3. Behind The Mask

Behind the Mask

Wie befürchtet sitze ich als erste putzmunter und hellwach im Speisesaal und trinke gemütlich einen Kaffee, während ich die Sonne beobachte, die sich über den Gebäuden des Kapitols erhebt. Es entspannt mich, aus dem Fenster und in den gewöhnlichen Alltag zu schauen. Es lenkt mich ab. Es bewahrt mich davor, an letzte Nacht zu denken. Gestern habe ich für die Jungs die Accessoires besorgt und werde sie ihnen gleich überreichen. Wir sind ein Team.

Ich drehe mich um und sehe, dass Haymitch mit Peeta im Schlepptau den Raum betritt. Katniss ist nicht bei ihnen. Aus irgendeinem Grund wundert es mich nicht sehr, sie befolgt nicht gerne Befehle. Die beiden wünschen mir einen Guten Morgen und holen sich am Buffet etwas zu Essen. Als sie sich zu mir gesellen schaue ich ihnen aufgeregt in die Gesichter.

„Was ist los?", fragt Peeta sogleich erwartungsvoll.

Ich krame in meiner Tasche und reiche ihnen jeweils eine flache dunkelblaue Schachtel. Mit zusammengepressten Lippen schaue ich ihnen zu, wie sie beide die Schachtel öffnen. Peetas Augen strahlen. Er nimmt das goldene Halskettchen heraus und schenkt mir ein breites Lächeln. „Vielen Dank, Effie", sagt er dankend. „Es ist perfekt. Könntest du es mir umbinden?"

Höchst zufrieden lächele ich ihn an und stehe auf, um die Kette in seinem Nacken zu schließen. „Das habe ich doch gerne gemacht", erwidere ich, immer noch ein Lächeln auf den Lippen. „Schließlich sind wir doch ein Team!"

Peetas Reaktion ist genau das, was ich mir erhofft habe. Nun schaue ich neugierig zu Haymitch, der den Armreif etwas unsicher in seiner Hand wiegt. Nach Peetas Reaktion bin ich auf alles gewappnet. Doch letztendlich nickt er und bedankt sich. Er legt sich den Reif um den Arm und betrachtet ihn von allen Seiten. Sein Gesicht ist vom Alkohol gerötet und ich seufze innerlich. Wieso ist es bloß so schwer dem Alkohol zu entsagen?

„Was ist mit Katniss?", frage ich in die Runde und beinahe zeitgleich zucken beide mit den Schultern.

„Ich glaube, ihr geht es nicht so gut", antwortet Peeta vorsichtig und beißt in sein Brötchen. Es ist nicht das Brot aus dem Kapitol, sondern aus einem der Distrikte, deshalb vermute ich, ist es aus 12.

Nachdem wir noch ein paar Worte gewechselt haben, mustert Haymitch mich plötzlich von oben bis unten. „Du willst doch nicht etwa so die anderen Mentoren treffen?"

Haymitch und ich werden uns gleich mit den Betreuern und Mentoren der anderen Distrikte treffen, um uns etwas besser kennenzulernen. Dies könnte zum Vorteil sein, falls Katniss und Peeta in der Arena mit anderen Siegern ein Bündnis schließen sollten. Vertrauen spielt da eine große Rolle.

Verwirrt und etwas beleidigt schaue ich an mir herunter. Seine Worte sind definitiv kein Kompliment gewesen, das hat man gehört. Ich habe mir extra viel Mühe bei meinem Outfit gegeben. Ein süßes pinkes Cocktailkleid mit vielen Rüschen, eine pinke Perücke, die ebenfalls mit einer einzelnen Rose verziert ist und dazu neonpinke Highheels, die mir jedoch bis zu den Knien reichen. Dazu passend habe ich meinen Teint um mindestens fünf Nuancen verhellert, pinken Lippenstift aufgetragen und meine Nägel passend lackiert. Mehr als sonst also. Schließlich ist es ein besonderer Anlass.

„Was ist falsch daran?", fauche ich zurück und fixiere ihn wütend.

Haymitch beginnt zu lachen und zeigt auf mich. „Süße, wir treffen uns hauptsächlich mit Mentoren aus anderen Distrikten", sagt er amüsiert. „Die stehen nicht auf schickimicki Kapitolmode und vor allem nicht auf Kapitoler, die tun, als wären sie die wichtigsten Menschen auf der Welt. Die Rampensau-Nummer zieht bei denen nicht. Es widert sie höchstens an, weil sie eine genauso abschätzende Meinung über das Kapitol haben wie ich." Jetzt grinst er und ich verliere beinahe meine Besinnung.

„Bist du dir eigentlich bewusst, wie lange ich gebraucht habe, um so auszusehen?!" Mit meinen Händen fahre ich meinen Körper entlang, um ihm deutlich zu machen, was ich meine.

„Keine Ahnung", gibt er zu „Aber bist du dir eigentlich bewusst, dass weniger auch mal mehr sein kann?" Man sieht ihm an, dass er müde ist mit mir über meine Outfits zu diskutieren. Peeta sitzt einfach nur stumm neben uns und schlürft amüsiert seine heiße Schokolade. Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu, aber sein Schmunzeln wird nur noch breiter.

Seufzend setze ich mich wieder hin und bemerke erst jetzt, dass ich mich vor Wut erhoben habe. „Für dich und in den anderen Distrikten vielleicht, aber nicht im Kapitol!"

„Dann mach du doch einfach den Anfang! Anstatt immer nur an dich zu denken und wie du aussiehst, könntest du dich ein bisschen mehr zurückhalten, dich anpassen und einen besseren Eindruck machen, was zur Folge hat, dass Peeta und Katniss möglicherweise bessere Chancen haben!" Gereizt schlägt er mit der flachen Hand auf den Tisch. Ich zucke automatisch zurück. Peetas heiße Schokolade schwappt über den Becherrand und ergießt sich über den Tisch. Schützend ziehe ich meine Unterlagen zu mir. Sein letztes Wort. Schweigend stehe ich auf, wünsche Peeta viel Glück für das Training und verziehe mich in mein Zimmer.

Dort betrachte ich mich im Spiegel. Er ist groß genug, um mich in voller Statur zu sehen. Hat Haymitch recht? Ich versuche mir vorzustellen, wie es wohl auf jemanden aus den Distrikten wirken muss, wenn ich so in den Raum platzen würde. Er wäre bestimmt überrascht, weil man so etwas ja nicht jeden Tag zu Gesicht kriegt. Unnatürlich? Die viele Schminke strahlt mir entgegen. Keine Frau in den Distrikten würde jemals ihre natürliche Hautfarbe unter Unmengen von weißem Puder verstecken. Auf jeden Fall habe ich eine solche Frau noch nie in den Reihen der Jugendlichen von Distrikt 12 gesehen. Vielleicht können sie sich einfach keine Schminke leisten?

Ich komme zu dem grausigen Schluss, dass Haymitch recht hat. Mir so etwas zu denken ist schon komisch, aber es auch noch laut auszusprechen oder wegen ihm etwas anderes anziehen? Kommt eigentlich gar nicht in Frage, aber es geht wirklich um Katniss und Peeta und nicht um mich. Es geht um ihre Leben. Also schminke ich mich komplett ab und ziehe meine Perücke aus. So kann ich aber definitiv nicht raus. Niemand außer meiner Familie hat mich jemals so zu Gesicht bekommen. Meine Mutter würde mich für diese Schandtat sofort an den Pranger stellen.

Am Ende ziehe ich ein schlichtes, schwarzes, bodenlanges Kleid an, pudere mich in meiner Hautnuance ein und trage Rouge und Maskara auf. Jetzt merke ich, dass ich mich nicht ohne Perücke raus traue. Seufzend betrachte ich mich im Spiegel und entscheide mich schließlich für eine einfache platinblonde Perücke ohne jeglichen Schmuck. Das künstliche Haar ist zu einem langen hübschen Zopf geflochten, der mir in den Nacken fällt.

Dann gehe ich hinaus. Haymitch erwartet mich bereits. Er mustert mein Outfit von oben bis unten. Dann nickt er schließlich. „Schmoll nicht so, Süße. Ohne das ganze Zeug siehst du sowieso viel besser aus." Er weiß, wie viel Überwindung es mich gekostet hat, mich ihm so zu präsentieren.

Während der Aufzug sich in Bewegung setzt, berichtet Haymitch mir die ersten Eindrücke von Katniss und Peeta über die anderen Sieger. „Sie möchten keine Allianz eingehen", sagt er. „Das könnte ein großer Nachteil sein, weil die anderen sich bereits von früheren Jahren als Mentoren kennen."

„Du kannst sie kaum dazu zwingen. Lass ihnen die Gelegenheit, sich mit ihnen vertraut zu machen, vielleicht ändern sie ihre Meinung noch", gebe ich zu Bedenken und ernte einen anerkennenden Blick von ihm. Haymitch scheint sichtlich überrascht von meinen Worten. Weise Worte. Als würde ich sonst nur dummes Zeug von mir geben. Aber das sage ich nicht laut.

Im Erdgeschoss angekommen, führt Haymitch mich sofort zu Chaff und Seeder. Sollten die beiden nicht eigentlich beim Training sein? Haymitch scheint dies allerdings nicht zu wundern. Seeder nickt mir zu und Chaff grinst nur sein übliches Lächeln, weil er weiß, dass es mich auf die Palme bringt. Ich erwidere sein Lächeln übertrieben.

Chaff drückt Haymitch einen roten Drink in die Hand und lacht, als er meine Reaktion sieht. Ich verdrehe die Augen, etwas was ich sonst niemals machen würde, aber wir kennen uns schon lang genug und er weiß, dass ich nicht bin wie die anderen Eskorten. Er weiß, dass ich es wirklich versuche. Das Einzige was Haymitch tut, ist Chaff einen Blick zuwerfen, den ich nicht deuten kann. Chaff fängt nur noch mehr an zu lachen.

Ihre Gläser sind viel zu schnell leer und während die beiden sich den nächsten Drink holen, versuche ich mit Seeder ins Gespräch zu kommen. Sie ist die Einzige in der Gruppe, die ich noch nicht persönlich kenne. „Wieso seid ihr nicht beim Training? Nicht, dass es Pflichtprogramm wäre, aber es ist doch sicher nützlich." Wenn ich mit Menschen aus den Distrikten rede, mache ich mir nicht die Mühe den gekünstelten Akzent zu benutzen. In meiner Stimme schwelgt ein Hauch von echter Neugier mit.

Seeder beginnt zu lachen und neben einigen Falten tauchen Grübchen an ihren Mundwinkeln auf. Sie muss früher einmal eine wirklich hübsche Frau gewesen sein, bevor ihr Alter sie eingeholt hat. „Wir machen uns nicht viel daraus", gibt sie ohne Spott in der Stimme zu. „Bei all den jungen Siegern würde es an ein Wunder grenzen, wenn einer von uns lebend da rauskommt. Wir wissen, dass dies unsere letzten Stunden sein werden und versuchen sie, nach Möglichkeit zu genießen."

Auf einmal tut sie mir leid. Wie schrecklich es sein muss, zu wissen, dass man nicht mehr viele Tage zu leben hat. Ich glaube kaum, dass ich mit diesem Druck klarkommen würde. Und jetzt, da sie so ehrlich geantwortet hat, weiß ich nicht, was ich darauf erwidern soll. Darauf hat mich das Kapitol all die Jahre nicht vorbereitet. Auch nicht auf all die Toten.

Also wechsele ich das Thema. „Was ist mit den Familien von Thresh und der kleinen Rue geschehen?" Dunkel erinnere ich mich, was die Worte von Peeta und Katniss auf der Tour möglicherweise angerichtet haben könnten.

„Sie leben", sagt Seeder und lächelt, aber ich höre das Erstaunen in ihrer Stimme, dass ich -eine Frau aus dem Kapitol, die Kinder für die Hungerspiele auslost- Interesse an den Familien der Betroffenen zeige. Und das scheint sie wirklich positiv für mich einzunehmen, das erkenne ich daran, wie sie aufhört mich anzusehen, als wäre ich von einem anderen Stern.

Unsicher lächele ich zurück. In diesem Augenblick kommen Haymitch und Chaff zurück. Sie sind in ausgelassener Stimmung und scherzen miteinander, so wie sie es immer tun. Aber als Haymitch mein Lächeln sieht, sieht er aus, als würde er aus allen Wolken fallen. „Haben wir was verpasst?", fragt er.

Ich schüttele nur den Kopf, nicht imstande etwas zu erwidern. Dafür hat Seeder jedoch eine Antwort parat. Wahrscheinlich ist sie von Natur aus ein offener Mensch. „Ich habe mich nur gerade davon überzeugt, dass sie keine von den anderen Kapitolschlampen ist", meint sie unverblümt. „Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, Haymitch. Unsere Eskorte hat uns mit Freudentränen begrüßt und meinte, wie toll die Idee des diesjährigen Jubiläums doch wäre." Sie deutet auf mich. „Die scheint keine von denen zu sein."

Ich spüre, wie meine Wangen an Farbe gewinnen und ich schenke Seeder ein dankbares Lächeln, bevor ich meinen Blick verlegen zu Boden senke. Trotzdem spüre ich Haymitchs Augen auf mir. Es muss ihn überraschen, seine Freundin so über mich reden zu hören.

„Lass die arme Flora aus dem Spiel", wirft Chaff scherzend ein. „Sie hat das ganze Jahr nichts anderes zu tun, als auf die Spiele zu warten. Ich bin mir sicher, Trinket hat noch andere Hobbys." Dabei zwinkert er mir zu. „Möchtest du uns nicht daran teilhaben lassen?"

Ohne Haymitch anzuschauen, hebe ich meinen Kopf und mustere Chaff. Er spielt ein Spiel, das sehe ich, aber das tut er schon seit Jahren. Immer wenn er mich sieht, hat er irgendetwas Unangemessenes auf der Zunge. Wahrscheinlich ist er sich nicht bewusst, dass ich dieses Spiel auch spielen kann. „Dies und jenes, aber du weißt ja, ich bin eine sehr beschäftigte Frau", erwidere ich und schenke ihm ein süßes Lächeln. „Allerdings liegt mein wirkliches Interesse in der Architektur."

Chaff lacht und wackelt mit dem Kopf hin und her. Haymitch ist still, wie ich ihn selten erlebt habe. „Ich wusste doch schon immer, dass mehr dahintersteckt." Seine Finger fuchteln vor meinem Gesicht herum. Er ist definitiv betrunken. „Komisches Interesse für eine Eskorte, findest du nicht auch?" Er redet mit niemand bestimmten. Für einen Augenblick denke ich, er will mich zum Narren halten, wie er es immer tut. Er wechselt einen Blick mit Haymitch.

„Mein Vater ist Architekt. Er ist ein sehr bekannter Mann", bemerke ich schärfer als gedacht. „Er hat den neuen Teil des Präsidentenpalastes geplant", füge ich hinzu und weiß selbst nicht, wieso ich dieses Thema überhaupt ans Tageslicht gebracht habe. Schweigen.

„Ich habe gehört, dass man für so einen Job sehr intelligent sein muss", sagt Seeder plötzlich, als hätte sie etwas realisiert.

Darauf muss ich laut loslachen. Ich versuche, meine Mutter aus meinen Gedanken fernzuhalten und ihren Kommentar, den sie wieder für mein Verhalten auf den Lippen hätte. Aber ich kann mich nicht zurückhalten, jetzt nachdem ich Seeders Kommentar verstanden habe. „Rationales Denken ist sicher nicht verkehrt", rede ich drauf los und versuche, so amüsiert wie möglich zu klingen. Denn in Wahrheit will ich Haymitch etwas beweisen. „Wenn man sich beim Bau eines Gebäudes um einen Grad beim Winkel des Daches verrechnet, kann es tatsächlich passieren, dass es in sich zusammenfällt, noch bevor die komplette Fassade angebracht worden ist!"

Haymitchs Verhalten ist wirklich ungewöhnlich, sein Gesichtsausdruck nimmt langsam einen negativen Ausdruck an und er tauscht einen Blick mit Chaff, der plötzlich etwas zu ruhig ist. Eine Weile spreche ich noch mit Chaff und Seeder, wir reden über dies und jenes. Belanglosigkeiten, nichts Ernstes. Ich merke, wie Chaff erfolglos versucht, seinen Freund in die Unterhaltung miteinzubeziehen. Obwohl Haymitch nur einen Meter von mir entfernt steht, wirkt es, als wäre er unglaublich weit weg. Unauffällig, wenn er denkt ich würde es nicht mitkriegen, betrachtete er mich von der Seite. Ich glaube, ihm will einfach nicht in den Kopf gehen, dass ich mehr bin als künstliche Visage und komisches Benehmen. Schon komisch, wenn man bedenkt, dass er die Wahrheit hinter meiner Fassade besser kennt als die meisten Menschen. Als hätte er diese Erinnerungen aus seinem Gedächtnis gelöscht.

Dann nehmen mir zwei Hände plötzlich die Sicht und ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Mein Herz macht einen Satz und ich zucke erschrocken zusammen. „Euphemia Trinket", scherzt Octavius und äfft definitiv die Stimme meiner Mutter nach. Falls er den erschrockenen Ausdruck gesehen hat, der für den Hauch einer Sekunde über mein Gesicht gehuscht ist, dann lässt er es sich nicht anmerken. Doch wahrscheinlich hat er es sowieso nicht.

„Octavius", trällert meine Stimme, die irgendwie völlig verkehrt klingt. „Wie tust du dich?" Wir sind zusammen aufs College gegangen und haben damals viel Zeit miteinander verbracht. In dunklen Stunden hatte er immer ein freundliches Wort für mich übrig. Aber wir waren Kinder. Teenager. Wir sind beide unsere eigenen Wege gegangen und ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich meinen schon gefunden habe. Das Kapitol macht es so schwierig. Ich versuche immer noch Wahrheit und Lügen auseinander zu halten. Ich denke nicht, dass das Kapitol schlecht ist. Es gibt nur Menschen, die es schlecht aussehen lassen.

„Du glaubst es nicht, ich bin den ersten Tag hier, möchte mich mit der Mentorin vertraut machen, aber sie hat ja nichts Besseres zu tun, als sich sofort an die Bar zu setzen und sich in Koma zu saufen!" Er klingt so aufgebracht, dass ich automatisch einen Schritt auf ihn zugehe, um ihn zu beruhigen. Noch bevor ich etwas erwidern kann, geht das Donnerwetter weiter. „Diese Manieren sind furchtbar, ich- wie hast du das all die Jahre ausgehalten? Ein Freund hat mir erzählt, dass sie dich nach Fünf versetzen wollten, doch du hast abgelehnt? Wird es nicht Zeit für einen Neuanfang? Schließlich hast du jetzt deine Sieger. Und das auch noch zwei an der Zahl!" Wie schnell er das Thema wechseln kann.

Von fern höre ich mich lachen. Es klingt verzerrt und unnatürlich. „Ich würde mich niemals von Zwölf trennen können, Octavius! Äußere Distrikte sind gerade total angesagt! Da überlasse ich meinen Job doch nicht einer süßen Neuen, die es nicht halb so gut machen würde wie ich", antworte ich und halte mir den Bauch, als wäre es völlig absurd, was er gerade gesagt hat.

„Aber Effie, du könntest jeden Distrikt kriegen, du müsstest nur Plutarch fragen. Du bist das Gesicht in Panem, sie würden dir jeden Distrikt geben, du könntest sie alle haben", sagt er und seufzt träumerisch. Er hat wirklich viel Fantasie, denn wäre ich das Gesicht im Kapitol, wäre mein letztes Fotoshooting nicht schon über zwei Monate her. Schau dir deine Schwester an, Euphemia. Sie schafft es auch immer wieder.

Hilfesuchend schaue ich zu Haymitch und gebe ihm zu verstehen, dass er endlich aus seiner Starre erwachen soll. Ob ihn Octavius' Kommentar über seine alkoholabhängige Mentorin verletzt hat? Er bewegt sich keinen Zentimeter. Zu viele Infos über mich an einem Tag. Ich muss das schleunigst unterbinden. Also schenke ich Octavius mein bestes Lächeln und sage: „Ach, Octavius, du schmeichelst mir ja! Aber das hast du ja immer schon getan. Lass uns doch über dich reden. Schließlich hatten wir gestern kaum Zeit dafür und wir haben uns ja so lange nicht mehr gesehen!"

Es scheint wirklich, als würde er anbeißen, denn er lächelt. Doch dann macht er seinen Mund auf und plappert wieder darauf los was das Zeug hält. „Nach dem Studium habe ich versucht bei der Firma deines Vaters angenommen zu werden, aber sie warten anscheinend immer noch auf dich. Na klar, das Glück war nie mit mir!" Er lacht und drückt freundschaftlich meine Schulter und da weiß ich, was jetzt kommt. „Erinnerst du dich, als ich dir fünfzig Dollar gegeben habe, damit ich die Prüfung bei dir abschreiben durfte? Du warst schon immer hart im Nehmen."

Automatisch muss ich lachen und diesmal ist es echt. Eine Erinnerung blitzt vor meinem geistigen Auge auf. Ein kleiner Teil meiner Kindheit, der mir wirklich Spaß bereitet hat, auch wenn ich damit meine Eltern unheimlich verärgert habe. Während meine Schwester immer ihr Musterkind war, habe ich Dinge getan, die meine Mutter mir noch bis heute hinterherwirft.

„Ja", sage ich, immer noch grinsend. „Du hast mir beinahe meine Karriere versaut, du Idiot! Nachdem sie uns erwischt hatte, haben sie meine Mutter informiert und ich wäre beinahe aus dem Kurs geflogen, weil ich dich verteidigt habe! Seit dem Tag hat die Lehrerin mir nie mehr die Beachtung geschenkt, die sie mir vorher entgegengebracht hat." Ich schaue etwas beleidigt drein.

Octavius lacht, ich lache und für einen Moment ist die Welt um uns herum vergessen. Dann erinnere ich mich dunkel daran, dass Haymitch uns die ganze Zeit bei diesem Theater zusieht. Augenblicklich falle ich in meine Starre zurück, bevor ich mich entschuldige, um mich wieder meinen Begleitern zuzuwenden. Ich beiße mir auf die Lippen, weil ich automatisch in unseren alten Slang gewechselt bin. Kraftausdrücke benutze ich vor Haymitch eigentlich nie. Schlechte Manieren.

„Und ich dachte ihr Kapitolkinder wärt brav wie Schäfchen", entfährt es Chaff und er grinst wie ein Honigkuchenpferd. „Sie hat es faustdick hinter den Ohren, Haymitch, behalt' sie im Auge." Dann zwinkert er uns nochmal zu und verschwindet mit Seeder im Schlepptau.

Die unschöne Stille kehrt zurück. „Tut mir leid", sage ich aufrichtig. „Ich wollte mich nicht so gehen lassen."

„Wofür entschuldigst du dich? Du lebst einfach dein Leben. Der Einzige, der sich entschuldigen muss, bin ich", bemerkt Haymitch mit resignierter, fast betroffener Stimme. Seine Worte überraschen mich so sehr, dass ich erstaunt aufschaue. „Ich habe schon viel zu lange versucht, mir einzureden, dass du einfach nur eine weitere verdammte Marionette des Kapitols bist. Tja ... aber das bist du nicht. Du hast überhaupt wenig mit diesen anderen Leuten gemein."

Ich spüre ein warmes Gefühl in meiner Magengrube aufsteigen und muss im selben Moment an eine vergangene Zeit denken. Es ist nicht das erste Mal, dass Haymitch solche Worte an mich richtet, nur dass das letzte Mal etwa zehn Jahre her ist. Wahrscheinlich weiß er nicht, dass diese Worte für mich weitaus mehr bedeuten als für ihn. Aus seinem Mund sind sie ein großes Kompliment und die Freundlichsten seit einer langen Weile. Unfähig etwas hervorzubringen, schenke ich ihm ein Lächeln und frage mich gleich wieder, was sich seit den letzten Spielen zwischen uns verändert hat. Ein wenig habe ich das Gefühl, dass wir in alte Muster zurückfallen. Es ist nicht die erste Parallele zu unseren ersten gemeinsamen Spielen, die ich bemerke. Wenn ich unseren persönlichen Ausgang der 64. Hungerspiele bedenke, bin ich mir nicht sicher, ob ich es gutheißen soll.

Euphemia?" Zwar höre ich die Skepsis in Haymitchs Stimme, doch er findet den Namen anscheinend amüsant.

Ich presse meine Lippen aufeinander, um den Wortstrom zurückzuhalten, mit dem ich ihn sonst bombardiert hätte. „Nur meine Mutter nennt mich so." Gemeinsam gehen wir zur Bar und bestellen uns einen Drink. Ich habe keine Probleme mehr damit, wenn ich ab und zu etwas mit ihm trinke. Haymitch versucht wirklich, es nicht zu übertreiben.

Nach langer Stille und vielen Seitenblicken spricht er endlich aus, was ihm die ganze Zeit auf der Zunge liegt. „Architektur? Wir kennen uns schon so lange und trotzdem wusste ich nichts davon." Wieder ist da dieser verbitterte, unzufriedene Ton in seiner Stimme, den ich nicht deuten kann.

Vielleicht, weil du nie gefragt hast. Vielleicht, weil es dich nie tatsächlich interessiert hat, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. „Enttäuscht?", frage ich stattdessen und drehe das Glas in meiner Hand hin und her.

„Nicht wirklich, ich habe es satt, dass alle in meiner Umgebung so versessen auf Klamotten sind."

„Ich bin versessen auf Klamotten." Jetzt bietet Haymitch mir doch ein dünnes Grinsen an. Das ist so untypisch für ihn.

„Es scheint, als würde es dir Spaß machen", sagt er und als er mein Nicken wahrnimmt, fährt er fort. „Wieso machst du es dann nicht hauptberuflich?"

„Weil, man mit Gebäuden kaum etwas verändern kann", kommt es aus meinem Mund, noch bevor ich es verhindern kann. Schnell rudere ich zurück. „Ich meine ja nur, wie viele Gebäude gibt es schon, die Geschichte geschrieben haben? Durch die Spiele-" Der Rest des Satzes bleibt mir im Hals stecken. Durch die Spiele kann man die Geschichte verändern, wollte ich eigentlich sagen, aber Haymitch schaut mich mit einem so vernichtenden Blick an, dass ich sofort weiß, dass ich mich verplappert habe. Als er seine Augen zu Schlitzen verengt, wird mir plötzlich ganz heiß. Auch wenn ich etwas völlig anderes gemeint habe.

„Ich glaube", sagt er gedehnt. „Wir sollten diese Unterhaltung nicht hier fortsetzten."

Ich schlucke, hebe meinen Kopf und gebe ihm einen ruhigen und kühlen Blick, um ihm dann zu folgen. Natürlich bin ich mir im Klaren darüber, dass ich so etwas nicht hätte sagen sollen, aber es ist jetzt sowieso zu spät dafür. Leicht taumelnd trete ich hinter ihm in den Aufzug und als sich die Tür schließt, starrt er mich an wie ein Falke.


Ich hoffe euch gefällt das Kapitel und ihr könnt alles nachvollziehen. Wie immer würde ich mich sehr über Rückmeldungen freuen!
Liebe Grüße,
Skyllen :D

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