35.1. (You) Follow Me Into My Dreams
Song Inspiration für dieses Kapitel: My Tears Are Becoming a Sea, Midnight City – M83
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(You) Follow Me Into My Dreams
Schlafen ist eine Qual. Den längsten Teil der Nacht liege ich wach aber mit geschlossenen Lidern im Bett und versuche, das Schreien in meinem Kopf zu ignorieren. Die unterschiedlichsten Gedanken strömen an meinem inneren Auge vorbei; wie das Wasser eines Flusses in unglaublicher Geschwindigkeit in eine steile Klippe hinabstürzt. So schnell, dass ich kaum die Gelegenheit habe, mich einem der Gedanken anzunehmen, da sich bereits der nächste Impuls in den Vordergrund meiner Wahrnehmung drängt. Mein Gehirn möchte keine Ruhe geben.
Haymitchs Gesicht taucht immer wieder vor mir auf. Ich gehe unser Gespräch abermals durch und wenn ich für einen kurzen Augenblick in den Schlaf abdrifte, schrecke ich durch meine eigene Stimme hoch, die unseren Dialog wiederholt. Ich weiß, dass ich am Schlafen bin, wenn das leise Murmeln meiner Stimme einzelne Wortfetzen zu zitieren beginnt. Doch erst, wenn sie sich mit der Zeit in ein schrilles Kreischen verwandelt, löst mein Körper die Muskeln, die mich an die Matratze binden und ich kann aufspringen und nach Luft schnappen.
Seitdem er das Krankenzimmer verlassen hat, hat sich eine eisige Leere in meinen Magen geschlichen, die sich mit jeder verstreichenden Stunde weiter auszubreiten scheint. Ich weiß, dass es ein Vorbote für eine Panikattacke ist. Den meisten Teil der Nacht liege ich wach und warte darauf, dass sie mich endlich überrollt und ich abschließen kann.
Haymitchs Präsenz müsste mich in eine solche Höllenangst versetzen, aus der mich auch nicht das lauteste Kreischen der Welt zurückholen könnte. Und trotz des immer größer werdenden Gefühls des Unmuts, habe ich die Panik unter Kontrolle. Meine Hände zittern, mein Herz rast, ich schwitze wie verrückt – aber das ist Normalität und lässt mich hoffen, dass meine Psyche nicht verloren ist. Ein weiterer Nervenzusammenbruch ist das Letze, was ich in dieser undurchschaubaren Situation gebrauchen kann.
Als mich die Müdigkeit irgendwann komplett übermannt, wälze ich mich von einer Seite zur anderen. Es fühlt sich an, als würden sich die Minuten in die Ewigkeit strecken. Die Dunkelheit ist allgegenwärtig und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die Nacht sich endlich ihrem Ende neigt. Obwohl ich genügend Zeit gehabt hätte, um mich zu auszuruhen, schmerzt jede Faser meines Körpers. Die Kälte der heruntergefahrenen Heizung klammert sich mit eisigen Fingern an meine Glieder und flüstert mir unheimliche Floskeln ins Ohr.
Katniss' Schreie lassen mich herumfahren. Meine Augen fahren zum Bildschirm hoch, den ich bisher völlig ignoriert habe. Geweitete graue Augen treffen meine und für einen Moment stehe ich wie angewurzelt da, weil ich die blanke und brutale Panik darin nicht verstehe. Sie ist mir fremd. Aber wie könnte es auch anders sein? Ich habe nicht für einen Tag in meinem Leben das durchmachen müssen, was dieses Mädchen im letzten Jahr erleiden musste.
Katniss' Gesichtsausdruck ist verzerrt, als sie direkt in die Linse der Kamera starrt, die ihr Bild nun auf jeden einzelnen Bildschirm in Panem überträgt. Sehr wahrscheinlich ist sie sich dem gar nicht bewusst.
Die Kamera zoomt heraus uns nun erkenne ich den Bogen, den sie gespannt in ihren Händen hält. Wo ist Peeta? Wieso sieht sie so verzweifelt aus? Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist der Plan, den die kleine Gruppe von Verbündeten am Strand durchführen wollte. Irgendetwas muss schiefgelaufen sein. Getrocknetes Blut klebt an ihren Fingern, mit denen sie den Pfeil umklammert, den sie in genau dieser Sekunde auf Finnicks Herz richtet.
„Katniss, verschwinde von dem Baum!" Finnick scheint genauso außer Atem zu sein wie Katniss. Dreck bedeckt den Großteil seines Gesichts und Schweißperlen laufen ihm über die Stirn. Er streicht sich mit dem Ärmel darüber und verteilt weiteren Schlamm auf seiner Haut, die nun nicht mehr im Licht des Mondes schimmert, der auf die kleine Lichtung scheint. Seine Stimme klingt heiser und abgehetzt.
Katniss fixiert ihn weiterhin, ohne sich einen Zentimeter zu bewegen. Sie scheint nicht einmal zu atmen. Etwas flackert in ihrem Blick. Verwirrung. Fassungslosigkeit. Bestürzung. Plötzlich fürchte ich, dass Katniss die falsche Entscheidung treffen wird. Finnick scheint dieselbe Sorge zu haben, denn er hebt seine Hände in einer beschwichtigen Geste in die Luft. Die Furcht ist deutlich erkennbar: Seine Finger zittern und seine Pulsader pumpt das Blut viel zu schnell durch seinen Körper.
Nach einer Sekunde der Überwindung macht der junge Sieger einen Schritt auf das Mädchen zu. Seine Mundwinkel zucken und ein kaum sichtbares Lächeln bildet sich auf seinen Lippen, als er zu sprechen beginnt. „Katniss", sagt Finnick und betont jede Silbe seiner Worte mit einer solchen Bedächtigkeit, dass ich das Gefühl bekomme, er habe den Satz bereits ein dutzend Mal geübt. Der Donner, der bis zu diesem Moment noch allgegenwärtig war, setzt aus und nun klingen seine Worte über die gesamte Lichtung, sodass jeder Bewohner Panems sie ohne Probleme verstehen kann. „Denk daran, wer der wahre Feind ist."
Katniss scheint erst nicht zu verstehen. Ihre wirren braunen Haare wehen um ihr Gesicht, aus dem nun jede Farbe gewichen ist. Und dann leuchtet plötzlich ein brennendes Feuer der Entschlossenheit in ihren Augen auf, als sie begreift. Sie kehrt von Finnick ab und ihr Kopf wendet sich gen Himmel. Sie lässt ihren Bogen sinken und rennt zurück zum Baum.
Finnick schreit ihren Namen, aber es ist bereits zu spät. Das Grölen des Donners kehrt mit einer solchen Intensität zurück, dass ich erschrocken einen Schritt zurückmache und aus den dunklen Fenstern des Trainingscenters schaue, um mich zu vergewissern, dass draußen nicht tatsächlich ein brausender Sturm tobt.
Katniss greift nach dem Messer, das neben Beetees leblosem Körper auf dem Boden liegt, bindet ihn um ihren eigenen Pfeil und zielt dann in die dunkle Nacht, den glühenden Sternen entgegen. Ein greller Blitz schlägt in den Baum ein, Katniss schreit und lässt den Pfeil fliegen. Der Fernseher leuchtet ein letztes Mal weiß auf, dann bricht die Verbindung zur Arena ab.
Ich gebe mir nicht die Mühe, die Fernbedienung zu benutzen, um dem Fernseher wieder Leben einzuhauchen. Etwas in meinem Bauch sagt mir, dass es eine lange Zeit sein wird, bis ich Katniss' Gesicht wieder vor Augen haben werde. Der Gedanke bereitet mir eine solche Übelkeit, dass mein Hirn zu Haymitch abschweift.
Haymitch. Eine heiße Vorahnung rennt mir den Rücken herunter. In einer überstürzten Bewegung drehe ich mich um, nur um ihn direkt hinter mir im Türrahmen stehen zu sehen. Seine Lippen sind zu einer undurchdringlichen Miene zusammengepresst und er hat die Arme vor der Brust verschränkt, aber für einen Moment kann ich nicht anders als erleichtert aufzuatmen. Er ist hier. Er ist noch im Trainingscenter.
Und da weiß ich, dass ich träume.
„Wo willst du hin?", höre ich mich fragen, bevor ich seine gesamte Gestalt in Augenschein nehmen kann.
Haymitch sieht aus, als würde er gerade aufbrechen wollen. Er trägt schwarze Kunststoffstiefel, die ich bisher nur bei Friedenswächtern gesehen habe und auch der Rest seiner Kleidung besteht aus dunklen Farben. Beinahe so, wie wenn er nicht gesehen werden will. Die Jacke, die er sich in einer schnellen Geste über die Schultern gestreift haben muss, besitzt eine lange tiefe Kapuze. Perfekt, um sein Gesicht vor den gierigen Überwachungskameras zu verstecken, die in der gesamten Stadt verteilt sind.
„Es wird Zeit für mich zu gehen", sagt Haymitch und stößt sich vom Türrahmen ab. Seine grauen Augen blicken mich verhalten an, fast schon misstrauisch.
„Gehen?" Meine Stimme schnellt eine Oktave in die Höhe und ich spüre Angst in mir aufsteigen. Mein Magen zieht sich zusammen, wie nach einem festen Schlag. „Siehst du denn nicht, was geschehen ist? Katniss braucht unsere Hilfe!" Ich deute mit meinen langen pinken Fingernägeln auf den flackernden Fernseher.
Aber Haymitch schüttelt nur den Kopf, als hätte ich etwas Wesentliches nicht begriffen. „Und genau das tue ich gerade."
Er macht einen weiteren Schritt in den Raum und für einen Moment denke ich, dass er sich mir nähern möchte. Erst als er an mir vorbeigeht, wird mir klar, dass er nicht vorhat, stehen zu bleiben. Mein Herz macht einen erschrockenen Satz. Mir wird klar, dass er mich gerade verlässt. Meine Beine stolpern vorwärts, ohne dass mein Hirn darüber nachdenken muss. Ich stelle mich Haymitch in den Weg und lege ihm in einer standhaften Geste meine flachen Hände auf die Brust. Auf seinem breiten Körper sehen meine Hände winzig aus.
„Das geht nicht", platzt es in verzweifeltem Ton aus mir heraus. „Was hast du dir da in den Kopf gesetzt? Wo willst du hin?"
„Das kann ich dir nicht sagen", flüstert Haymitch ohne einen Funken von Reue in der Stimme. Er weicht meinem fordernden Blick aus, während er spricht. „Es ist besser, wenn du es nicht weißt. Jetzt geh mir aus dem Weg, Effie. Du hast mich bereits genug aufgehalten." In einer Bewegung, so schnell, dass ich sie kaum wahrnehme, hat er nach meinen Händen gegriffen, sie von seiner Brust gezogen und mich zur Seite geschoben.
Ich kann nicht anders, außer ihn mit weiten Augen anzustarren, als er seinen Weg fortsetzt, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Jetzt oder nie, schreit eine Stimme in meinem Kopf, so laut, dass es unmöglich erscheint, sie zu ignorieren. Wenn du jetzt nichts unternimmst, wirst du ihn nie wiedersehen.
„Nein", sage ich mit einer solchen Autorität, dass es selbst mich überrascht. Haymitchs Schultern zucken für eine Sekunde, doch er hält nicht inne. „So einfach verlässt du mich nicht, Haymitch Abernathy. Du kannst den harten, emotionslosen Kerl solange spielen wie du willst, aber mich schüchterst du damit nicht ein."
Sein Kopf dreht sich blitzschnell zu mir herum und ich könnte schwören, dass ein Knochen in seinem Nacken dabei ein gequältes Knacken von sich gibt. Haymitch hat die Augenbrauen zu einer verärgerten Miene zusammengezogen und fixiert mich mit einem beinahe feindseligen Blick. „Du hast keine Ahnung, was gerade auf dem Spiel steht. Mit jedem Atemzug, den ich deinetwegen hier vergeude, schwinden Katniss' Chancen, lebend dort rauszukommen."
„Aber ...", stammele ich, offensichtlich aus dem Konzept gebracht. Was redet er da? Was will er mir sagen? Worin hat sich Haymitch bloß verstricken lassen? „Haymitch, bitte ... du überstürzt die Dinge. Wenn du jetzt gehst, dann gibt es keine Möglichkeit, das alles hier wieder geradezurücken. Du rennst in dein eigenes Verderben!"
Haymitchs schallendes Gelächter durchdringt das Wohnzimmer. Dann verstummt er abrupt, schaut kurz zu Boden und lächelt mich dann traurig an. Er steht direkt unter einer der Lampen und das gelbliche Licht lässt seine Augenringe noch tiefer wirken. „Nur eine Person aus dem Kapitol würde so etwas sagen. Wenn du es immer noch nicht erkannt hast, dann kann ich dich nicht retten, Effie."
„Ich brauche niemanden, um mich zu retten", flüstere ich kaum hörbar und dennoch trotzig.
„Das hoffe ich, Süße", sagt Haymitch und seine Füße machen einen Schritt zurück, in Richtung der Tür, die ihn in den Flur und zu den Aufzügen führt. „Das hoffe ich mit jeder Faser meines Körpers."
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