30.1. When Tables Turn

When Tables Turn

Nachdem mir jemand das Kleid und die Perücke vom Leib reißt und ich abgeschminkt werde, schicken sie mich in einer neuen Uniform zurück in meine alte Zelle. Johanna schaut mich mit großen Augen an, als sie sieht, dass ich körperlich unversehrt bin, meine Haare gekämmt sind und ich frische Kleidung trage. Die Tür schließt sich mit einem Quietschen hinter mir und ich lasse mich auf mein Bett fallen. Dann erzähle ich ihr von dem Interview, ohne dass sie mich auch nur nach einer Sache gefragt hat.

„Sie verlieren", flüstert Johanna schließlich und kann das brutale Grinsen auf ihrem Gesicht nicht verbergen. „Katniss ist der Spotttölpel und Peeta ist der Einzige in ihrer Reichweite, der noch irgendeine Macht über sie hat."

„Und warum war ich dann auch dort?", frage ich zögernd, denn ich fürchte mich vor der Antwort.

Johanna liegt auf dem Bett, während sie ihre Beine ausgestreckt gegen die Wand lehnt. „Das weißt du ganz genau", sagt sie dann. Die Freude aus ihrer Stimme ist verschwunden, auch wenn sie das Grinsen über die Stärke der Rebellion nicht von ihrem Gesicht wischen kann.

Haymitch lebt. „Du wusstest davon, oder?", frage ich sie dann und kann die Mischung aus Verwirrung und Wut in meinem Ton nicht verbergen. „Du wusstest von Distrikt Dreizehn."

Johanna wirft mir einen warnenden Blick zu und dreht sich dann auf den Bauch. „Natürlich wusste ich davon", erwidert sie dann unverblümt. „Was glaubst du, wer deinem Spotttölpel den Tracker aus dem Arm geschnitten hat?"

Obwohl die Wahrheit schon seit einer ganzen Weile zwischen uns schwebt, springe ich energiegeladen auf und mache einen Schritt auf sie zu. Die Größe der Zelle führt dazu, dass ich nun direkt vor ihrem Bett stehe und auf sie hinabstarre. Ich spüre, wie sich eine unerklärliche Wut durch meine Adern frisst. „Ich bin es leid, dass alle in meiner Umgebung mich anlügen oder mir etwas verheimlichen", fahre ich sie mit solch einem Zorn an, dass sie die Augenbrauen hebt. „Haymitch hat mich seit unserer ersten Begegnung nur angelogen. Er hat mich benutzt und hintergangen und wegen ihm verrotte ich nun in dieser verdammten Zelle! Und jetzt erzählst du mir, dass du, genauso wie er, die ganze Zeit von dieser verdammten Rebellion gewusst hast?"

Johanna seufzt und setzt sich auf. „Beruhig' dich, Trinket, wir sind nicht allein hier", zischt sie zurück. Es braucht nicht viel Provokation, um Johanna in Rage zu bringen. „Ich habe getan, was getan werden musste, um dieses System zu Fall zu bringen. Während du Champagner getrunken und an Feiertagen Kuchen gegessen hast, habe ich in der Arena Menschen getötet. Ich musste mit ansehen, wie Snow meine ganze Familie abschlachten ließ. Genauso war es bei Haymitch. Er kam als Sieger nachhause, aber seine Familie war tot."

Ich starre Johanna mit geweiteten Augen an und weiß für einen Moment nicht, was ich sagen soll. Mein Magen krümmt sich zusammen als hätte sie mich geschlagen. Doch es ist meine eigene Respektlosigkeit, die mich bestraft. Mehrere Sekunden sind unsere wütenden Blicke aufeinander geheftet, dann beginnt meine Maske zu bröckeln und ich mache einen Schritt rückwärts, um mich auf meinem Bett fallenzulassen.

Johannas Worte lenken meine Gedanken zurück zu meiner eigenen Familie. Die Bilder, die ich vorhatte zu verdrängen, sind wieder da und präsenter als zuvor. Der Schmerz ihres Verlustes windet sich um meine Brust und zerquetscht mein Herz. Ich versuche meine Augen aufzureißen und Johanna vor mir zu sehen, deren aufgebrachter Ausdruck nun Verwirrung gewichen ist. Vor meinem geistigen Auge taucht meine Mutter auf. Ich liebe dich. Meine zitternde Hand fährt zu meiner Kehle.

„Trinket?" Johannas Stimme ist leise, aber so beständig, dass es mir gelingt, mich auf sie zu konzentrieren.

„Sie haben meine Eltern hingerichtet", höre ich mich von weither sprechen.

Johannas Augen weiten sich für den Bruchteil einer Sekunde und ich sehe, wie sie sich anspannt. „Wann? Wieso hast du mir nichts davon erzählt?"

„Vor dem Interview. Sie haben mich in einen Raum gebracht und von dort musste ich zuschauen. Sie haben es im Fernsehen übertragen. Sie haben sie einfach erschossen. Sie haben nichts falsch gemacht. Sie hatten nichts damit zu tun." Meine Stimme wird immer lauter und zittriger. Es ist das erste Mal, dass ich es laut ausspreche, aber es bringt mir keine Erlösung. Es macht es nur realer. Nur schlimmer.

„Fuck." Es ist alles was Johanna hervorbringt. Sie senkt den Blick. Sie weiß nicht was sie sagen oder machen soll. Sie war noch nie gut in solchen Dingen.

„Sie hatten nichts damit zu tun", wiederhole ich und richte meinen Kopf in ihre Richtung. „Sie wussten von nichts. Genauso wie ich. Ich hatte mit dem hier nichts zu tun, bis Haymitch mich in all das hineingezogen hat."

„Das hat nichts mit Haymitch zu tun", antwortet Johanna mir und eine kleine Stimme in meiner Brust, weiß dass sie recht hat. Aber das ist mir egal. „Eigentlich hat Haymitch dir sogar das Leben gerettet. Wenn zwischen dir und ihm nichts gewesen wäre, dann wärst du jetzt tot. Der einzige Grund, warum du noch am Leben bist, ist, dass sie dich brauchen. Sie brauchen dich, um ihn zu brechen."

„Haymitch hat mich zurückgelassen", fahre ich sie an. Tränen laufen mir übers Gesicht, aber das Zittern in meinen Gliedern ist von einer neuen Welle der Wut weggespült worden. „Er hätte mich mitnehmen können. Er hätte mich vor dieser ganzen Scheiße hier bewahren können. Aber er hat mich zurückgelassen."

„Verdammt, Trinket", flüstert Johanna und schüttelt den Kopf. Sie ballt ihre Hand zur Faust und entspannt sie dann wieder. Wieder legt sie sich auf ihr Bett und dreht mir den Rücken zu.

Ich starre sie für eine lange Zeit einfach nur an. Ich sitze am Rande meines Bettes, spiele mit dem Saum meiner Kleidung und beobachte, wie ihr Atem nach einer Weile flach wird. Ihre Brust hebt und senkt sich in einem gleichmäßigen Takt. Ich sehne mich nach diesem Frieden. Ich sehne mich nach einem Frieden ohne Erwachen. Sobald ich den Gedanken zu Ende gedacht habe, beginnen meine Knie wieder zu zittern. Bist du etwa so schwach geworden?

In den nächsten Tagen reden Johanna und ich kaum miteinander. Ich bin nicht sauer auf sie und sie ist es auch nicht. Es gibt einfach nichts zu sagen. Wir vertreten verschiedene Standpunkte und keiner von uns wird davon abrücken. Die Friedenswächter lassen uns ebenfalls in Frieden. Sie gehen ab und zu an unserer Zelle vorbei und bringen uns unregelmäßig etwas zu Essen, aber ansonsten liegt der Trakt in völliger Stille.

Irgendwann beginnen wir uns zu fragen, was dort draußen passiert. Mir fällt das Bild der Kampfhubschrauber am Himmel des Kapitols wieder ein. Johannas Stimmung verdunkelt sich, als sie herausfindet, dass ich vergessen habe, ihr dieses kleine Detail mitzuteilen. Nur dass ich zu dem Zeitpunkt größere Sorgen hatte als ein paar Explosionen im äußeren Rand der Stadt.

Kurz darauf werde ich erneut von den Friedenswächtern mitgenommen. Diesmal liegt keine Besorgnis in Johannas Blick. Sie ist sich sicher, dass ich zurückkehren werde. Es kommt mir beinahe wie ein Deja-Vu vor, denn ich werde wieder an die Oberfläche gebracht, in dasselbe schwarze Kleid gesteckt und in einem schwarzen Auto davongefahren. Ich kann nicht genau sagen, wie lange das letzte Interview her ist. Ich würde auf ein bis zwei Wochen schätzen. Doch in der Stadt hat sich seither einiges getan.

Die Straßen sind immer noch menschenleer, aber die Hubschrauber und Hovercrafts des Kapitols drehen nun viel zentraler ihre Runden als zuvor. Noch weit genug vom Zentrum entfernt, aber die Rebellen müssen es wohl geschafft haben, die äußeren Ringe einzunehmen.

Diesmal fährt mich das Auto nicht zum Fernsehstudio. Ich kenne die Straßen und ihre Wege auswendig. Trotzdem erkenne ich den Präsidentenpalast erst, als ich ihn vor mir sehe. Mein Herz beginnt wie wild zu rasen. Doch ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Im Palast angekommen erwarten mich keine weiteren negativen Überraschungen. Die Friedenswächter geleiten mich ohne Umwege direkt in einen Raum, der mit luxuriösen Gemälden und dicken Vorhängen verziert ist. An einer Seite des Raumes hängt das Wappen von Panem. Dort erwarten mich Peeta und Caesar bereits. Vor ihnen stehen einige Monitore und Kameras, sowie einige Bedienstete des Fernsehsenders. Beide tragen, genauso wie ich, auch dieselbe Kleidung vom letzten Interview und sitzen auf einem breiten runden Sofa. Ich habe mich gerade hingesetzt und Peeta kann mir noch ein kurzes Nicken zu werfen, dann lächelt Caesar auch schon in die Kamera und startet ohne Umschweife mit seiner Show.

Den freudigen Blicken des Moderators nach zu urteilen, wird nicht Peeta das Zentrum dieses Interviews sein. Heute werde ich mich nicht im Hintergrund verstecken können. Aber mir geht es besser. Mein Auftreten ist ruhig, fokussiert und professionell. Ich setze nicht mein übliches Effie Trinket Lächeln auf, aber der Rest meiner Performance lässt sich mit ihrem Handling von öffentlichen Auftritten vergleichen. Ich werde ihnen keine Angriffsfläche geben.

Caesar beginnt mit lustigen und auflockernden Phrasen in das Thema einzuleiten. „Nun meine liebe Miss Trinket, ich muss zugeben, dass ich die unbeschwerte Art von Haymitch schon vermisse. Zu bedauerlich, dass von ihm jede Spur fehlt. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es für Sie sein muss. Ihre Beziehung hatte ja bekanntlich einige Höhen und Tiefen." Bei seinen letzten Worten zwinkert er zu mir herüber und grinst. Eine Reihe perfekter, weißer Zähne kommt zum Vorschein.

„Einige Höhen und Tiefen", wiederhole ich und erlaube mir, für eine Sekunde in der Zeit zurückzureisen. „So kann man es auch betrachten." Ich bin nicht unhöflich. Meine Stimme klingt mehr als freundlich, geschmeidig wie Seide, aber ohne die Nähe, die ich vor der Rebellion für Caesar übrighatte.

„Wenn man sich eure Geschichte anschaut, dann ist sie schon etwas Besonderes im Vergleich zu der, anderer Mentoren und Eskorten", erzählt Caesar und ein geheimnisvolles Lächeln spielt um seine Lippen. „Für die, die sich nicht mehr daran erinnern können: Miss Trinket hat ihre Karriere als Betreuerin von Distrikt Zwölf mit den vierundsechzigsten Hungerspielen begonnen. Ihr erstes gemeinsames Jahr war außergewöhnlich, das haben wir damals alle gesagt. Beide Tribute sind unter die Top Ten gekommen. Ein Rekordjahr, wenn man bedenkt, dass dies das letzte Mal zu Haymitchs eigenem Sieg der Fall gewesen war. Nur leider hat sich dieses Phänomen in den Jahren danach nicht wiederholt."

„Bis Katniss und Peeta kamen", korrigiere ich Caesar, ohne ihn anzuschauen. Die 64. Hungerspiele sind lange her. Einiges hat sich in dieser Zeit verändert. Vor allem aber habe ich mich verändert. Die 64. Hungerspiele waren eine Rekordsaison für Distrikt 12. Trotzdem habe ich das Jahr zu hassen gelernt. Wegen Haymitch. Wegen meiner Beziehung zu den Tributen. Wegen meiner Naivität.

„Bis Katniss und Peeta kamen." Caesar nickt und ist offensichtlich glücklich darüber, dass ich auf ihn eingehe. Der Gedanke von den Kindern lässt mich lächeln. Sie haben mich gerettet. „Ich bin mir sicher, dass es einige da draußen interessieren würde, was da in den Jahren nach den vierundsechzigsten Hungerspielen zwischen Ihnen und Haymitch geschehen ist. In der ersten Saison habt ihr so vertraut gewirkt, aber danach erschien alles wie eine hundertachtziggrad Kehrwende. Was ist passiert?"


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Und wie hat es euch gefallen?

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