36. Magnets Belong Together
Magnets Belong Together
Meine Augen weiten sich in Überraschung. Meint Dr. Jennings das tatsächlich ernst? Ich hebe den Kopf in ihre Richtung und sehe das breite, ehrliche Lächeln auf ihren Lippen. Zarte Lachfalten bilden sich um ihre Mundwinkel und ich wundere mich automatisch, wie alt sie eigentlich ist. Sie muss etwas älter sein als ich, aber höchstens fünfzig. „Ist das Ihr Ernst?"
Dr. Jennings, die anscheinend mit einer solchen Frage gerechnet hat, nickt zur Bestätigung. „Sie können das Krankenzimmer ab heute verlassen, wann immer Sie es wünschen. Für die Nachtruhe müssen Sie noch hierher zurückkehren, aber laut meiner Prognose sollte Ihnen schon in einigen Tagen ein eigenes Schlafquartier zugewiesen werden. Ich schätze, dass es hier in Dreizehn einiges für Sie zu entdecken gibt. Die Kantine zum Beispiel, dort werden Sie in Zukunft Ihre Mahlzeiten zu sich nehmen. Ihre Freunde werden sich sicherlich freuen, Sie wiederzusehen. Ich empfehle, dass jemand von ihnen Sie einmal herumführt, damit Sie sich in Zukunft zurechtfinden."
Die Ärztin rattert ihren Monolog herunter und mir bleibt nichts anderes übrig, als zu versuchen, so viele Informationen wie möglich aufzunehmen. Bin ich nun also wirklich frei? Mein Blick gleitet zu der weißen Tür, die mich bisher an einem Verlassen gehindert hat. Ist das hier ein Trick des Kapitols und wird mich hinter dieser Tür vielleicht nur eine weitere Schreckenskammer erwarten? Wollen sie meine Hoffnungen weiter in die Höhe treiben, nur damit ich beim Verlassen dieses Zimmers dann feststelle, dass wir uns immer noch in den Tiefen des Gefängnisses befinden?
„Freunde?" Es ist das einzige Wort, das mir über die Lippen kommen will.
Dr. Jennings, die mein Zögern bemerkt haben muss, öffnet ihren Mund, scheint aber nach den richtigen Worten zu suchen, denn sie hält selbst einen Moment inne. „Ich kann mir kaum vorstellen, wie verwirrend das hier für Sie sein muss, Miss Trinket. Allerdings werden Sie zu keiner Zeit Ihrer Reise in Distrikt Dreizehn allein sein müssen. Es gibt einige hier, die mehr als einmal darum gebeten haben, Sie besuchen zu dürfen. General Abernathy natürlich, aber auch Finnick Odair und Katniss Everdeen."
Katniss war hier? Ich kann es mir nicht vorstellen. Das Mädchen hat mich in den letzten zwei Jahren toleriert, zum Ende hin hat sich etwas wie eine fragile Bindung entwickelt. Haymitch ist ein vorsichtiger Mensch, aber Katniss übertrifft ihn in dieser Hinsicht. Nicht umsonst haben ihr Misstrauen und Unwille gegenüber dem Kapitol zu dieser Rebellion geführt. Doch der Gedanke an Finnick freut mich tatsächlich. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Alles was in meinem Kopf herumschwirrt ist das Bild aus meinem Traum, wie er die Hände in die Luft hebt, um Katniss zu beschwichtigen. Ich habe keine Ahnung, was den beiden widerfahren ist, während ich im Kapitol gefangen gehalten wurde. Dasselbe gilt auch für Haymitch, flüstert eine lautlose Stimme in meinem Kopf, die ich gekonnt ignoriere.
„Vielen Dank", ist alles, was ich hervorbringe. „Ich freue mich auch, sie endlich wiederzusehen." Diesmal meine ich meine Worte ernst. Der Gedanke, sie wiederzusehen, entfacht ein lang vergessenes Gefühl der Wärme in meiner Brust. Freude. Mit einem Mal fällt mir das Atmen etwas leichter.
oOo
Mein Raum sieht aus wie jedes andere Krankenzimmer auch. Gegenüber von meinem Bett hängt ein breiter, flacher Monitor an der Wand. Da ich aber weder auf dem Nachttisch noch sonst irgendwo im Zimmer eine Fernbedienung sehe, gehe ich nicht davon aus, dass dieser so wie im Kapitol zum Vergnügen des Patienten dient. Er muss wohl für Notfälle oder wichtige Übertragungen gedacht sein, die nicht einmal die Kranken verpassen sollten.
Nachdem Dr. Jennings den Raum verlassen hat, habe ich mein Frühstück zu Ende gegessen und mich dann für einige weitere Stunden Schlaf hingelegt. Diesmal haben mich keine Albträume begleitet, dafür hat das grelle Licht gesorgt, das sich manuell nicht abschalten lässt. Ich habe kein Problem, unter Licht zu schlafen. Irgendwie beruhigt es mich.
Nun sitze ich in meinem Bett und überlege, was ich als nächstes tun soll. Ein kleiner Teil von mir hat erwartet, oder auch nur gehofft, dass Haymitch herkommen und sich für eine Führung durch den Distrikt anbieten würde. Sie haben ihn sicherlich über meine neuen Ausgangszeiten informiert. Doch von ihm fehlt jede Spur. Ich kann nicht erklären warum und eigentlich steht es mir auch nicht zu, aber ich fühle mich erneut im Stich gelassen.
Meine Augen fahren durch den kleinen rechteckigen Raum. Links von mir, hinter dem Nachttisch, befindet sich ein abgetrennter Raum, den ich bisher nicht betreten habe. Eine Schiebetür aus undurchlässigem, grünem Glas trennt ihn vom Hauptzimmer ab. Vermutlich handelt es sich dabei um ein Badezimmer. Es wurde in das eigentliche Krankenzimmer eingebaut, so wie es bei kleinen Over-Night Hotels in der Stadt der Fall ist, um Platz zu sparen. In der vorderen linken Ecke steht ein Tisch sowie zwei Stühle. Wahrscheinlich ist er für Besucher gedacht, auch wenn der graue Plastiktisch, auf dem nicht einmal eine Blumenvase steht, nicht wirklich einladend aussieht.
Mit einem leisen Keuchen richte ich mich auf und drehe den Kopf zu der Wand hinter mir. Hinter dem Krankenbett, in dem ich sitze, sind eine Reihe an Knöpfen in die Wandleiste angebracht. Verschiedene Farben mit verschiedenen Symbolen. Ich weiß nicht, was sie bedeuten, aber anscheinend brauche ich das auch nicht zu wissen, sonst hätte mir Dr. Jennings sicher Bescheid gegeben. Daneben gibt es noch einige Anschlüsse, sowie Steckdosen. In eine von ihnen ist mein Herz-Lungen-Gerät eingestöpselt.
Auf der rechten Seite des Zimmers, dort wo die Fenster immer noch von dicken, weißen Vorhängen zugezogen sind, steht ein schmaler Schrank auf der Höhe meines Betts. Ich frage mich, ob ich dort Kleidung finden werde, denn mit dem weißen Krankenkittel, den ich trage, kann ich unmöglich einen Fuß vor die Tür setzen.
Nach einigem Zögern raffe ich mich dazu auf, die klebrigen Pads der Maschine von meinem Körper zu entfernen. Langsam stoße ich die Bettdecke zur Seite und schwinge dann meine Beine in einer vorsichtigen Bewegung aus dem Bett, seitwärts in Richtung der Fenster. Als meine Zehenspitzen den kühlen Kunststoffboden berühren, halte ich kurz das Gewicht und balanciere es auf meinen Füßen. Zu meiner Erleichterung fühlt es sich völlig normal an, meine Beine zu verwenden. Ich warte einen kurzen Augenblick, weil ich nichts überstürzen und einen Schwindelanfall verhindern will, der jedoch ausbleibt. Dann, mit etwas mehr Elan, lehne ich mich nach vorne, verlagere das Gewicht meines Körpers auf meine Füße und stehe schließlich auf.
Nach den zwei Schritten zum Schrank bin ich mir relativ sicher, dass ich nicht stürzen werde. Ich öffne die hölzerne Tür, die ein quietschendes Knarren von sich gibt und eine Sekunde lang klemmt und werfe einen Blick hinein. Es liegt tatsächlich ein kleiner Stapel an Kleidung bereit. Es handelt sich um eine graue Uniform, wie Haymitch sie getragen hat. In Distrikt 13 scheint es wohl keine große Auswahl zu geben, wenn es um Klamotten geht. Ich seufze in mich hinein.
Bevor ich die Kleidung an mich nehme, inspiziere ich die Größenlabels. Ich muss um einiges abgenommen haben, wenn mir meine frühere Größe um zwei Nummern zu groß ist. Die Verantwortlichen haben das wohl berücksichtigt, als sie die Uniform für mich vorbereitet haben. Die Uniform ist nicht alles, was ich im Schrank für mich finde: Weiße Nachtkleidung, mehrere Paare Socken, Unterwäsche und ein Paar solider, schwarzer Stiefel. Ganz hinten im Schrank liegt ein zusammengeknülltes, graues Tuch. Wahrscheinlich hat es mal als Tischdecke gedient. Ich kann nicht verhindern, dass die Abneigung gegen Distrikt 13 in meiner Brust zu wachsen beginnt. Wer auch immer dieses Grau ausgewählt hat, muss eine fantasielose und nüchterne Person gewesen sein.
Mit größer werdendem Unmut schaue ich an mir selbst herunter. Der weiße Kittel geht mir knapp über die Knie. Meine Schienbeine sind nackt, kahl und unrasiert. Hier und da zeichnen sich blaue Flecke in verschiedenen Heilungsstadien ab. Beim Anblick meiner Beine wird mir schlecht. Ein Frösteln nimmt meinen Körper ein. Schon fast hektisch, schnappe ich mir die Uniform und inspiziere das Bad auf der anderen Seite des Raumes.
Bis auf meine Gefängniszelle, die man nun wirklich nicht als Bad bezeichnen konnte, habe ich noch nie ein so kleines Badezimmer gesehen. Und doch passt alles hinein, was man braucht: Eine Dusche, ein WC und ein Waschbecken samt Ablage und Miniaturregal. Über dem Waschbecken hängt ein langer rechteckiger Spiegel an der Wand. Ich senke sofort den Blick, um mir nicht selbst ins Gesicht schauen zu müssen. Auf der Ablage finde ich einen Plastikbecher mit noch eingepackter Zahnbürste, eine kleine Packung Zahnpasta, etwas Seife und eine Bürste. Obwohl mir klar ist, dass die Hygieneartikel im Vergleich zum Kapitol wahrscheinlich miserabel sein werden, bin ich erleichtert sie zu sehen. Im Regal liegen mehrere Handtücher bereit und in der offenen Duschkabine stehen Shampoo, ein Körpergel und zu meiner großen Freude ein Rasierer zur Verfügung.
Schnell schließe ich die undurchsichtige Glastür hinter mir, reiße mir den Kittel vom Leibe und trete in die Dusche. An den weißen Fliesen neben dem Wasserhahn klebt ein laminiertes Blatt Papier: Verbrauch von Warmwasser auf 10 Minuten pro Tag begrenzt. Bitte sparsame Nutzung. Bei dem Wort Warmwasser muss ich kurz ehrfürchtig innehalten. Wann war das letzte Mal, als ich warm geduscht habe? Es muss im Trainingscenter gewesen sein.
Nach Dusche und Rasur fühle ich mich wie ein neuer Mensch. Ich trete aus der Dusche und trockne meinen Körper mit einem der Handtücher. Der raue Stoff hinterlässt ein juckendes Gefühl auf meiner Haut. Während ich das Tuch zur Seite lege, kann ich nicht anders, als mich im Spiegel zu betrachten. Eine Stimme in meinem Kopf sagt, dass ich es nicht tun sollte. Ein großer Teil von mir fürchtet sich vor dem Anblick. Es ist ein Gedanke, der mich schließlich dazu bewegt, es doch zu tun: Die alte Effie hätte gewollt, die Wahrheit zu wissen egal wie schwer sie zu verdauen ist und besonders, wenn es dabei um sie selbst geht.
Trotzdem ist es ein Schock für mich. Ich kann spüren, wie mein Herz einen überrumpelten Satz macht und dann kurz aussetzt. Das immerwährende Gefühl der Panik breitet sich wieder in meinen Adern aus, kalt und schleichend wie ein Wetterumschwung zum Ende des Herbsts. Mein Körper ist spindeldürr, die Rippen unter meiner Haut sind so deutlich zu erkennen, dass sich die Haut wie ein Bogen um sie spannt. Für einige Sekunden atme ich einfach nur ein und aus und fürchte dabei, dass meine Haut bei jedem Atemzug über meinen Knochen auseinanderreißt. Meine Figur wirkt wie eine leblose Erscheinung aus einem Horrorfilm. Die weiße Haut, sie seit Ewigkeiten kein Sonnenlicht mehr gesehen hat, ist von blauen Flecken übersäht. Einige sind kaum noch sichtbar und kurz davor, abzuklingen und haben einen dunkelgrünen oder gelb-braunen Farbton. Andere jedoch sind frischer, besonders im Bereich des Rückens und in der Nähe meiner Wirbelsäule. Sie glühen in einem flammenden Dunkelrot. Die wenigsten haben bereits ein Dunkelblau angenommen.
Das bin nicht ich. Das hier ist nicht Effie Trinket. Ein verzweifeltes Keuchen kommt mir über die Lippen und ich spüre die heißen Tränen, die sich einen Weg über meine Wangen bahnen wollen, doch ich presse die Augen zusammen so fest ich kann. Das hier ist nicht der Moment, um in Tränen auszubrechen. Vielleicht doch, aber ich möchte nicht mehr weinen. Ich möchte nicht mehr leiden. Ich möchte die Augen aufschlagen und ... Ja, was eigentlich? Was würde ich jetzt tun, wohin würde ich jetzt gehen, wenn dieser große Albtraum endlich ein Ende hat?
Ich bin nicht mehr Effie Trinket. Diesen Gedanken habe ich mir in den letzten Monaten mehr als einmal in den Kopf gezwängt. Was würde es bringen, diesen Fakt zu leugnen? Was habe ich noch mit Effie Trinket gemein? Ich bin weder einflussreich noch hübsch noch glücklich. Mein quirliges, sorgenloses Leben ist vorbei. Diese Frau im Spiegel ist jemand völlig anderes. Ihre Ideale und Wertvorstellungen sind völlig andere. Das Kapitol hat sie ihr entrissen und mit ihr auch einen Teil von ihrer Persönlichkeit, von Effies Persönlichkeit. Das Kapitol hat Effie eliminiert, aber mich nicht. Ich habe überlebt, wenn auch gerade noch so.
Während ich in den Spiegel schaue und die schlaffen Gesichtszüge dieser fremden Frau betrachte, die angeblich ich, angeblich Effie Trinket sein soll, frage ich mich erneut, wer nun an dieser Situation Schuld hat. Effie hat früh genug gemerkt, was es mit den Spielen auf sich hat, sie hatte elf Jahre Zeit, um zu begreifen. Sie hätte sich umentscheiden, etwas anderes machen können. Dann wäre deine Familie noch am Leben. Doch die Macht, die mit ihrer Position kam, hat Effie davon abgehalten. Wenn man einmal aus dem Kelch des Rampenlichts, der Anerkennung und des Reichtums probiert hat, können nur noch die wenigsten widerstehen. Effie war dazu nicht in der Lage. Sie wollte ihre Eltern stolz machen, ihre Schwester übertrumpfen. Und für was das alles? Nun gibt es niemanden mehr, den sie übertrumpfen könnte. Die Idee, Aurelia sei tot, raubt mir den Atem. Der Gedanke macht keinen Sinn in meinem Kopf.
Darüber nachzudenken, was ich nach diesem Albtraum mache, führt zu nichts. Wer weiß, ob ich bis dahin überhaupt noch am Leben bin. Ich weiß nicht einmal, ob ich mich tatsächlich in Distrikt 13 und damit in Sicherheit befinde. Sicherheit. Gibt es so etwas wie Sicherheit überhaupt noch irgendwo in Panem?
Das Blond meiner natürlichen Haare ist fade und glanzlos. Mein Haar fällt in kurzen, unebenen Locken über meine Schultern. Die Friedenswächter haben mir ab und zu einige Strähnen herausgerissen, aber geschnitten hat es mir niemand. Während ich mir mit den Fingern geistesabwesend durch die dünnen, spröden Haarsträhnen fahre, rufe ich mir die Bilder von kräftigen, leuchtenden, bunten Farben vor Augen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, welche Perücke ich bei meiner Festnahme getragen habe. Im Kapitol gibt es sie in den verschiedensten Formen und Längen. Glitzer, Metallic, Strasssteine, Blumen, übergehende Farben, Farben die sich temperaturbedingt ändern. Die Erinnerungen erscheinen mir blass und trüb, als wäre sie Jahrzehnte alt. So groß meine Abneigung gegen das Kapitol geworden ist, so sehr kann ich nicht leugnen, dass diese farbenfrohen Perücken ein Teil meines Lebens waren, den ich genossen habe und nun vermisse. Es waren die Perücken, das Make-Up, die mich selbstbewusst gemacht haben. Jetzt, ohne all das, kann ich mir selbst kaum in die Augen schauen vor Scham. Ich habe mich zu lange vor meinem natürlichen Ich versteckt.
Die Vorstellung, mit diesen Haaren auch nur einen Fuß aus meinem Zimmer zu machen, versetzt mich in eine tiefere Panik, als der Anblick im Spiegel ihn bietet. Ich starre hinab auf die graue Uniform. So wie fast alles hier in meinem Zimmer, ist auch die Uniform von einem ekelerregenden Staubgrau. Mit Anthrazit hätte ich möglicherweise leben können, aber Staubgrau? Es scheint alle anderen Farben zu verschlucken, aber vielleicht ist genau das auch die Absicht dahinter. Es ist mir egal. Es ändert nichts.
Die Uniform passt tatsächlich und ich muss den Gedanken abschütteln, dass mich der Sprung von zwei Kleidergrößen nach unten früher ausgesprochen erfreut hätte. Der Stoff fühlt sich an meinem Körper rau und fremd an. Falsch. Genau wie das Handtuch hinterlässt es einen Juckreiz auf meiner Haut. Ich werde wohl einiges an Zeit benötigen, mich an diesen seltsam stickigen Stoff zu gewöhnen, der meine Zellen darunter nicht atmen lässt. Es ist keine Baumwolle, das merke ich sofort. Das bedeutet wohl, dass ich schnell darin schwitzen werde ...
Ich verlasse das Zimmer mit nassen, aber gekämmten Haaren und gehe zurück zum Schrank, um den Kittel dort hineinzulegen. Alles andere wäre wohl unhöflich. Nach wie vor steht die Option, mit diesen Haaren nach draußen zu gehen, nicht im Raum. Ich überlege bereits, nach einer Schere zu suchen, um mir die Haare einfach abzuschneiden, als mir das Tuch ins Auge fällt, das immer noch zusammen geknüddelt im hinteren Teil des Schranks liegt. Genau wie wahrscheinlich alles hier in 13 ist es grau, aber da das Tuch wohl als provisorische Tischdecke dient, ist der Stoff dünner als der meiner Uniform. Beinahe wie ein Bandana, versuche ich mir einzureden.
Zurück im Bad binde ich mir mein Haar zusammen und mache mich dann vorsichtig daran, das Tuch auf meinem Kopf zu platzieren. Als ich mir sicher bin, dass auch die kleinste Haarlocke unter dem Überzug verschwunden ist, binde ich das Tuch in einem Knoten zusammen, sodass es beim Gehen nicht verrutscht. Das Ergebnis ist nicht außergewöhnlich, aber die Luft strömt wieder mit etwas mehr Elan in meine Lungen als vorher.
Ich hebe den Kopf ein letztes Mal und betrachte mein vollendetes Aussehen im Spiegel. Das Blau meiner Augen hat seine Leuchtkraft verloren, es ist matt und kraftlos geworden. So wie die Lebensmotivation mit jedem weiteren Tag im Gefängnis ein wenig mehr dahingeschmolzen ist. Nun, wo kein Haar mehr meine Kinnpartie umrahmt, stechen meine eingefallenen Gesichtszüge besonders hervor. Irgendwie erinnern sie mich an Haymitch, an seine dunklen Augenringe und sein hageres Gesicht. Der Ausdruck darauf ähnelt sich, als hätten wir dieselben Qualen durchlebt. Der Gedanke gefällt mir nicht. Dr. Jennings Geschichte über Haymitchs Rehabilitation kommt mir wieder in den Kopf und ich muss den Blick abwenden.
Wir haben nicht dieselben Qualen durchgemacht, sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Trotzdem kann ich nicht abstreiten, dass wir während all diesen Monaten irgendwie miteinander verbunden waren. Mein Kopf war bei ihm, zu Anfang mehr als zum Ende hin. Er war mit seinen Gedanken ebenfalls bei mir, auch wenn ich nicht weiß, ob Dr. Jennings mit ihrer Erzählung vielleicht etwas übertrieben hat.
Das ist es, was mir Angst macht: Die Vorstellung, dass Haymitch nachts wach im Bett lag und an mich dachte, während ich auf der anderen Seite des Landes gefoltert und misshandelt wurde. Der Gedanke, dass ich blutend und besinnungslos auf dem Boden meiner kalten Zelle lag und sein Gesicht vor meinem geistigen Auge das Einzige war, das mich am Leben hielt, während er tausende Meilen entfernt ein Bild von mir vor Augen hatte und um Vergebung flehte.
Was für ein schrecklich seltsames Paar wir doch sind.
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Diesmal passiert nicht allzu viel, eher ein Übergangskapitel, aber ich finde es trotzdem wichtig! Ich hoffe, euch gefällt's! :)
Skyllen
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