4. Not That Simple

Song Inspiration für dieses Kapitel: Not That Simple – Mike Posner

-


Not That Simple

Als sich die Tür des Aufzugs öffnet, greift Haymitch mich grob am Arm und zerrt mich die Flure entlang. Ich mache mir nicht einmal die Mühe, mich loszureißen. Er muss wirklich wütend sein, weiß Gott warum. Haymitch hatte zwar immer schon seine Phasen, aber ich glaube, jetzt, da er halbwegs nüchtern ist, muss ich ihn wirklich aufgeregt haben. Er führt mich an unseren Schlafräumen vorbei, rauf zur Treppe auf die Terrasse. Schon komisch, dass ich in all den Jahren nur ein einziges Mal hier oben war. Ich erinnere mich kaum noch daran. Die Stadt hat sich nicht viel verändert. Überall glühen Lichter, so stark, dass man die Sterne nachts nicht sehen kann. Der Blick in den Himmel stimmt mich traurig. Er ist von Wolken überzogen.

Dann lässt Haymitch mich los und ich taumele einige Schritte vorwärts, bevor ich an der Brüstung zum Stehen komme. Allein dieser Blick über das Kapitol ist es wert hier hochgekommen zu sein. Unten auf den Straßen fahren Autos hin und her, Busse und Unmengen an bunten Passanten laufen herum. Manche von ihnen tragen Einkaufstüten in den Händen, andere zerren ihre Kinder am Trainingscenter vorbei, weil sie die Sieger sehen wollen.

Irgendwie kommt es mir komisch vor, wie sie ihre Kinder darauf drillen die Spiele zu sehen. Sie sind viel zu jung. Plötzlich erinnere ich mich wie aus heiterem Himmel an die kleine Rue. An Katniss' Worte auf der Tour. Sie war zu jung. Aurelia und ich durften die Spiele selbst bereits mit zehn sehen ...

Haymitch, der wahrscheinlich über kein wirkliches Feingefühl verfügt, reißt mich barsch aus meinen Gedanken. „Was sollte das?" Sein Ton ist nicht unfreundlich, aber aufgebracht.

Ich zucke mit den Schultern und lehne mich seitlich in seine Richtung, um ihm in die Augen zu sehen. „Ich weiß es nicht", gebe ich genervt zurück. „Es ist mir einfach rausgerutscht."

Das scheint ihn nur noch mehr in Rage zu bringen. „Einfach rausgerutscht? Effie ...", er seufzt und sucht nach den richtigen Worten. Wann hat er das letzte Mal meinen Namen so ausgesprochen? Ich will mich nicht erinnern. „Es ist gefährlich so zu denken."

Ich verspüre den Drang ihn zu schlagen. Er muss den Ausdruck auf meinem Gesicht gesehen haben, denn er schaut mich an, als wäre ich unheimlich albern. „Du...- So habe ich es nicht gemeint", zische ich wütend.

Seine Augen blitzen erleichtert. Meine Masche funktioniert. Hat sie nicht schon immer funktioniert? „Gut ... denn so zu denken wäre sehr gefährlich. Und wir möchten beide keinen Ärger mit dem Kapitol, nicht wahr?"

Ich lächele, nicke und tue so, als hätte ich keine Ahnung, wovon er gerade gesprochen hat. Doch das habe ich und das müsste er wissen. Denn Haymitch war es, der mir vor zehn Jahren die Augen über das Kapitol geöffnet hat. Und nun weiß ich, dass auch er etwas mit dieser Sache zu tun hat, die sich am Horizont zusammenbraut. Vielleicht ist er einfach nur wütend auf das Kapitol, doch irgendetwas muss dahinterstecken. Es ist nicht seine Art, auf jedes meiner Worte zu achten oder eine Bedeutung in meine Sätze zu interpretieren. Haymitch Abernathy handelt nie ohne Hintergedanken.

oOo

Wir kehren zurück ins Penthouse und setzen uns auf die Sofalandschaft. „Du hast studiert?", fragt Haymitch nach einer Weile.

Ich nicke abwesend und denke an meine Mutter und wie wütend sie war, als ich ihr meinen Wunsch mitgeteilt habe. Sie hatte für Aurelia und mich eine glorreiche Modelkarriere in Planung. Bei Aurelia hat es geklappt. „Architektur."

„Wieso bist du kein Model geworden?" Ich weiß nicht, was diese Frage soll.

„Ich war Model, aber meine Schwester war besser als ich", sage ich und schaffe es nicht, den unzufriedenen Ausdruck auf meinem Gesicht zu verbergen, weil nicht nur Haymitch mich all die Jahre allein auf mein Äußeres reduziert hat. Er hat sich nie die Mühe gemacht zu erfahren, wer ich wirklich bin. Ich spüre die Wut in mir, eine Wut, die mir völlig fremd vorkommt. Doch sie hat nichts mit ihm zu tun. „Ich bin nicht wie meine Schwester. Sie könnte sogar in Lumpen unglaublich aussehen" Meine Stimme klingt zu gereizt, ein wenig neidisch.

Aurelia hat ein unglaubliches Talent, das kann ich nicht leugnen. Sie war schon immer das Lieblingskind meiner Mutter und heute zurecht. Sie hat alles getan, nur sie glücklich zu machen und tut es heute immer noch. Obwohl sie damit ihr eigenes Wesen begraben musste. Ich möchte mich nicht mit Haymitch über meine Schwester unterhalten. Die perfekte Tochter, die immer alles richtig gemacht hat.

„Was machst du denn so, wenn du mal nicht betrunken bist?" Ich versuche mir ein Lächeln aufzuzwingen und die Frage unbeschwert klingen zu lassen, aber so wie er mich anschaut, scheint er es mir nicht abzukaufen.

Es dauert ganze fünf Minuten, bis Haymitch mir antwortet. Ich denke schon, dass er mich ignoriert, als er sich endlich räuspert. „Nichts", gibt er zu. Seiner Stimme nach zu urteilen, weiß er nicht recht, ob er mir die Wahrheit sagen soll. Etwas scheint ihn zurückzuhalten. „Nach der Verkündung des Jubeljubiläums haben die beiden mir den Alkohol abgedreht. Jedem gedroht, der ihn mir verkauft hat. Wir haben trainiert wie Karrieros. Jeden Tag." Er klingt nicht bedauernd. Allerdings auch nicht besonders glücklich.

Ich bleibe still, starre ihn nur an. Mir fällt nichts ein, was ich erwidern könnte.

„Es war schrecklich. Drei Monate kein Alkohol. Das erste Mal, dass ich länger als ein paar Tage nüchtern war." Ein dünnes Lächeln ziert Haymitchs Gesicht, als er es sagt, doch ich sehe ihm die Kraft und Mühe an, die es ihn gekostet haben muss, das durchzustehen. Noch bevor ich etwas sagen kann, hebt er seine Hand. Er möchte mein Mitleid nicht. Welcher Sieger möchte schon von einer Eskorte aus dem Kapitol bemitleidet werden?

„Würdest du mir deine Zeichnungen zeigen?", fragt er plötzlich und überrumpelt mich vollkommen damit.

Mein Kopf fährt schlagartig in die Höhe und ich starre ihn aus geweiteten Augen an. Niemals. Sie gehen nur mich etwas an. Dieses Privileg hat er sich vor Jahren schon verspielt. „Nein", sage ich und werfe einen Blick auf die Uhr. Schlagartig fallen mir Katniss und Peeta wieder ein. Ich habe die beiden einfach vergessen! Wie vom Blitz getroffen stehe ich auf. „Nein", wiederhole ich. „Wir sind viel zu spät dran! Katniss und Peeta werden gleich entlassen!"

Haymitch lässt sich Zeit, bis er aufgestanden ist. So wie ich ihn kenne, macht er das nur um mich zu ärgern. Als wir mit dem Aufzug ins Erdgeschoss kommen, warten die beiden bereits auf uns. Allerdings sehen sie nicht verärgert aus. Katniss sieht sogar höchst zufrieden aus, deshalb vermute ich das Beste.

„Und wie war's?" Meine Stimme lässt Peeta aufschauen, der uns bis jetzt nicht bemerkt hat. Er nickt zufrieden und sie erzählen uns ein wenig von ihrem Tag. Dann schicke ich sie duschen und sich umziehen, bis ich sie später zum Abendessen rufe.

oOo

Haymitch erscheint erstaunlicherweise als Erster. Er wirkt angespannt. Sobald Katniss das Esszimmer betritt, stürzt er sich auf sie. „Mindestens die Hälfte der Sieger hat ihre Mentoren angewiesen, dich als Wunschverbündete anzugeben. Kann mir nicht vorstellen, dass es wegen deines sonnigen Wesens ist", sagt er und grinst vergnügt.

Ich staune überrascht und werfe Katniss einen Blick zu. Das haben sie uns eben wohl vorenthalten. Wie hat sie das bloß geschafft? Peeta liefert uns die Antwort, als er sich mir gegenübersetzt. „Sie haben sie schießen gesehen. Und ich habe sie auch zum ersten Mal richtig schießen gesehen. Ich trage mich mit dem Gedanken, ebenfalls einen förmlichen Antrag zu stellen." Er lächelt spitzbübisch, scheint es jedoch ernst zu meinen. Sie muss wirklich gut gewesen sein. Die Hälfte der Tribute.

Katniss wirkt kein bisschen verlegen. Sie versucht der Sache neutral entgegenzutreten. Langsam lässt sie sich neben Peeta auf den Stuhl sinken und schaut zu Haymitch rüber, der neben mir Platz genommen hat.

„Bist du wirklich so gut?" Haymitch scheint wirklich sehr überrascht zu sein. „So gut, dass Brutus dich will?" Brutus. Ein Karrieretribut. Beinahe bleibt mir die Luft weg. Sie muss überragend sein!

Katniss, die Meisterin der Lage, bleibt völlig ruhig und zuckt nur mit den Achseln. Allerdings scheint sie nicht an Brutus interessiert zu sein. „Aber ich will Brutus nicht. Ich will Mags und die beiden aus Distrikt Drei."

Die Vorspeise wird serviert. Haymitch seufzt und bestellt sich eine Flasche Wein. „Das war ja klar. Ich werde allen sagen, du überlegst noch." Katniss schleudert ihm einen wütenden Blick zu, der davon zeugt, dass sie in diesem Gebiet nicht mit sich reden lassen wird.

Ich denke, sie soll selbst entscheiden, mit wem sie sich verbündet. Beetee ist ein schlauer Kopf und hat seine Spiele mithilfe eines gut durchdachten Tricks gewonnen. Wiress ebenfalls. Obwohl einer der anderen Sieger, Finnick oder Johanna, sicher nicht schaden würden. Aber ich spreche es nicht laut aus. Das Training ist Haymitchs Fachgebiet und ich möchte mich ungern in seine Arbeit einmischen. Er würde sowieso nur eine unfreundliche Bemerkung für mich übrighaben.

In Gedanken versunken stochere ich in meinem Salat herum. Wahrscheinlich zermatsche ich ihn mehr als dass ich ihn esse. Wen kümmert das schon? Beinahe lasse ich meinen Kopf in meine Hand sinken, besinne mich allerdings besserem.

Das Abendessen ist schnell vorbei. Wir wechseln hier und da eine Bemerkung, reden jedoch alle nicht wirklich viel. Peeta und Katniss sind müde. Ich bin es ebenfalls. Nachdem sie sich in ihre Gemächer zurückziehen, stehe ich ebenso auf und wünsche Haymitch eine Gute Nacht.

oOo

In meinem Zimmer ist es stockdunkel. Ich habe die Vorhänge nicht vor die Fenster gehangen, sodass die Lichter der Stadt den Raum in einen beruhigenden Schein tauchen. Ich werfe einen Blick auf meinen Alarm, der neben dem Bett auf dem Nachttisch liegt. Schon nach Mitternacht. Eigentlich sollte ich schon längst schlafen. Aber ich kann nicht, wie schon so oft in den letzten Tagen.

Nachdem ich das Licht ausgemacht und ins Bett gekrochen war, hat mein Körper bereits beschlossen, nicht wieder in das Reich der Träume abzutauchen. Dort ist es gefährlich.

Ich spüre, wie sich meine Kehle zuschnürt, doch ich rühre mich keinen Zentimeter. Mein Magen rebelliert. Ich werde nicht schlafen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie wieder vor mir. All die Tribute, die Haymitch und ich in den vergangenen Jahren betreut haben. All die Tribute bei denen wir versagt haben. Angst steigt in mir auf. Letzte Nacht ist es besonders schlimm gewesen. Ich bin durch einen Wald gelaufen. Sie kamen von allen Seiten, schrien mich an, dass ich etwas hätte tun müssen. Mehr hätte tun müssen. Ihre Gesichter waren verzerrt, vernarbt und teilweise fehlten ihnen Körperteile. Aber sie waren nicht das Schlimmste. Wirklich schlimm ist es geworden, als Katniss und Peeta plötzlich vor mir standen. Sie schrien nicht, sondern starrten mich nur an. Mit dunklen, blutunterlaufenen Augen. Vorwurfsvoll.

oOo

Diesmal ist es mein eigener Schrei, der mich aufweckt. Noch bevor mein Gehirn aufgeholt hat, knie ich vor der Toilettenschüssel. Doch das Zittern lässt nicht nach. Raus, es soll raus. Alles! Mein Gehör muss wohl für einige Minuten ausgesetzt haben, denn erst, als ich wieder auf meinem Bett sitze, die Knie an meine Brust gedrückt, höre ich mich schluchzen. Ich will aufhören, sie sollen mich nicht hören. Sie dürfen mich nicht hören. Was werden sie sonst über mich denken? Überfordert presse ich mir eine Hand vor den Mund.

Was würde meine Mutter in dieser Situation tun? Ich versuche mühsam, mir ein Bild davon zu machen, aber ich kann mich an keinen Moment erinnern, in dem sie jemals geweint hat. Sie war immer durch und durch Kapitol. Genauso hat sie uns schließlich erzogen. Was ihr wohl hinter verschlossenen Türen durch den Kopf geht?

Während ich mich hin und her wiege, lässt das Beben meines Körpers langsam nach. Ich kann nicht hierbleiben. Es hat keinen Zweck zu versuchen, wieder einzuschlafen. Ich schaue auf meine Uhr. Es ist vier Uhr morgens. Seufzend stehe ich auf und mache mich fertig. Obwohl ich nicht weiß, wie ich die nächsten Stunden verbringen soll, schleiche ich mich kurz darauf aus meinem Zimmer und schließe die Tür so leise wie möglich.

Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Auf den Gängen brennt kein Licht. Kein einziger Laut ist zu hören. Im Dunkeln tapse ich in meinen Highheels den Flur entlang, in Richtung Wohnzimmer. Meine Beine zittern. Die Angst ist zurück und ich habe keine Ahnung weshalb. Ich zwinge mich weiterzugehen. Wenn ich jetzt nur ein Geräusch mache, habe ich womöglich die ganze Etage geweckt und muss dann erklären, warum ich so früh morgens durch die Gänge spuke. Oder so spät in der Nacht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich das Wohnzimmer endlich erreicht und setze mich an den Tisch. Die Lichter lasse ich bewusst aus. Abermals versuche ich das Beben meines Körpers zu unterdrücken, doch es will mir nicht gelingen. Verzweifelt schlinge ich die Arme um meinen Oberkörper. Ich habe zwar eine Uhr bei mir, aber ich weiß nicht, wann die Avoxe aufstehen, um unser Frühstück vorzubereiten.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kommt es mir unendlich dumm vor, mich an den Esstisch gesetzt zu haben, wo mich jeder sehen wird, wenn sie aufstehen. Man braucht mir nur ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass ich letzte Nacht kaum ein Auge zugedrückt habe. Das kann nicht einmal mein Make-Up verbergen. Vollkommen schutzlos habe ich mich ausgeliefert. Ich hätte im Bett bleiben und einfach die nächsten Stunden wachliegen sollen. Doch jetzt kann ich nicht mehr aufstehen, das würde sicher zu viel Krach machen. Und ich will nicht zurück ins Bett.

Die Sonne geht langsam auf. Heute lässt sie sich Zeit. Dankbar wende ich mich ihr zu und versuche mich, genauso wie gestern, abzulenken. Kurz darauf taucht der erste Avox auf, keiner von den beiden Rothaarigen, und bringt mir einen Tee. Dankbar nehme ich ihn an. Sobald meine Hände die Tasse umschlossen haben, breitet sich eine wohlige Wärme in ihnen aus. Mit geschlossenen Augen nippe ich daran. Schon bald ist mir völlig warm und desto weiter die Sonne steigt, desto mehr verschwindet das mulmige Gefühl aus meinen Adern. Zum ersten Mal verstehe ich den Ansatz, wieso Haymitch nie nachts schläft. Tagsüber lässt sich die Angst viel einfacher verarbeiten.

Mir fällt ein, dass ich ihn eigentlich hätte rufen können. Doch im nächsten Augenblick kommt mir der Gedanke, Haymitch um Trost zu bitten, unheimlich töricht vor. Er würde mir nur ins Gesicht lachen und mich fragen, ob ich davon geträumt habe, kein passendes Kleid im Schrank zu finden. Er würde mich nie verstehen, teilweise, weil er mich nicht verstehen will. Nur weil ich aus dem Kapitol komme und nie den Schmerz erlebt habe, den er durchstehen musste, habe ich kein Recht darauf Leid für Sachen zu empfinden, die die Hungerspiele betreffen. Weil er denkt, dass wir Kapitoler nicht in der Lage sind, Mitgefühl zu empfinden. Wir sind nur Menschen genauso wie er nur Mensch ist. Und das Kapitol ist voller Menschen.

Obwohl die Angst vergangen ist, hat sie einen unangenehmen Schleier hinterlassen. Die Bilder werden weiter in meinem Kopf herumschwirren und sich nicht so leicht vertreiben lassen. Der Tee ist leer und die letzten Spuren der Wärme, die mich noch vor einigen Stunden beschützt hat, sind längst vergangen. Die Sonne steht bereits hoch am Horizont und ich werde mir bewusst, dass sie schon bald zum Frühstück eintrudeln werden. Bei dem Gedanken daran wird mir übel. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Kindern heute in die Augen schauen kann.

Die Müdigkeit gewinnt langsam Überhand, also stehe ich auf. Mein Appetit ist bereits letzte Nacht vergangen. Würde es jemandem auffallen, wenn ich nicht zum Frühstück erscheine? Wahrscheinlich schon, einfach aus dem Grund, dass ich immer da bin. Gedankenverloren drehe ich mich um und will das Esszimmer verlassen, als er plötzlich vor mir steht. Haymitch lehnt im Türrahmen und schaut mich an. Starrt mich an, als hätte ich etwas im Gesicht. Es sind die Augenringe. Es müssen die Augenringe sein.

Wie wild pulsiert das Blut durch meine Venen und schießt mir in die Wangen. Noch bevor er den Mund aufmachen kann, bin ich an ihm vorbei gestürmt. Diesmal mache ich mir keine Gedanken über meine Lautstärke. Ich bin viel schneller in meinem Zimmer als erwartet und springe beinahe vor den Spiegel. Mein Anblick ist erschreckend und lässt mir die Luft wegbleiben. Ich muss geweint haben, denn mein Make-Up rund um meine Augen ist verschmiert. Schwarze Mascara überdeckt die Augenringe. Jetzt schäme ich mich in Grund und Boden, überhaupt mein Zimmer verlassen zu haben.

Und Haymitch von allen Menschen ... Was wird er nun tun? Mir gehässige Bemerkungen an den Kopf werfen, wie er es immer tut, wahrscheinlich. Ich habe meine Fassade fallen lassen und er hat es gesehen. Er sah nicht betrunken aus, weshalb er sich daran erinnern wird. Ich habe ihm einen Teil meiner Persönlichkeit wie auf dem Silbertablett serviert. Meine Mutter wäre unglaublich enttäuscht. Doch ich bin mindestens genauso enttäuscht über mich selbst. Ich habe mich von meiner Angst leiten lassen und das ist die Quittung dafür.

Niedergeschlagen schminke ich mich ab, nur um mir danach das Gesicht mit neuem Make-Up zurechtzumachen. Die Frau im Spiegel sieht nicht aus wie ich. Sie sieht aus, wie eine der Models auf den Covern meiner Lieblingsmagazine. Wie Aurelia. Es kostet mich ganze fünfzehn Minuten Überwindung, um in den Speisesaal zurückzukehren. Katniss und Peeta werden jetzt schon da sein, sodass Haymitch mich hoffentlich nicht auf mein Erscheinungsbild von vorhin ansprechen wird. Es raubt mir schon genug Kraft, den Raum überhaupt zu betreten.

Noch bevor ich hereinkomme, setze ich mein typisch schwungvolles Lächeln auf und wünsche ihnen allen einen Guten Morgen, wobei ich darauf bedacht bin, Haymitchs Blick nicht zu erwidern. Und das stellt sich als äußerst schwierig heraus, denn er beobachtet mich ununterbrochen. Bei jeder kleinsten Bewegung schaut er auf, nur um meinen Augen zu begegnen. Ich gebe mir Mühe, ihn zu ignorieren so gut es geht, ohne dabei unhöflich zu wirken. Also greife ich zu meiner letzten Alternative und plappere drauf los. „Heute und morgen stehen jeweils eine weitere Trainingseinheit auf dem Programm, bevor es dann übermorgen zu euren Einzelstunden geht." Als wüssten sie das nicht alle schon.

Haymitch wirft mir einen mürrischen Blick zu. Peeta nickt und Katniss ist einfach Katniss. „Ihr habt noch einmal die Möglichkeit, die anderen Tribute besser kennenzulernen und euch nach möglichen Verbündeten umzusehen", füge ich hinzu.

„Ich will mich nicht verbünden", erwidert Katniss scharf. „Ich habe ja jetzt schon keine Ahnung, wie ich sie töten soll."

Ich zucke vor ihren harten Worten zurück, auch wenn es sich nur um die Wahrheit handelt. Mitleid steigt in mir auf. Sie hat recht, dieses Jahr wird es womöglich viel schwieriger. Herzzerreißender. „Versuch es wenigstens, Liebes", sage ich und lächele ihr ermutigend zu. „Es wäre viel sicherer in einer Gruppe."

„Effie hat recht", mischt sich Haymitch ein. Ich höre wohl nicht richtig! „Ohne eine Allianz werdet ihr da drin keine Chance haben. Die anderen Sieger kennen sich schon seit Jahren. Ihr seid die Außenseiter."

Ich bin so erstaunt, dass ich ganz vergesse, seinem Blick auszuweichen und starre ihn für einen Moment verdattert an. Wann hat Haymitch jemals gesagt, ich hätte recht? Er erwidert meinen Blick und seine Lippen verziehen sich zu einem dünnen Lächeln. Ich werde nicht schlau aus ihm. Die letzten Tage bringt er mich dazu, Dinge zu tun, die ich in seiner Gegenwart sonst niemals tun würde. Oder für eine lange Zeit nicht mehr getan habe.

„Trainiert einfach zusammen mit ihnen, wechselt euch ab und versucht Gespräche anzufangen. Der Rest ergibt sich schon von selbst", murmelt Haymitch und wirft dann einen Blick zu Katniss, als würde er sie erst jetzt bemerken. „Okay, vielleicht solltet ihr euch lieber doch nicht abwechseln."

Sofort erntet er einen weiteren wütenden Blick von Katniss, den er mit einem Grinsen erwidert. „Wir kriegen das schon hin", beteuert Peeta sorglos. „Heute wird es bestimmt einfacher als gestern." Seine blonden Haare hängen über seiner Stirn, während seine blauen Augen auf Katniss' Graue treffen.

Schweigend sehe ich ihnen beim Frühstücken zu. Ich habe mir nichts zu essen geholt, denn ich bin mir noch nicht sicher, ob mein Magen es bei sich behalten wird. Nach einer Weile starre ich hinter Haymitchs Kopf aus dem Fenster. Die Sonne steht nun so hoch, dass ich nur seine Konturen erkennen kann. Der Rest wird von der Sonne verschluckt und wirft lange Schatten über den Tisch. Mir macht es nichts aus, dass sich die Sonne in den vielen Fenster der Wolkenkratzer spiegelt und mich blendet. Es ist angenehm, die Wärme auf der Haut zu spüren. Es erinnert ein wenig an Hochsommer, wenn ich durch den Park laufe und die Sonne mich von überall anstrahlt.

Ich merke nicht, wie Katniss und Peeta das Esszimmer verlassen, um sich für das Training vorbereiten. Erst als Haymitchs Stimme mich aus meinen Gedanken reißt, nehme ich ihn überhaupt wieder wahr. „Geht es dir gut?" Er klingt, als wüsste er nicht wirklich, was er fragen soll. Ich kann seine Augen immer noch nicht sehen, kann also nur raten, wie er mich mustert.

„Natürlich geht es mir gut, Haymitch. Danke der Nachfrage." Nach zehn Jahren hast du es endlich geschafft, mir diese Frage zu stellen. Ich spreche es nicht aus, aber meine Stimme verrät meine Gedanken. Er weiß sofort, was ich andeuten will, lässt sich selbst jedoch nichts anmerken.

„Ich glaube dir nicht", flüstert er und beugt sich über den Tisch, damit ich seine Augen sehe. Ich blinzele. „Hör dir doch mal selbst zu, Süße."

Wenn Haymitch denkt, ich würde mit ihm über meine Gefühle reden, nach allem, was er getan hat, dann hat er wohl einiges nicht begriffen. Nach all dem Schmerz, den ich wegen ihm durchlebt habe ... Darüber hinaus spricht eine wohlerzogene Frau mit niemandem über ihre Gefühle. Sie lächelt, gibt Komplimente und zeigt ihre Manieren. „Ich habe keine Ahnung, was du meinst", erwidere ich in einem professionellen Ton, der eigentlich keinen Raum für Diskussionen lässt. Eigentlich.

Sein Lachen klingt frustriert. „Ich habe dich gesehen, Effie." Das Verwenden meines Namens lässt mich aufschauen. Er nennt mich nicht oft beim Namen, nur wenn er es ernst meint. In letzter Zeit tut er es häufiger als sonst. Ich presse meinen Mund zusammen, um kein falsches Wort zu verlieren. „Du kannst mir nicht erzählen, dass es dir gut geht. Man kann dir ansehen, wie wenig Schlaf du letzte Nacht gekriegt hast."

Bei seinen Worten zucke ich zusammen. Und ich dachte wirklich, ich hätte mich gut geschminkt. Seufzend gebe ich meine Angriffshaltung auf, denn ich komme zum Schluss, dass sie bei Haymitch nicht viel bringen wird. „Ich möchte nicht darüber reden", erwidere ich stattdessen und erhebe mich endlich vom Tisch, um ihm zu entkommen. Ihm und dieser Unterhaltung, die meiner Meinung nach in eine völlig falsche Richtung verlaufen ist. Meine Antwort lässt ihm keinen Spielraum für ein Gegenargument.

Erst als ich den Stuhl anschiebe, sehe ich das Glitzern des goldenen Armreifs, den ich ihm geschenkt habe. Wir sind ein Team. Wir können einander vertrauen. Gib mir eine Chance, es zu beweisen. Es schreit förmlich danach.


-

Danke fürs Lesen 💜

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top