41. Rhythms and Enemies

Rhythms and Enemies

Der Rhythmus von Distrikt 13 zieht mich schnell in seinen Bann. Die Puzzleteile fügen sich alle langsam zu einem einzelnen Bild zusammen. Meine Genesung schreitet mit jedem Tag weiter voran. Zumindest äußerlich. Ich habe etwas an Gewicht zugelegt und ich bin froh darüber, auch wenn es noch etwas dauern wird, bis ich meine alte Kleidergröße erreichen werde. Die Farbe meiner Haut hat einen gesünderen Ton angenommen und selbst mein Haar regeneriert sich. Die dunklen Flecken auf meinem Körper, die das letzte Überbleibsel der Zeit im Kapitol sind, haben sich mittlerweile in Luft aufgelöst. Dort wo man mir wehgetan hat, zieren nun blasse Male meinen Körper. Diese Narben werden niemals verschwinden. Sie werden mich für den Rest meines Lebens daran erinnern, was ich durchlebt habe. Überlebt habe.

In meinem Kopf schreitet die Rehabilitation nicht so schnell voran. Dr. Jennings meint, dass es nur normal sei und mich noch eine lange Weile begleiten wird. Sie hat den Eindruck, dass ich mein Trauma herunterspiele, gar unterschätze. Das tue ich nicht. Alles, was ich will, ist, mit meinem Leben fortzufahren, zu vergessen, was mir widerfahren ist. Doch diese Erinnerungen, die Träume, die Angst ... all diese Gefühle in meiner Brust hindern mich daran. Also versuche ich, sie von mir zu schieben. So gut es geht. In den letzten Tagen hat sich einiges getan, sodass mir der Tanz auf Messers Schneide gelingt, doch Dr. Jennings fürchtet, dass nur ein falscher Moment dafür sorgen könnte, dass mein Schock wieder Besitz von meinem Geisteszustand ergreift.

Nichtsdestotrotz hält sie mich für stabil genug, die Krankenstation dauerhaft zu verlassen. Zu Beginn war ich erfreut über ihren Entschluss und die Unterschrift auf dem offiziellen Entlassungspapier, welches diesen bestätigt. Doch die Euphorie in meinen Adern hält gerade einmal so lange, bis der Mann in grauer Uniform, der mich eines Morgens abholt und zu meinem neuen Komplex begleitet, mir meine neuen Mitbewohner vorstellt. Bei der Politik von Distrikt 13 hätte mir schon viel früher klarwerden müssen, dass Coin nicht viel von Einzelzimmern halten würde. Schließlich wäre das die Verschwendung einer der wichtigsten Ressourcen, die es hier gibt: Platz.

Der Offizielle, der mich zu meinem neuen Raum begleitet, trägt ein Klemmbrett in den Händen und scheint einige Dinge von seiner Liste zu streichen, ohne mich über deren Inhalt auch nur im Geringsten in Kenntnis zu setzen. Ich kenne ihn nicht, habe ihn noch nie gesehen und er redet kaum ein Wort mit mir. Sein grimmiges Gesicht macht deutlich, dass er wohl nicht der Typ zum Reden ist. Erst als wir vor meinem neuen Schlafkomplex ankommen, erklärt er mir kurz angebunden einige Regeln und informiert mich darüber, dass ich ab morgen einen Job in einer der Wäschereien haben werde. Ich soll meine Hand nach dem Aufstehen unter den dafür vorgesehenen Scanner halten, um meinen ersten Tagesplan zu erhalten. Nach dem Frühstück wird mich jemand abholen, um mir den Weg zu der Wäscherei zu zeigen. Das ist alles, was er mir mitteilt, bevor er sich mit einem knappen Nicken verabschiedet und im Korridor verschwindet.

Mein Zimmer befindet sich fernab der Krankenstation, auf einer höheren Ebene, die einzig und allein den Unterkünften der Bewohner von Distrikt 13 gewidmet ist. Haymitchs Räumlichkeiten befinden sich zwar auf derselben Ebene, sind jedoch kaum näher als der Krankenkomplex. Der Distrikt ist doch einiges größer, als ich zuerst angenommen habe und ich bin froh, dass ich einige Wege kenne, ohne jemand anders fragen zu müssen.

Wie sich herausstellt, teile ich mir meinen Komplex mit zwei weiteren Frauen, Dasha und Betha, beide Flüchtlinge aus Distrikt 5. Wenn meine Vermutung richtig liegt, sind sie Schwestern. Zumindest sehen sie sich mit ihren hellbraunen Haaren und grünen Augen ähnlich genug. Aber ich kann nur mutmaßen, denn wie erwartet sprechen sie kein Wort mehr als nötig mit mir. Sie wissen, wer ich bin, ich sehe es ihren verstohlenen Blicken an, die sie mir tagtäglich aus den Augenwinkeln zuwerfen.

Sie müssen einen Groll gegen das Kapitol hegen, das ist klar, aber an einem Ort wie Distrikt 13 wird es wohl kaum jemanden mit gegensätzlicher Einstellung geben. Jeder hier hasst das Kapitol. Ich weiß nicht, was die Schwestern durchmachen mussten, um heute hier zu stehen. Jeder hat seine eigene Last zu tragen und nicht jedem kann man den durchlebten Schrecken sofort in den Augen ablesen. Egal, was die beiden zu ihrer Flucht bewegt hat, es kann nichts Gutes gewesen sein. Dashas Gesicht, über deren linke Wange eine lange, kalkweiße Narbe verläuft, spricht mehr als tausend Worte.

Das Zusammenleben mit Dasha und Betha ist schwierig. Meine Herkunft verschlimmert die Situation, genauso wie meine Vergangenheit. Sie kennen nicht nur meinen Namen, sie wissen auch von der Rolle, die ich in den Hungerspielen innehatte. Sie wissen von dem Blut, das an meinen Händen klebt. Keine der beiden schreit oder prangert mich offen an, aber ihr Verhalten genügt, um sich im Klaren darüber zu sein, dass jemand wie ich in ihren Vorstellungen eines gerechten Panems kein langes Leben führen würde.

Die unbändige Angst in meinem Körper stellt mir weitere Steine in den Weg. Jeder Gang zu meinem Zimmer bereitet mir ein unkontrollierbares Herzklopfen, weil ich ihnen nicht in die Augen schauen will. Die Feindseligkeit, die ich außerhalb meiner vier Wände mit jedem vergehenden Tag mehr und mehr zu spüren bekomme, genügt mir. Die Albträume, die mich Nacht um Nacht mit einem wimmernden Schrei aus dem Schlaf reißen, tragen ebenso wenig zu einem friedlichen Gefühl zwischen uns bei. Ich fühle mich nicht sicher. Ich kann mich nicht gehen lassen, weil ich stets fürchte, für jede Regung meiner selbst verurteilt zu werden. Ich kann nicht in Ruhe atmen, ohne dass eine gefährliche Mixtur aus Furcht und Schuld meine Lungen füllt, die meine Finger zum Zittern bringt.

Also versuche ich, Dasha und Betha so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Wie schon vor der Zeit meines eigenen Zimmers, bin ich meistens bei Johanna. Manchmal, wenn ich die Spannung in meiner Unterkunft nicht aushalte oder der Gedanke, dorthin zurückzukehren, das Eis in meinem Körper weiter ausbreitet, schlafe ich sogar bei ihr. In dem ungemütlichen, grauen Stuhl neben Johannas Bett. Wenn man mich denn nicht wegschickt, was manchmal vorkommt, wenn der falsche Arzt die Nachtschicht hat.

Auch außerhalb dieser vier Wände, die eigentlich ein sicherer Hafen für mich sein sollten, nehmen die Anfeindungen langsam zu. Mehr Leute nehmen mich wahr. Meine Treffen mit Haymitch bleiben nicht länger unbemerkt, sondern sprechen sich herum. Als einzige Person weit und breit mit einem Haartuch auf dem Kopf bin ich leicht zu erkennen. Einzelne beginnen sich zu trauen, mich anzusprechen. Es ist schon zweimal vorgekommen, dass mir jemand einfach irgendwo den Weg abschneidet und sich vor mir aufbaut, um mich daran zu erinnern, dass man mich nicht vergessen hat. Anspielungen auf meine Taten als Eskorte. Kritik an der engen Verbindung zu Katniss und Haymitch, die hier definitiv nicht gutgeheißen wird.

Es sind nichts als Worte. In der Position, die ich im Kapitol besaß, gab es ebenfalls genügend missgünstige Menschen. Neider, Hasser, Kritiker. Distrikt 13 macht da keinen Unterschied. Zumindest ist es das, was ich mir versuche einzureden. Eines ist mir durch die Feindseligkeit jedoch aufgefallen: Es handelt sich nie um ursprüngliche Einwohner aus 13. Beide Male waren es Menschen aus einem der anderen Distrikte, auch wenn ich nicht sagen kann, aus welchen. Es ist einfach, Flüchtling von Einheimischen zu unterscheiden. Die Leute von hier verhalten sich meistens neutraler, zeigen weniger Gefühl. Ihre Körperhaltung ist starrer und präziser und die jahrelange Disziplin strahlt von innen aus ihnen heraus.

Obwohl es sich bei keiner der zwei Anfeindungen um einen Angriff oder dergleichen gehandelt hat, haben sie mir beide Male einen Heidenschreck eingejagt, sodass ich mich für den Rest der Tage bei Johanna versteckt und weder zu Mittag- oder Abendessen einen Fuß aus dem Krankenzimmer gesetzt habe. Auch wenn die junge Siegerin mein Verhalten seltsam fand, hat sie mich nicht darauf angesprochen. Wahrscheinlich hat sie meine seltsame Haltung auf mein Trauma zurückgeführt, auf eine der Panikattacken.

Ich bin froh über Johannas falsche Herleitung. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie dazu zu sagen hätte. Selbst Haymitch - vor allem Haymitch - habe ich nichts erzählt. Er würde noch mehr Zeit mit mir verbringen wollen, als er sowieso bereits tut. Nicht, dass ich an seiner Gesellschaft etwas auszusetzen hätte, ganz im Gegenteil. Die Beziehung zu Haymitch hat sich jahrelang wie ein wilder, holpriger Tanz angefühlt; mal langsam, mal schnell, aber nie im Takt der Musik. In Distrikt 13, nun wo keine Geheimnisse, keine verfeindeten Seiten mehr zwischen uns stehen, spüren wir endlich den Rhythmus der Melodie und sind in der Lage, uns aneinander anzupassen. Natürlich ändert es nichts daran, dass immer noch Jahre an Grauen zwischen uns liegen. Das Kapitol, die Hungerspiele und all die einhergehenden Verluste zu überwinden und zu vergessen, wird eine Aufgabe sein, der wir, aber vor allem Haymitch, uns eines Tages stellen müssen. Im Moment leben wir von Tag zu Tag und sind dankbar für das, was wir bekommen können.

Und doch brauche ich Zeit für mich. Ich brauche Luft zum Atmen. Wenn ich in Haymitchs Nähe bin, fühlt sich alles um uns herum so surreal an, dass ich mich manchmal darüber wundere, ob das Kapitol mir in den vergangenen Wochen nicht doch einen großen Streich gespielt hat. Immer wenn er da ist, fürchte ich, gleich aus einem tiefen Traum geweckt zu werden. Erst meine Zeit allein erinnert mich daran, dass alles hier tatsächlich die Realität ist.

Ein anderer wesentlicher Punkt, weshalb ich ihm nichts von den Anfeindungen erzählt habe, ist seine Eigenschaft, die Menschen zu beschützen, die ihm etwas bedeuten. Mittlerweile kenne ich die meisten von Haymitchs Facetten. Dieser Instinkt ist tief in ihm verwurzelt und es gibt nicht viel, das er nicht für seine Familie tun würde. Erst recht nicht, nach dem was seiner Blutsverwandtschaft zugestoßen ist. Er hat sich einer Rebellion gegen das System, das er seit Jahren fürchtet und verabscheut, angeschlossen, um Katniss' Leben zu retten. Er hat seine Seele an den Teufel verkauft, um mein jüngeres Ich vor dem wahren Gesicht meiner Heimat zu bewahren. Ich kann ihm nichts hiervon erzählen, weil er jeden Stein in Bewegung setzen würde, um seinem Drang nach Sicherheit nachzukommen.

Einer der wenigen Lichtblicke derzeit ist tatsächlich mein neuer Job, den man mir zugewiesen hat. Die meisten der übrigen Arbeiter in dem Bereich werfen mir zwar ebenfalls misstrauische Blicke zu, lassen mich jedoch in Frieden. In der Wäscherei hat jeder Mitarbeiter seine eigene Fläche mit mehreren Dutzend Waschmaschinen, die überwacht werden müssen. Fast jeder Vorgang läuft automatisch ab: Die Kleidung fährt von selbst in und aus den Trommeln und auch der Waschvorgang startet ohne Hilfe von außen. Die Technik dahinter ist schlau genug, um die Wäsche abzuwiegen und die geeignete Dosis an Säuberungsmittel hinzuzufügen. Alles, was wir tun müssen, ist den leeren Maschinen neue Ladungen an schmutzigen Textilien zuzuweisen und die Frischen über die digitalen Systeme zu den zugehörigen Komplexen umzuleiten, von wo sie an die Wäscherei geschickt worden sind.

Man braucht nicht viel Grips für die Arbeit und sie ist eher eintönig, als dass sie mir wirklich Freude bereitet, doch sie fordert meine Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die ich dann nicht mehr den Gedanken im meinem Kopf widmen kann. Manchmal habe ich Angst, dass ich damit die Aufarbeitung meines Traumas nur aufschiebe. Jedoch hofft der Großteil von mir, dass ich eben das bereits tue, bei alldem was in 13 um mich herum geschieht.

Aufarbeiten. Es war mein letztes Gespräch mit Dr. Jennings, in dem sie mich darauf hingewiesen hat, die Gedanken nicht zu verdrängen, die mich an das erinnern, was hinter mir liegt. Es würde mein Leiden auf lange Sicht nur schlimmer machen. Ich solle mein Leben leben, aber falls mich irgendeine Situation an meine Zeit im Gefängnis des Kapitols erinnern sollte, solle ich Abstand nehmen und im Nachhinein über die Ursachen meiner Panik nachdenken. Damit ich verstehe, welche Trigger möglicherweise als Ventile für meine Angst dienen.

Ich bin nicht wirklich gut darin, meine Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie zu verdrängen oder zu ignorieren, würde wohl eher treffen, was ich in den vergangenen Wochen getan habe. Vielleicht arbeite ich die Dinge ja doch auf, ich kann es nicht genau sagen. Alles, was ich weiß, ist, dass es mir langsam besser geht. Haymitch tut mir gut, auch wenn keiner von uns das Band zwischen uns beschreiben will; oder kann. Unsere Beziehung war schon immer ein Tanz auf Messers Schneide und auch wenn wir bereits lernen, miteinander klarzukommen, wird es wohl noch lange dauern, bis wir die wahren Personen hinter den gespielten Fassaden kennen. Effie Trinket und Haymtitch Abernathy sind nichts weiter als Personen des öffentlichen Lebens, die Jahr für Jahr ihr eigenes kleines Spiel zu spielen hatten. Unabhängig voneinander. Für die Kameras. Ich für meine Familie und die Menschen im Kapitol, die ich beeindrucken wollte. Er für seinen Distrikt und Snow. Für die Kinder, die er nicht retten konnte. Für die zurückgebliebenen Eltern, denen er täglich in die Augen schauen musste, mit dem Wissen, dass er versagt hatte. Für das Kapitol, damit sie ihn in Ruhe ließen und sich von seiner Einsamkeit überzeugten.

Alles, was wir getan haben, was wir Panem vorgespielt haben, war stets in unserem eigenen Interesse. Jetzt, wo uns dieser Druck von den Schultern genommen wurde, sind die Geister derer, die uns einst belastet haben, alles, was uns davon abhält, unsere tatsächlichen Persönlichkeiten zu entfalten. Diese Geister, diese Schuld, diese Erinnerungen aus unserer Aufmerksamkeit zu schieben, wird dauern. Bis dahin können wir einander beistehen. Bereits jetzt habe ich Seiten von Haymitch kennengelernt, die ich so nie für möglich gehalten hätte. Nicht, weil ich ihn nicht für die Art von Mensch gehalten hätte, sondern weil ich gedacht habe, dass diese Teile seiner Persönlichkeit vor Jahren in ihm gestorben wären.

Da ist nichts zwischen uns. Haymitch und ich machen nichts, außer zu reden, herumzulaufen oder stillschweigend nebeneinanderzusitzen, um unseren eigenen Gedanken hinterherzuhängen. Und doch fühle ich mich ihm auf so vielen Ebenen verbunden. Ich habe keine Ahnung wie es ihm geht, wie viel ihm diese Verbindung bedeutet, aber nun, wo meine Familie und alles das ich jemals geliebt habe, für immer verloren ist, sind er, Peeta und Katniss alles, was mir noch bleibt. Die letzten zweieinhalb Jahre habe ich für sie gekämpft und mittlerweile bin ich an einem Punkt angelangt, an dem es kein Zurück gibt.

Desto länger ich in Distrikt 13 bin, desto mehr scheint sich alles um mich herum zusammenzufügen. In manchen, wenigen Momenten fühlt es sich wieder ein bisschen so an wie früher, bevor alles zur Hölle gefahren ist. Wir lachen, lächeln und erzählen uns alte Geschichten, die sich zu vergangenen Hungerspielen ereignet haben. Doch dann drehe ich mich um, schaue in die Gesichter der Menschen neben mir und mir wird klar, wie viel sich doch verändert hat: Johannas betrübter, feixender Ausdruck. Finnicks fragiles, dankbares Lächeln. Katniss' verlorener, weit entfernter Blick. Haymitchs zerrissene und doch zufriedene Augen. Chaff fehlt in unserer Mitte, er fehlt Haymitch. Und dann ist da natürlich noch Peeta, dessen Abwesenheit ein Loch in unsere Mägen bohrt und Katniss an den Rand der Verzweiflung treibt. Und doch fügt sich alles zusammen. Ob man will oder nicht. Niemand kann die Zeit aufhalten, nicht einmal Snow, der hoch oben in seinem Palast im Kapitol sitzt. Und die Zeit spielt gegen die meisten von uns.

Wenn Johanna mal nicht in der Verfassung ist, meine Anwesenheit zu ertragen und auch Haymitch einem seiner Meetings im geheimnisvollen Kontrollzentrum Folge leisten muss, verbringe ich meine Zeit bei Finnick und Annie. Abseits von Haymitch war er einer meiner ersten Freunde in den Riegen der Sieger. Und auch Annie, der ich lange nichts als ihren Namen zuordnen konnte, entpuppt sich als eine liebenswürdige Person, mit der ich mich von Anfang an gut verstehe. Wir sprechen nicht über unsere Zeit im Kapitol, sie kann nur schwer damit umgehen. Trotzdem weiß sie, dass ich ähnliches durchgemacht habe wie sie. Vielleicht hat Finnick es ihr erzählt, vielleicht erkennen wir Gezeichneten uns tatsächlich untereinander.

Annies Geisteszustand ist in einem zerbrechlichen Zustand. Haymitch hatte mir bereits während eine der letzten Saisons davon erzählt, als wir auf sie zu sprechen kamen und doch habe ich es damals völlig falsch verstanden. Es gibt Phasen, in denen sie einfach nur dasitzt und nichts tut, als wäre sie an einem völlig anderen Ort als Finnick und ich. Wenn es ganz schlimm ist, hält sie sich die Hände auf die Ohren, wippt vor und zurück und murmelt wirre Worte vor sich hin, die nur für sie Sinn ergeben.

Finnick gibt sich große Mühe mit ihr. Nun, wo ich sie endlich zusammen erlebe, verstehe ich die neckenden Anspielungen, die er sich in den vergangenen Jahren von Johanna hatte anhören müssen. Jedes Mal, wenn er sie mit einem seiner liebenden, gedankenverlorenen Blicke betrachtet, erwärmt sich mein Herz. Die Dynamik der beiden, die Art wie sie umeinander tanzen wie Magnete, ist wunderschön anzuschauen. Es ist die Art der Liebe, die ich mir als Kind immer sehnlichst gewünscht habe.

„Miss Trinket", flüstert eine unzufriedene Stimme und ich hebe meinen Kopf. Ich muss eingenickt sein. Meine Augen blinzeln gegen die Dunkelheit und ich benötige einen Moment, bis ich die Gestalt erkenne, die an der offenen Tür zu Johannas Krankenzimmer lehnt. Es ist einer der Ärzte aus der Nachtschicht und die Weise, wie er seine Augenbrauen zusammenzieht sorgt für einen Kloß in meinem Hals. „Sie wissen doch, dass Sie sich vor der Nachtruhe in Ihr Quartier zurückziehen müssen."

Ich nicke nur, mehr bekomme ich bei meinen schweren Lidern nicht auf die Reihe. Als ich mich schwankend aus dem unangenehmen Plastikstuhl erhebe, in dem ich die letzten Stunden geräuschlos gehockt habe, wandert mein Blick zu Johanna. Sie schläft tief, ihr Arm immer noch an das Morphium angeschlossen. Ihre Siegerinstinkte hätten sie schon längst wecken müssen, aber sie muss viel zu tief in dem befreienden Sog der Drogen sein, um irgendetwas mitzukriegen. Ein leises Seufzen geht mir bei ihrem Anblick über die Lippen. Sie machen sie abhängig und merken es nicht einmal. Vielleicht kümmert sie es aber auch nicht. Oder sie lassen es zu, weil sie so leichter zu kontrollieren ist.

Mit schlürfenden Schritten drücke ich mich an dem Arzt vorbei, der mir noch eine gute Nacht wünscht und seinen Routinegang fortsetzt. Die Gänge der Krankenstation sind dunkel bis auf einige wenige Lichter, die kaum stark genug sind, um eine andere Figur vor sich zu erkennen. Den Weg zu meinem Zimmer kenne ich mittlerweile jedoch blind. Ich begegne niemandem, während ich den Hauptausgang der Station nehme und mich durch die etwas helleren Flure von Distrikt 13 schleiche. Hier und da sehe ich patrouillierende Soldaten in der Ferne, aber falls sie mich ebenfalls wahrnehmen, ignorieren sie mich. Außer mich auf die Nachtruhe hinzuweisen, würden sie sowieso nichts unternehmen. So streng wie manche der Ärzte in der Nachtschicht nehmen es die meisten anderen in 13 nicht mit den Ruhezeiten. Solange der Geräuschpegel niedrig bleibt und weder Licht noch Wasser verschwendet wird, ist es ihnen gleich, wo ich bin und was ich mache.

Ich habe den Aufzug zu meiner Ebene gerade verlassen, als ich es spüre. Es ist mehr Instinkt als eine tatsächliche Ahnung. Etwas, das sich mein Körper in all den Monaten der Folter angeeignet hat. In einer schnellen Bewegung reiße ich meinen Kopf herum, meine Hände bereits zu Fäusten geballt, aber da ist niemand im Flur, den ich gerade durchquert habe. Nichts außer dem Aufzug und die verschlossenen Türen zu den Wohnungen anderer Bewohner.

Es ändert nichts an dem Pochen des Bluts in meinem Körper. Die Müdigkeit ist dahin und als ich mich wieder dem Korridor vor mir zuwende, mustern meine Augen jeden Winkel mit einer Aufmerksamkeit, die mir selbst fremd erscheint. Vorsichtig setze ich mich wieder in Bewegung, wage es jedoch nicht zu atmen. Das Prickeln in meinem Nacken wird stärker, als ich bei der nächsten Gabelung in den Gang abbiege, der mein Quartier beherbergt. Meine Schritte beschleunigen sich, ohne dass ich darüber nachdenken muss.

Wer auch immer sich an meine Fersen geheftet hat, muss gemerkt haben, dass seine Präsenz mir nicht verborgen geblieben ist. Füße hasten um die Ecke, Gemurmel dringt an mein Ohr und plötzlich renne ich. Während meine Beine mich auf die Tür zutragen, die meine Sicherheit verheißt, drehe ich mich zu meinen Verfolgern um. Es sind drei Personen, zwei von ihnen breitschultrig, fast schon bullig. Die Dritte ist kleiner und ihre Figur drahtiger. Sie hat mich innerhalb von Sekunden eingeholt und stürzt sich mit all ihrem Körpergewicht auf mich.

Mein Kiefer trifft den Boden mit einer Intensität, die mir durch Mark und Bein geht. Der Aufprall wirft mich einen Moment aus der Bahn, sodass meine Angreifer keine Mühe haben, mir eine Hand vor den Mund zu drücken, als sie mich auf die Beine ziehen und gegen die nächstbeste Wand drücken. Schwarze Augen tauchen vor mir auf und im dunklen Licht des Korridors hätten sie auch weiße Uniformen tragen können, es hätte keinen Unterschied gemacht.

„Du wägst dich in falscher Sicherheit, Miststück", zischt eine weibliche Stimme mir entgegen. Ich kenne sie nicht. Aber hier in Distrikt 13, wo jeder einen Hass gegen mich hegen könnte, ist das nicht von Belang. „Das passiert mit Menschen, die dem Kapitol dienen."

Ihre männlichen Begleiter halten mich stillschweigend an den Armen gegen das kalte Metall der Wand gepresst, während mir ihre Faust ins Gesicht fährt. Einmal. Zweimal. Zu meiner und ihrer Überraschung ist alles, was ich hervorbringe, ein desinteressiertes Blinzeln. Der Wall in meinem Herzen hat sich hochgefahren, so wie er es in solchen Situationen immer getan hat.

„Noch nicht genug?", spottet die Frau verärgert und diesmal trifft ihre Faust meinen Magen. Mein Mangel an Schmerzresonanz verwirrt sie und es führt dazu, dass sie ihre Zähne stärker zusammenbeißt und die Augenbrauen wütend zusammenkneift. Zorn flammt in ihren kohlefarbenen Pupillen. Hass, den ich auf einer Ebene teile, der sie überraschen würde.

„Nichts, was du mir antun könntest, würde auch nur im Mindesten mit dem mithalten, was das Kapitol mit mir gemacht hat, dem ich ja angeblich diene", erwidere ich so ruhig und kalkulierend wie möglich. Meine Finger zittern kaum merklich und doch versuche ich mir Johanna vor Augen zu rufen. Johanna würde keine Schwäche zeigen. Sie würde ihre Gegner wissen lassen, dass sie nichts als die mickrigen, unbedeutenden Fische im Becken sind.

„Ist das so?" Ein Grinsen stiehlt sich auf das Gesicht der Frau und ihre Augen scheinen die Dunkelheit unserer Umgebung zu absorbieren. Sie senkt den Blick und für einen Augenblick denke ich, dass sie das Interesse an mir verloren hat. Ihre rechte Hand gleitet hinab zu ihrer Hosentasche und zieht einen dünnen, metallisch-glänzenden Gegenstand daraus hervor. Etwas in meinem Magen verkrampft sich bei dem Anblick des Schlagrings. Ein Nachteil von Johannas vorlauten Art ist, dass sie ihr im Endeffekt oft nur größere Probleme verschafft. „Dann wollen wir mal sehen, wie hoch deine Toleranzgrenze wirklich ist, Püppchen."


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Hi!

Ab jetzt kommen die Kapitel alle zwei Wochen, weil ich nicht mehr so viele Kapitel übrig habe. Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen und dass ihr gut ins neue Jahr gekommen seid!

Liebe Grüße

Skyllen :)

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