Song Inspiration für dieses Kapitel: When I See You Again (feat. Charlie Puth) – Wiz Khalifa
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„Kennst du Fulvia Cardew?"
Obwohl seine Frage mich etwas aus der Bahn wirft, nicke ich. Er wird einen Grund dafür haben. „Erstmals begegnet bin ich Fulvia einige Jahre nach deinen ersten Hungerspielen als Betreuerin", fährt Haymitch fort und in meinem Kopf reimt sich langsam etwas zusammen. „Sie ist die rechte Hand von Plutarch Heavensbee. Durch sie bin ich das erste Mal mit der Rebellion in Berührung gekommen. Sie erzählte mir von Distrikt Dreizehn."
„Zuerst habe ich ihr nichts davon geglaubt und sie als verrückte Kapitolerin abstempeln wollen, aber Plutarch hatte schon andere Sieger vor mir ins Boot geholt. Schließlich war es Mags, die mich überzeugte, bei der Sache mitzumachen", erzählt Haymitch und schaut mich dann endlich direkt an. Die Wand, die mich eben noch von ihm getrennt hat, ist verschwunden und ich sehe den Schmerz, den er immer verspürt, wenn er an die Vergangenheit zurückdenkt.
Haymitch zögert, bevor er fortfährt. Als würde er sich überwinden müssen, die nächsten Worte auszusprechen. Er senkt den Blick. „Du musst wissen, ich hatte eine Heidenangst vor dem Kapitol. Sie haben mich wohl als letztes eingeweiht, weil sie mit Ablehnung meinerseits gerechnet haben. Keiner von ihnen hat so viel verloren, wie ich durch das Kapitol, durch Snow, verloren habe. Und ich reagierte zunächst genauso abwehrend, wie sie erwartet hatten."
Seine Worte bilden einen Kloß in meinem Hals. Das Bild meiner Eltern taucht vor meinem geistigen Auge auf und meine Glieder versteifen sich. „Die Rebellion wurde lange im Dunkeln geplant. Sie brauchten nur noch den passenden Moment, um die Sache ins Rollen zu bringen. Sie brauchten einen Funken."
„Und dann kam Katniss", flüstere ich tonlos.
„Und dann kam Katniss", bestätigt Haymitch mit derselben leeren Stimme. „Und ich, der eigentlich so weit weg von der Rebellion entfernt sein wollte wie irgend möglich, war plötzlich gezwungen, eine Hauptrolle in genau dieser einzunehmen." Er macht eine lange Pause. Seine Augen werden für einen Moment glasig und er verzieht das Gesicht, um die Emotionen zu verbergen, die ihn durchströmen. Dann hebt er wieder den Kopf und schaut mich traurig, beinahe flehend an. „Ich hatte keine Wahl."
„Man hat immer eine Wahl", hauche ich zurück. Ich verstehe die Worte selbst kaum, aber ich erkenne, dass er sie hört.
„Ohne die Rebellion, wäre Katniss schon vor langer Zeit gestorben, Peeta ebenso. Ich hatte keine Wahl", wiederholt Haymitch. Es ist seine Erklärung. Er bittet mich nicht um Vergebung, er schildert mir nur die Beweggründe für seine getroffenen Entscheidungen. Hätte ich es genauso getan? Um das Leben der Kinder zu verlängern, hätte ich alles gegeben. Ich bin mir sicher, dass ich es genauso getan hätte, wenn ich in meinem ersten Leben keine geblendete Frau aus dem Kapitol gewesen wäre.
„Ich musste das Kapitol für die Rebellion verlassen, sie hätten mich sonst getötet", höre ich Haymitch aus weiter Ferne sagen und es fühlt sich an wie ein Stich ins Herz.
„Nein", flüstere ich und spüre die Tränen, die mir auf einmal über die Wangen laufen. Mein Blick gleitet in ein endloses Nichts und ich weiß, dass ich von außen wie tot aussehen muss. „Sie hätten viel Schlimmeres mit dir angestellt. Der Tod wäre eine Gnade gewesen."
Haymitch schweigt. Ich weine tonlos. „Ich hätte alles getan, um dich dort rauszuholen, Effie. Hätte man mir die Wahl gelassen, hätte ich sofort mit dir den Platz getauscht." Er rückt näher zu mir heran und nimmt meine Hand in seine. Ich bin zu weit in meine eigene Realität abgedriftet, um ihn daran zu hindern. „Jeden Tag habe ich dafür gekämpft."
Seine Hand ist warm und irgendwie spendet die Berührung sogar ein wenig Trost, während mein Kopf an einem völlig anderen, finsteren Ort ist. Alles was ich sehe, sind Friedenswächter, hämische Gesichter und Blut. In meinen Ohren hallen meine eigenen Schreie von den Wänden wider. Von weit her dringt das bedrohliche Piepen der Herz-Rhythmus-Maschine zu mir durch. Mein Herz muss einen Marathon laufen, denn aus dem Piepen ist ein Kreischen geworden.
„Was kann ich tun?" Haymitchs Stimme klingt genauso panisch, wie ich mich fühle.
„Ich verstehe dich", kommt es mir über die Lippen und ich muss mich zwingen, halbwegs normal zu sprechen. Die Schluchzer, die meinen Körper durchzucken, machen das beinahe unmöglich. „Ich verstehe deine Beweggründe, Haymitch. Das tue ich wirklich. Aber das bedeutet nicht, dass ich dir verzeihen kann. Alles was passiert ist ..." Alles was ich durchlebt habe ... „Ich brauche Zeit, um zu heilen."
„Du hast alle Zeit der Welt", versichert Haymitch, ohne zu zögern. „Ich werde warten." Langsam beschleicht mich das Gefühl, dass sich das hier zu unserem ehrlichsten Gespräch aller Zeiten entwickelt. All die Jahre haben wir um unsere Gefühle herumgeredet. Wir haben nichts aufgearbeitet. Wir haben ignoriert und vergessen.
„Ich verstehe nur nicht ... Es muss andere Lösungen gegeben haben. Warum hast du mich im Kapitol zurückgelassen? Du hättest mich mit nach Distrikt Dreizehn nehmen können." Er hätte mich retten können. Ich schaue ihm in die Augen und suche nach der Wahrheit, aber meine Sicht ist durch die ganzen Tränen mehr als verschwommen. In einer schnellen Handbewegung wische ich mir übers Gesicht. Dann sehe ich die Reue in seinen Augen und zucke zusammen.
„Ich hätte hier nicht für deine Sicherheit sorgen können. Zu dem Zeitpunkt meines Aufbruchs warst du noch nicht beim Kapitol in Ungnade gefallen. Präsidentin Coin hätte dich nicht ohne Weiteres akzeptiert. Sie sind Kapitolern sowieso schon feindlich gesinnt." Haymitch drückt meine Hand, aber ich weiß nicht, was das bedeuten soll und so reiße ich mich von ihm los.
„Kannst du ..." Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. „Kannst du wieder zurückgehen?"
Für eine Sekunde blitzt Verwirrung über sein Gesicht. Als er begreift, verwandelt sich seine Miene wieder in die Eislandschaft von vorhin. Er nickt jedoch, bringt mehr Entfernung zwischen uns und setzt sich wieder an den Rand des Bettes. „Ich dachte, du wärst im Kapitol in Sicherheit." Plötzlich verliert sich sein Blick wieder in den Strängen seiner Gedanken. „Dann, ganz am Anfang des Kriegs, haben sie die Betreuer und Stylisten hingerichtet. Alle nacheinander wurden sie auf die Bühne gezerrt, Distrikt um Distrikt. Sie haben jedem eine Kugel in den Kopf gejagt, aber das war mir egal. Ich habe die ganze Zeit vor dem Bildschirm gesessen und darauf gewartet, dass sie Distrikt Zwölf aufrufen. Die ganze Zeit habe ich darauf gewartet, dass sie dich dort hoch zerren und dasselbe mit dir machen."
Seine Stimme wird leise und er hebt kurz die Hand, als würde er sie nach mir ausstrecken wollen, besinnt sich aber eines Besseren. Der Kloß in meinem Hals wird größer, denn ich kann mir genau vorstellen, wie er sich in dem Moment gefühlt haben muss. Wie er dort wartete, um mein Gesicht zu sehen. So wie ich in die Gesichter meiner Eltern gestarrt habe, als man ihnen dasselbe antat.
„Ich wusste nicht, was ich gemacht hätte, wenn sie dich dort oben exekutiert hätten. In den ersten Sekunden war ich einfach nur erleichtert, als ich dich nicht auf der Bühne stehen sah. Aber dann wurde mir klar, was das für dich bedeutete." Ich breche unseren Blickkontakt ab und senke den Kopf. „Wenn ich gewusst hätte, dass sie über unsere Vergangenheit im Klaren waren, dann hätte ich dich niemals im Kapitol zurückgelassen."
„Du hättest mich mitgenommen?"
Haymitch nickt bestimmt. Seine Augen haben sich verdunkelt. Ich weiß, was das bedeutet. Er dürstet nach einem Drink. Er braucht Alkohol, um den Dämonen zu entkommen. Für den Bruchteil einer Sekunde frage ich mich, was ich brauchen werde, um mit meinen zu leben. Einzelne Tränen haben wieder ihren Weg über meine Wangen gefunden.
„Wäre dies passiert, dann wäre jenes eingetreten und alles wäre ganz anders gekommen", murmele ich beinahe resigniert vor mich hin. Seine Worte ändern nichts an der Realität. Ich möchte ihm gerne Glauben schenken. Heute hat er so offen gesprochen, wie nie zuvor. Trotzdem klingt alles wie eine einzige große Ausrede. Als hätte er selbst nicht gewusst, was er machen sollte. Als wäre er mit der ganzen Rebellion überfordert gewesen.
„Octavius ist tot?", frage ich leise, als die Bedeutung seiner Erklärung langsam in mein Hirn durchsickert. Über die Monate in Gefangenschaft habe ich Octavius völlig vergessen. Ich kann nicht sagen, ob Haymitch sich überhaupt an ihn erinnert. Es war sein erstes Jahr als Betreuer. Wir waren Freunde in der Uni. Vor einer ewig langen Zeit hätte ich ihn als meinen besten Freund bezeichnet, noch bevor ich mich für die Hungerspiele entschieden habe. Es kommt mir vor, als wäre ein ganzes Leben seitdem vergangen. Sie haben ihn hingerichtet?
Haymitch nickt düster und kann mir nicht in die Augen schauen. Das Bild von Octavius, wie ihm vor laufender Kamera in den Kopf geschossen wird, will sich nicht heraufbeschwören. Sich ihn in dieser Situation vorzustellen, scheint unmöglich. Er, der doch immer so fröhlich und albern war, so hibbelig und aufgedreht. Genauso geblendet vom Kapitol wie ich, wenn nicht noch mehr.
Da ist kein Schmerz in meiner Brust, vielleicht etwas Überraschung und Bestürzung, aber kein Schmerz. Haymitchs Erklärung lässt eine andere Hinrichtung vor meinen Augen aufflackern.
„Ich brauche Zeit zum Nachdenken", sage ich, bevor Haymitch sich in weitere Ausflüchte verirren kann. „Ich denke, ich habe für heute genug gehört. Ich bin müde und muss mich ausruhen."
Haymitch reagiert perplex auf meinen höflichen Rauswurf. Für ihn endet unser Gespräch wohl ziemlich abrupt. Vielleicht hat er sich mehr davon erhofft. Ich bin dankbar dafür, auch wenn ich mir über meine eigenen Gefühle nicht vollends im Klaren bin.
Bevor Haymitch geht, verspricht er, mich wieder zu besuchen.
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Was haltet ihr vom Ende ihres ersten Gesprächs?
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