zieht verärgert die Augenbrauen zusammen. Wäre sie bei voller Gesundheit, wäre sie die Herausforderung sicher eingegangen, seine angriffslustige Haltung zu imitieren. Drei Sieger in einem Zimmer kann Ärger mit sich bringen, aber wenn es sich dabei um Haymitch, Johanna und Katniss handelt, ist dieser unausweichlich.

„Es ist alles in Ordnung", unterbreche ich die beiden, bevor Johanna es sich womöglich doch anders überlegt und Haymitch an die Gurgel geht. Die Strenge in meiner Stimme ist genug, um sie wenigstens innehalten zu lassen. Ich schaue zwischen den beiden hin und her und atme tief ein. „Ich ... Johannas Aussage stört mich nicht."

Johanna ist vulgär und offen und unsere Bewältigungsstrategien, die Zeit im Gefängnis zu verarbeiten, könnten nicht unterschiedlicher sein: Sie lenkt sich ab, indem sie anderen Schmerzen zufügt, und ich stürze mich in neue Aufgaben, um zu vergessen. Aber nie reden wir über das, was tatsächlich vorgefallen ist. Mit niemandem. Es ist ein überraschender Versuch ihrerseits, mich von meinem gegenwärtigen Leiden abzulenken und obwohl es mich genau dort trifft, wo es wehtut, bewirkt es Wunder. Der Grund für meinen Krankenhausbesuch rückt in den Hintergrund, während die Erinnerungen an das Kapitol nun aus den hintersten Ecken meines Gedächtnisses hervorkriechen. Ich sage mir, dass es besser so ist als sich mit dem auseinanderzusetzen, was hier und jetzt in Distrikt 13 gegen mich im Schilde geführt wird.

Ein freudloses Lachen kommt mir über die Lippen und die drei starren mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Jetzt könnte ich einen Drink vertragen." Vielleicht hatte Dr. Jennings recht mit ihrer Prophezeiung, dass nur eine falsche Sache geschehen muss, um das Loch in meiner Brust wieder zu öffnen. Wenn ich nicht lerne, meine Vergangenheit aufzuarbeiten. Doch wie soll ich sie aufarbeiten, wenn ich nicht mal fähig bin, mit anderen über sie zu reden? Und nun trachtet man auch hier nach meinem Leben, auch wenn Johanna recht hat. Im Vergleich zum Kapitol war dieser Angriff nichts.

„Und ich erst", murmelt Haymitch tonlos und seinem Gesicht fehlt jede Menschlichkeit. Er sieht aus, als wäre er tot. Seine Augen treffen meine und mit einem Mal spüre ich sie wieder, diese Wärme in der Brust, die schon vor einigen Wochen ihren Weg in mein Herz gefunden hat. Sein Anblick bereitet mir mehr Kummer als das, was geschehen ist.

Meine Lippen ziehen sich wie von selbst nach oben und mein Ausdruck mildert sich, als ich eine Hand nach ihm ausstrecke. Haymitch zögert nicht, als er einen Schritt näherkommt und seine Finger sich um meine schließen.

„Das ist dann wohl mein Zeichen", murmelt Johanna, die unsere verschränkten Finger angewidert fixiert. Sie stöpselt sich aus dem Infusionskanal aus, springt vom Bett und schlüpft aus der Tür. Katniss folgt ihr ohne ein weiteres Wort.

„Willst du ihn haben?", fragt Haymitch und deutet auf den Schlauch, der nun nutzlos auf meinem Bett liegt, dort, wo Johanna ihn liegengelassen hat. Ich schüttele den Kopf und lege ihn auf den Nachttisch, damit er mir nicht im Weg ist. Haymitch lässt sich in einer vorsichtigen Bewegung neben mir nieder. Sein Daumen zeichnet unsichtbare Kreise auf meinen Handrücken und für eine Weile lauschen wir der Stille um uns herum.

„Deine Haare sind gewachsen", bemerkt er irgendwann, unsicher, was er sonst sagen soll.

Mit der anderen Hand berühre ich meinen Kopf und fahre mir durch die blonden Strähnen, die mittlerweile meine Schultern erreichen. Ich hatte sie kurz nach meiner Ankunft in 13 auf eine einheitliche Länge geschnitten und nun wachsen sie alle in identischem Tempo weiter, was mich erleichtert. Ich schenke Haymitch ein Lächeln und frage mich im selben Moment, wie ich es zustande kriege. Er mochte mein Haar von dem Moment an als er es zum ersten Mal gesehen hat. Ich habe es immer schon gehasst. Jetzt noch mehr als damals. Werde ich zu meinen Perücken zurückkehren, wenn der Krieg ein Ende nimmt? Es gab eine Zeit, in der es mir unmöglich erschien, mich anderen ohne sie zu zeigen. Doch seit den Monaten im Gefängnis, seit man mir dieses Recht genommen hat, ist das anders.

„Wie geht es dir?", frage ich dann und ihm entfährt ein raues Schnauben.

„Ich sollte derjenige sein, der diese Frage stellt, Süße."

Erneut schüttele ich den Kopf und schaue ihm direkt in die Augen. Flüssiges Silber in der Mitte eines dunklen Rings. „Dich scheint es mehr mitzunehmen als mich." Meine Worte sind ehrlich und direkt auf den Punkt und ich sehe, wie er für mehrere Sekunden erstarrt.

„So sollte es aber nicht sein", presst er unter zusammengebissenen Zähnen hervor. Eine unangenehme Kälte hat sich in seinen Ton geschlichen, die mich an die Art erinnert, wie er manchmal mit Katniss redet, wenn sie etwas Dummes gemacht hat.

Ich hebe eine Augenbraue, kein Interesse daran, von ihm belehrt zu werden und warte. Meine Züge werden hart als ich ihn mustere.

„Ich sollte nicht der Einzige sein, der für dich kämpft, Effie. Du solltest es auch tun." Die Endgültigkeit in seiner Stimme stört mich. Meine Finger jucken in dem Drang, sie wütend zusammenzuballen und ich entreiße ihm meine Hand.

„Wenn du früher damit angefangen hättest, wäre ich jetzt vielleicht dazu in der Lage", erwidere ich spitz und presse die Lippen aufeinander. Mir gefällt die Richtung nicht, die diese Konversation mit einem Schlag genommen hat. Ich senke den Kopf, damit er mir nicht mehr ins Gesicht schauen kann.

„Du weißt, dass das unfair ist", knurrt Haymitch.

Ich zucke mit den Schultern. „Mag sein, aber die Welt ist nun mal unfair, Haymitch. Das weißt du, besser als ich."

Etwas in der Atmosphäre verändert sich, als würde sich das Licht um uns herum mit einem Mal verdunkeln. Ich weiß, dass ich auf ein Thema stoße, das wir lange undiskutiert gelassen haben. „Ich habe mich schon gewundert, ob wir die ewigen Streitereien mit unserem Neustart in Dreizehn endlich hinter uns gelassen haben. Aber du scheinst ja erpicht darauf zu sein, dich wieder in diese nervige Version deiner Selbst zu verwandeln."

Für den Bruchteil einer Sekunde frage ich mich, ob ich verletzt oder verwundert über Haymitchs Worte sein soll. Zu meiner Überraschung bin ich nichts davon. Das hier ist unser altbekanntes Spiel. Es ist unsere Art miteinander umzugehen, seit unserer ersten Begegnung damals in Distrikt 12 bis zu unserer letzten im Penthouse ist sie es immer gewesen. Elf Jahre des Neckens und der Uneinigkeit lassen sich weder so einfach vergessen noch ablegen. Die Wochen an Schwäche und Verzweiflung meinerseits haben dafür gesorgt, dass diese Tatsache in weite Ferne gerückt ist. Doch jetzt, wo es mir langsam besser geht, verschiebt sich unser Umgang wieder in alte Muster zurück. Nicht vollständig, aber Stück um Stück.

Seine Worte verärgern mich, genauso wie er es geplant hat und ich spüre die Zornesröte in meinen Wangen aufsteigen, als ich ihm meinem Gegenschlag entgegenwerfe, ohne mit der Wimper zu zucken. „Neustart?" Meine Stimme hat eine Kälte angenommen, die aus den Tiefen meines Bewusstseins spricht. Ein Gefühl, das ich nicht kontrollieren kann, weil es sich nicht so anfühlt, als würde ich die Worte sprechen, sondern ein fremder Teil meiner Selbst. „Du hast mich im Kapitol zum Sterben zurückgelassen, Haymitch. Ich habe nicht jeden Tag ums Überleben gerungen, nur um hier einen anderen zerbrochenen Teil meiner Vergangenheit wieder aufzurollen."

Haymitch starrt mich an, als stünde Präsident Snow persönlich vor ihm. Ein lodernder Hass brennt in seinen grauen Augen, er ist vom Bett aufgesprungen und jeder Muskel seines Körpers wartet darauf, in Bewegung gesetzt zu werden, um etwas oder jemandem wehzutun. Dann öffnet er seinen Mund. „Verdammt, Effie", flüstert er mit einer bebenden Stimme, die mich mit einer solchen Stärke zurück in die Gegenwart katapultiert, dass ich beinahe zusammenzucke. Unverzeihlicher Schmerz, der so tiefgeht, dass er mir die Luft zuschnürt, huscht über sein Gesicht. Ich bereue jeden Satz, den ich hervorgebracht habe, als er in einer fast verwirrten Geste zur Seite schaut und die Hände zu Fäusten ballt. Tränen stehen ihm in den Augen und er hat Mühe, sie wegzublinzeln. Ich weiß, dass sie nicht fallen werden. Ich habe ihn in elf Jahren noch nie weinen gesehen. Er fasst sich keine Sekunde später. Es ist einer dieser Momente, in denen es selbst mir nicht möglich ist, durch seine Mauern hindurchzuschauen. „Wenn du meine Anwesenheit so abstoßend findest, hättest du nur etwas sagen müssen."

„Es tut mir leid", sage ich so schnell, dass er kaum einen Fuß vor den anderen setzen kann, auf seinem Weg raus aus meinem Zimmer. „Ich hätte das nicht sagen dürfen. Ich weiß, was es dich gekostet hat. Bleib hier, bitte geh nicht."

„Rechthaberisch wie eh und je", murmelt Haymitch, tut jedoch was ich sage. Er verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse. „Was ist nur los mit dir? Sonst bist du doch auch nicht so drauf."

Ich schüttele unwissend den Kopf und schließe müde die Augen. „Warum kann das nicht einfach ein Traum sein, aus dem ich in meinem Bett im Kapitol aufwache und alles ist wie immer?"

„Ja genau, alles ist scheiße wie immer", bemerkt Haymitch düster als er sich wieder neben mich aufs Bett setzt. „Kinder sterben, Menschen verhungern, Meinungen werden unterdrückt. Wie wunderbar." Ich höre die unausgesprochenen Worte. Die unausgesprochenen Namen derer, für die er sich verantwortlich fühlt. Chaff. Mags. Die achtzehn Kinder, die unter unserer Obhut gestorben sind. Seine Familie. Sein Mädchen.

„Meine Güte, du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe", zische ich, nun meiner alten Stimme wieder etwas näher. „Ich will einfach die Normalität zurück, die mir seit den Spielen fehlt. Morgens aufzuwachen und zu wissen, wo ich hingehöre. Ich will eine Aufgabe, einen Lebenssinn. Ich will ein Leben. Das hier ist kein Leben, Haymitch."

„Es wird nicht immer so sein", sagt er nachdenklich. „Der Krieg wird bald vorbei sein."

„Natürlich. Und sobald der Krieg vorbei ist, wird alles von jetzt auf gleich so viel besser sein. Ich freue mich schon so sehr."

„Sarkasmus steht dir nicht, Süße", ist alles, was er darauf erwidert.

„Aber ist es nicht so? Ihr hofft so sehr auf das Ende des Krieges, ohne zu wissen, wie es danach weitergeht. Nicht jeder hat diesen Luxus", sage ich mit meiner höflich distanzierten Stimme, die Haymitch so hasst, weil sie ihn an das Kapitol erinnert.

Ich wende den Kopf ab und schaue zur kargen Wand. Karg und grau, wie alles derzeit. Wann werde ich wieder Farbe in mein Leben bringen? Das Gesicht meiner Schwester taucht vor meinem geistigen Auge auf. Die perfekte Tochter, die perfekte Ehefrau, die sich immer den Worten anderer gebeugt hat und ein so vorbildliches Leben führte. Tief in meinem Herzen hoffe ich immer noch, dass diese Ehe sie retten konnte. Der Gedanke, dass selbst Aurelia meinetwegen tot ist, kann ich nicht ertragen und ich will ihn nicht akzeptieren. Wird es mir, angesichts der unzähligen Menschenleben, die auf meinem Gewissen lasten, überhaupt jemals möglich sein, die Farben zurückkehren zu lassen? Wie werde ich mit alldem klarkommen, wenn ich wieder allein im Kapitol sein werde? Ohne Johanna, ohne Haymitch und ohne meine Familie.

Haymitch greift erneut nach meiner Hand und zieht einmal daran, um mir zu signalisieren, ihn wieder anzuschauen. Als unsere Blicke sich treffen, streicht er mir mit seiner anderen Hand über die Wange. Seine Haut ist warm und mir so vertraut, dass ich mich gegen sie schmiege, ohne nachzudenken. Für einen Moment schließe ich die Augen und versuche, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken.

„Ich weiß, dass die Situation schwierig für dich ist. Ich hätte da sein sollen." Ich weiß, dass er nicht von der Zeit im Kapitol redet. Ich weiß auch, wie schwer es ihm fällt, die Worte laut auszusprechen. Seine Gefühle zu offenbaren ist etwas, dem Haymitch schon viel zu lange aus dem Weg geht. Er hat zu lange ein Leben in emotionaler Isolation geführt, um sich von jetzt auf gleich zu öffnen, wie man es bei einem Buch erwarten würde.

Ich schüttele mit dem Kopf, halte meine Augen jedoch geschlossen, als ich seine Hand drücke. „Sie hätten dich überwältigt, Haymitch. Sie waren zu dritt."

„Das hätten sie versuchen sollen", presst er knurrend hervor und ich verziehe beinahe die Lippen, weil ich weiß, dass er sie wahrscheinlich alle umgebracht hätte, wenn er dagewesen wäre.

„Was geschehen ist, ist geschehen. Ich hoffe nur, dass mir das in Zukunft erspart bleibt."

„Das wird es. Ich werde dich nicht mehr aus den Augen lassen", verspricht Haymitch und korrigiert sich dann. „Keiner von uns wird das. Du kennst Katniss und Finnick. Sie beschützen ihre Leute."

„Aber sie haben andere, um die sie sich kümmern müssen. Ich bin schon viel zu lange eine Last", erkläre ich und öffne nun die Augen, um ihm mit einem Blick verständlich zu machen, wie sehr mich dieser Zustand stört.

„Du überdramatisierst wie üblich", bemerkt Haymitch und seufzt während er die Augen verdreht, als hätte ich etwas überaus Dummes gesagt.

„Sicher, dass du hier nicht gerade überdramatisierst?" Ein kleines Lächeln spielt mir um die Lippen und einen Augenblick lang fühlt es sich zwischen uns an wie früher. Ich hebe meine Augenbrauen in einer stummen Herausforderung und warte auf den feixenden Kommentar, der jedoch nie kommt.

Haymitch grinst nicht zurück. Seine ernsten, grauen Augen verharren auf seiner Hand, die zwischen uns in der Luft schwebt und gegen die ich immer noch meinen Kopf lehne. Ich kenne diesen unzufriedenen Blick. Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen, als ich meine Gedanken in Worte formuliere. „Sag es einfach."

Haymitch drückt meine Hand etwas fester und beginnt wieder damit, Kreise auf meine Haut zu zeichnen. Während ich seinem Daumen dabei zuschaue, frage ich mich, wie es dazu kommen konnte, dass diese Berührung nichts Seltsames für mich ist. Ich genieße das Gefühl seiner warmen Haut auf meiner. Ich genieße seine Nähe. Ich genieße es, mich nicht verstellen zu müssen, weil er mich sowieso durchschauen würde. Während des Jubeljubiläums habe ich meine Maske fallen lassen, genauso wie er. Wir haben uns langsam wieder angenähert und den Frost der vergangenen elf Jahre schmelzen lassen. Und obwohl ich eine lange Zeit dachte, dass mit meiner Gefangenschaft im Kapitol alles, jede Freundschaft, jede Emotion, verloren wäre, hat es sich doch anders entwickelt.

Meine Augen suchen seine und für einen Moment sind wir gefangen in den Blicken des anderen. Unfähig, uns loszureißen. Dann seufzt Haymitch und senkt erschöpft den Kopf. „Peeta geht es etwas besser", beginnt er und alles, was ich verspüre, ist eine eigenartige Erleichterung. „Sie lassen ihn nun frei in seinem Zimmer herumlaufen und sein Verhalten den Ärzten gegenüber hat sich gebessert, weil er endlich merkt, dass sie ihm nichts Böses wollen. Er hat lange gebraucht, um zu verstehen, dass er nicht mehr im Kapitol ist. Viel länger als jeder von euch."

Ich freue mich darüber. Wie könnte ich auch nicht? Ich denke oft an Peeta, an unsere Interviews im Kapitol und was sie ihm währenddessen alles angetan haben müssen. Es ist schwer, diese Bilder aus meinem Kopf zu schieben und an den alten Peeta zurückzudenken. Vielleicht, weil alle meine Erinnerungen an die Zeit vor dem Gefängnis in eine schwache Dunkelheit gerückt sind. Vielleicht, weil meine letzte Begegnung mit dem echten Peeta so lange zurückliegt. Unsere Verabschiedung im Penthouse? Die Interviews? Ich erinnere mich kaum mehr daran ...

„Das sind tolle Neuigkeiten", sage ich und lächele leicht. „Was ist mit seinem Verhalten Katniss gegenüber?"

Haymitchs Gesicht verrät nichts. „Die Ärzte sind immer noch in der Phase, das herauszufinden. Du weißt ja, dass sie Prim zu ihm geschickt haben und er ausgerastet ist. Sie denken, dass es vielleicht besser wäre jemanden zu ihm zu lassen, mit dem er eine gemeinsame Vergangenheit teilt ..." Er räuspert sich und schafft es nicht, meinem Blick zu begegnen. „Eine gemeinsame Vergangenheit im Kapitol."

Es dauert eine volle Minute, bis die Worte in meinem Verstand Sinn ergeben. Meine Augen weiten sich in Überraschung. „Sie wollen, dass ich versuche, mit Peeta zu reden?"

Haymitch stöhnt leise in sich hinein. „Sie hoffen, dass er dir vertraut, weil ihr ... Ähnliches durchgemacht habt und er dich dadurch vielleicht in einem anderen Licht sieht. Wenn er versteht, dass du frei bist und es dir gut geht, ist er möglicherweise offener für anderes. Plutarch bittet dich persönlich darum."

Ich schnaube brüskiert. „Plutarch hätte persönlich herkommen können." Ich schweige kurz und schaue dann zu Haymitch. „Du willst nicht, dass ich gehe", stelle ich fest.

Haymitch weicht meinen suchenden Blicken aus. „Er ist gefährlich, Effie, ich mache mir da nichts vor. Schau was er mit Katniss gemacht hat."

„Unsere Beziehung ist anders", flüstere ich und spähe an ihm vorbei zu den Fenstern, die hinter grauen Vorhängen verborgen liegen. „Ich bin mir sicher, dass er mir zuhören wird."

„Nichts, was ich sage, wird dich davon abbringen, oder?"

Ich schüttele den Kopf und bringe ein Lächeln zustande. „Ich würde alles tun, um Peeta zu helfen."

„Ich weiß." Haymitch seufzt. „Diese Antwort habe ich befürchtet."

„Du würdest dasselbe an meiner Stelle tun." Darauf kann er nichts erwidern, denn es entspricht der Wahrheit. Er hat mich zurückgelassen, um Katniss zu retten. Er würde alles für die Kinder tun. „Hilf mir auf", fordere ich dann. „Ich will keine Zeit verschwenden."


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Eigentlich wollte ich das Kapitel teilen, weil es so lang war, aber hätte es in der Mitte von der Diskussion zwischen Haymitch und Effie einen Cut gegeben und das fand ich doof. Deshalb hier das ganze Kapitel. Sorry, dass ich so spät dran bin, ich dachte echt, es wären erst zwei Wochen seit meinem letzten Upload vergangen. Happy February! :)

LG

Skyllen

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