26. Once Upon A Time
Once Upon A Time
Handelt es sich bei dieser Person wirklich um Johanna? Meine Ohren können mir genauso gut einen Streich spielen und doch sagt mir etwas in meinem Bauch, dass dem nicht so ist. Für eine Weile kauere ich wie erstarrt auf dem Bett und presse meinen Rücken gegen die kalte Wand der Zelle. Ich warte bis die Friedenswächter den Trakt verlassen. Oder zumindest warte ich, bis ich weder ihre Stimmen noch ihre Schritte vernehmen kann.
Mit geschlossenen Augen lausche ich der Stille und versuche, jedes kleinste Geräusch aufzunehmen, nur um wirklich sicherzugehen, dass ich richtig liege. Die Wände zwischen den Zellen sind zu dick, um dadurch etwas hören zu können. Desto mehr ich mich anstrenge zu lauschen, desto lauter wird das Rauschen in meinen Ohren. Dabei umgibt mich nichts als endlose Stille.
Es kostet mich mehrere Anläufe, bis ich tatsächlich ihren Namen rufe. Sie haben hier unten mein Selbstbewusstsein zerstört und somit traue ich mich nicht mehr, meine Stimme einfach zu erheben. Früher hätte ich nicht gezögert, nach jemandem zu rufen. Doch diese Situation hier ist anders.
Ich bekomme keine Antwort. Ich weiß nicht, ob sie es einfach nicht gehört hat oder es absichtlich ignoriert. Vielleicht handelt es sich doch nicht um Johanna und die Person hinter der Wand weiß nicht, dass ich nach ihr gerufen habe. Diesmal kostet es mich weniger Überwindung, meinen Mund aufzumachen und ihren Namen zu rufen. Diesmal achte ich darauf, lauter zu sein.
Wieder folgt nur Stille. Langsam fange ich an zu glauben, dass es sich nicht um Johanna Mason handelt, als mir doch jemand antwortet. „Wer ist da?", fragt eine schroffe Stimme. So unfreundlich sie auch versucht zu klingen, die tiefe Erschöpfung kann sie nicht verbergen. Und ich habe recht. Es handelt sich wirklich um Johanna Mason. Ich weiß nicht, was ich von dieser Tatsache halten soll. Schließlich bedeutet es nichts anderes, als dass noch eine andere mir bekannte Seele hier unten leiden muss.
Dabei macht es perfekten Sinn. Johanna Mason ist selbst Siegerin und steht Haymitch näher als viele andere. Sie muss davon gewusst haben, wahrscheinlich ist sie sogar mit dem Wissen über die Rebellion in die Arena gegangen. Bei dem Gedanken schnürt sich mein Hals zu. Ich reiße die Augen auf und seufze verdutzt. Eigentlich müsste Johanna mich doch erkennen, mich und meine nervige Stimme.
„Da bin ich ja jetzt wirklich enttäuscht, dass du mich nicht erkennst", sage ich und versuche zu lächeln. Wann war das letzte Mal, dass ich mit einer Person gescherzt oder es zumindest versucht habe? „Ich bin's, Effie Trinket."
Wieder folgt Stille und ich frage mich, ob sie mich gerade dafür verflucht, in der Zelle neben ihr gelandet zu sein. In ihrem Kopf bin ich noch die Effie Trinket, die ich war, als sie uns für die Arena verlassen hat. Doch diese Person bin ich schon lange nicht mehr.
„Verdammt", antwortet Johanna nach einer Weile. „Sag mir, dass das hier nur ein verdammter Traum ist." Ihre Stimme klingt tonlos, als wäre sie wirklich überrascht über diese Wendung der Dinge. Ich öffne meinen Mund, um etwas zu erwidern, als sie plötzlich zu schluchzen beginnt. Es ist nur ein kurzer Schluchzer und doch höre ich es. Und dann packt mich die Angst. Wenn Johanna Mason in meiner Anwesenheit anfängt zu weinen, dann geht gerade etwas gewaltig schief.
Ich weiß nicht, was ich antworten oder ob ich überhaupt etwas sagen soll. Johanna und ich haben uns gefunden, hier unten in diesem Loch des Todes. Wie stehen die Wahrscheinlichkeiten, dass wir beide hier wieder lebend herauskommen? Jetzt da ich weiß, dass sie die ganze Zeit mit mir hier war, werde ich nicht einfach ohne sie gehen können. Wenn sie hier unten sterben sollte, dann wird auch ein Teil von mir sterben, weil ich weiß, dass sie mindestens genauso schlimme Qualen durchlebt hat wie ich.
Meine Stimme zittert, als ich die Frage, die mir durch den Kopf geistert, in Worte fasse. „Wie lange bist du schon hier?"
„Seit dem Ende der Spiele", antwortet sie in abwesenden Ton, als würde sie sich zurückerinnern. „Sie haben uns geschnappt als die Rebellen uns aus der Arena befreien wollten."
Ich bekomme es nicht das erste Mal zu hören, dass die Rebellen einige Tribute mitunter Katniss aus der Arena befreit haben. Es jedoch aus ihrem Mund zu hören, scheint das alles nochmal realer zu machen. Anscheinend haben die Rebellen es nicht geschafft, jeden zu befreien. „Ich auch, ungefähr. Sie haben mich einige Stunden später im Penthouse festgenommen."
„Ich kann es nicht glauben, dass du wirklich hier bist", platzt es nach mehreren Minuten Schweigen aus Johanna heraus. „Ich kapiere einfach nicht, dass das Kapitolpüppchen all das hier überlebt hat." Sie klingt ehrlich überrascht, aber es schwingt noch ein dunklerer Ton in ihren Worten mit.
Ein verzerrtes Lachen entspringt meiner Kehle und ich starre an die Decke. Am liebsten hätte ich geantwortet, dass ich stärker bin als ich aussehe. Doch es will mir nicht über die Lippen kommen. Stattdessen spüre ich heiße Tränen meine Wangen herunterkullern. Beschämt schließe ich die Augen und wünsche mir die Zeiten zurück, wo ich mich noch darüber aufregte, wenn Johanna mir Kosenamen wie Kapitolpüppchen an den Kopf geworfen hat.
„Das ist alles falsch", murmelt Johanna so laut, dass ich sie gerade noch so verstehen kann. Ich habe das Gefühl, dass es ihr gerade genauso geht wie mir. „So hätte das alles nicht ablaufen sollen."
Ihre Worte lassen mich aufhorchen. Stockend richte ich mich in meinem Bett auf. Mit geweiteten Augen starre ich durch die Dunkelheit. „Was sagst du da?", frage ich beinahe aufgeregt. „Was meinst du damit?"
Doch Johanna gibt mir darauf keine Antwort. Stattdessen wechselt sie das Thema. „Annie Cresta ist ebenfalls hier, wusstest du das?"
Annie Cresta? Ich spüre einen Stich in meinem Herzen. Sie ist die Frau, die Finnick mehr als alles andere auf der Welt liebt. Sie ist das Mädchen, welches durch ihre eigenen Hungerspiele so ein schlimmes Trauma davongetragen hat, dass sie vor allem zurückschreckt, was sie auch nur im Entferntesten an die Arena erinnert. Sie würde hier unten keinen Tag überleben, geht es mir durch den Kopf. „Nein, das wusste ich nicht", antworte ich so ruhig wie möglich. Ich will nicht, dass sie mir meine Panik anmerkt. „Ist sie auch in einer dieser Zellen hier?"
„Nein", sagt Johanna und ich kann beinahe sehen, wie sie theatralisch den Kopf schüttelt. „Ich habe sie nur ganz am Anfang gesehen, als sie uns alle hergebracht haben. Seitdem kein Lebenszeichen mehr." Sie glaubt wahrscheinlich auch nicht daran. „Peeta ist auch hier." Sie lässt die Bombe zünden, als würde es sich in ihren Augen gar nicht um eine handeln.
In weniger als einer Sekunde bin ich auf den Beinen. Ich wusste gar nicht, dass ich überhaupt noch über solche Reflexe verfüge. „Peeta?" Mir stockt der Atem und ich spüre die Welle der Panik, die sich ihren Weg durch meine Glieder bahnen will. Ich versuche ruhig zu bleiben, versuche die Angst in meiner Brust zurückzuhalten.
„Er war für einige Zeit in deiner Zelle, paradox, nicht wahr? Im Vergleich zu mir haben sie ihn aber noch mal schlimmer rangenommen. Wegen Katniss. Irgendwann wurde es so schlimm, dass sie ihn verlegen mussten. Sie haben ihn irgendwann einfach aus seiner Zelle geholt und weggebracht wie sonst auch, aber er ist nicht wiedergekommen."
Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht laut zu schluchzen. Mein armer armer Peeta. Peeta, der ein so gutmütiges Herz hat, der niemals einer Fliege was zu Leide tun würde. Peeta, der in die Arena geschickt wurde, um Leute zu ermorden, es nicht übers Herz brachte und trotzdem überlebte. Wegen Katniss.
„Er ist hier wegen Katniss", murmele ich und lasse meine Fingerknöchel knacken. „So wie ich für ihn hier bin."
„Du hast es erfasst", gibt sie so hart wie möglich zurück. „Aber sorg dich nicht um Peeta. Sorg dich lieber um dich selbst. Du brauchst deine Energie."
„Was meintest du eben damit, als du sagtest, dass es so nicht hätte ablaufen sollen?" Meine Stimme klingt wie ein Haufen Glasscherben, auf denen jemand rumtrampelt. Ich schlucke im Versuch, meine Kehle anzufeuchten, aber sie scheint nur noch trockener zu werden.
Johanna antwortet nicht auf meine Frage. Sie sagt gar nichts mehr. Stattdessen lausche ich der Stille in der Hoffnung, irgendetwas zu hören. Das Rauschen in meinen Ohren ist das Einzige was ich wahrnehme, bis ich irgendwann einschlafe.
oOo
Mein gesamter Körper zuckt zusammen und reißt mich aus meinem Schlaf. Es ist das metallische Quietschen einer Zellentür. Als ich feststelle, dass es sich nicht um meine handelt, sinke ich erleichtert auf dem Bett zusammen. Nur bis mir klar wird, dass es sich um Johannas handeln muss. Ich kann ihr Stöhnen hören, die schweren Schritte der Friedenswächter und dann ihre Schreie. Meine Nackenhaare stellen sich auf und ich versuche, mich mit etwas anderem zu beschäftigen.
Die Folter zieht sich über lange Zeit hin. Sie gehen und kommen in unregelmäßigen Abständen. Johanna sagt, dass es sich um Tage handelt. Irgendwann gewöhne ich mich daran, durchzuschlafen, während sie nur einen Raum weiter Höllenqualen erleidet. Langsam wird es zur schrecklichen Gewohnheit. Doch ich kann mich nie vollständig von der Realität lösen. Ihre Schreie begleiten mich in meine Träume. Ich habe nie gesehen, was genau sie mit ihr anstellen, doch mein Kopf lässt seiner Fantasie jede Nacht freien Lauf. Manchmal höre ich das Fließen von Wasser, obwohl kein Friedenswächter da ist, um es ihr über den Kopf zu schütten. Jede Beschäftigung in dieser Zelle bietet eine andere Art der Qual, dabei geht es mir körperlich gut.
Mich lassen die Friedenswächter in Ruhe. Niemand kommt, um mir wehzutun. Sie bringen mir einmal Mal am Tag etwas zu Essen. Mehr nicht. Ich kann es mir nicht zusammenreimen, warum sie mir nichts tun und mich einfach in Ruhe lassen. Johanna vermutet, dass sie versuchen, mich durch das Miterleben ihrer Folter zu brechen. Oder ein kleines bisschen mehr zu brechen, denn zerbrochen bin ich schon längst.
Ich habe mich also bereits an diesen Zustand gewöhnt, als die Friedenswächter eines Tages doch meine Tür öffnen. Ich starre sie einfach nur an, unfähig zu wissen, wie ich mich jetzt eigentlich fühlen sollte. Ich habe keine Angst, als sie mich packen und aus dem Raum schieben. Zu meiner Überraschung steht auch Johanna vor ihrer Zellentür. Wir stehen beide auf dem gelb-beleuchteten Gang des Traktes und starren uns an.
Die Frau vor mir sieht Johanna kein bisschen ähnlich. Sie ist abgemagert, ihre Schulterblätter stechen deutlich hervor und ich habe die Angst, dass sie sich in jedem Augenblick durch ihre dünne Haut bohren. Die braune Haarpracht ist verschwunden, stattdessen ist ihr Kopf kahlrasiert worden. Sie trägt hellgraue Kleidung, die schlaff an ihrem Körper herunterhängt. Sie sieht aus wie ein Geist und ihre Körperhaltung strahlt genau das aus, als wäre ihre Seele schon längst tot und nur ihr Körper übriggeblieben. Überall wo die Kleidung ihre Haut freigibt, sind Blutergüsse zu sehen. Lila, gelb, blau. Alles an Johanna scheint tot zu sein. Allein ihre braunen Augen schauen mich mit so einer Intensität an, dass ich dem Friedenswächter hinter mir beinahe auf den Fuß trete.
Johanna mustert mich von oben bis unten und für einen Augenblick habe ich das Gefühl, super auszusehen. Ich schäme mich für den Gedanken und noch mehr schäme ich mich dafür, so viel besser auszusehen als sie. Hätten sie mich nicht verschont, würde ich wohl genauso aussehen. Ich öffne den Mund und lasse die Luft in meine Lungen strömen. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich die Luft überhaupt angehalten habe. Zu meiner Überraschung verzieht sich Johannas Mund zu ihrem typischen Lächeln. Ihre weißen Zähne blitzen mir entgegen und für einen Augenblick erscheint sie mir genauso arrogant wie früher. Nur die sture Mentalität, die ihre Augen immer ausgestrahlt haben, ist verschwunden. Über ihrem Blick scheint ein trüber Schleier zu liegen, der sie älter aussehen lässt als sie tatsächlich ist.
„Du siehst richtig scheiße aus", kommt es heiser aus Johannas Mund. Sie hustet, doch das Grinsen verschwindet nicht von ihren blutigen Lippen.
Ihre Worte entlocken mir ein Lächeln. Diese Worte sind so typisch für Johanna. Wie oft hat sie diesen Satz schon zu mir gesagt? Seitdem ich ihr vor Jahren das erste Mal begegnet bin, sicherlich schon dutzende Male. „Du auch", erwidere ich tonlos und doch lächelnd. Früher hätte ich so etwas niemals gesagt. Früher – und damit meine ich, bevor all das hier passiert ist – wäre ich empört gewesen. Die alte Effie wäre empört gewesen und wäre wahrscheinlich beleidigt zu Haymitch gelaufen, um ihm einen Vortrag darüber zu halten, welche schlechten Manieren Johanna Mason besaß.
Die Friedenswächter führen uns durch den Gang. Sie bringen uns in eine andere, aber von Größe und Aussehen identische Zelle. Der einzige Unterschied ist, dass in dieser hier zwei Betten stehen. Erstaunt reiße ich den Kopf herum, um die beiden Friedenswächter anzuschauen. Doch sie haben mir bereits die Tür ins Gesicht geknallt.
Johanna hat sich auf das linke Bett gesetzt, die Beine schützend vor den Körper gezogen, und lehnt mit dem Kopf auf ihrem Knie. Ihre Augen folgen mir schweigend, als ich mich auf das andere Bett setze und ihr zuwende. Für eine Weile starren wir uns einfach nur an, ohne etwas zu sagen. Irgendwann fange ich an zu erzählen. Ich erzähle ihr meine Geschichte, wie ich in all das hier hineingeraten bin. Johanna unterbricht mich nicht, nicht so wie sie es früher immer getan hat. Ihr Blick ruht weiter auf mir, als ich meine Lippen aufeinanderpresse, nachdem ich geendet habe.
„So war das alles nicht geplant", sagt sie dann wieder. „Ich verstehe nicht, warum du hier bist."
Johanna hat kein Interesse, über sich zu erzählen oder darüber, was ihr passiert ist. Ich akzeptiere ihre Entscheidung. Und doch stelle ich meine eigenen Vermutungen auf. Ich habe in den letzten Tagen vieles mitbekommen, auch wenn ich mir alle Mühe gegeben habe, es zu ignorieren. Johanna redet insgesamt nicht viel, dafür hört sie umso besser zu. Meistens sitzen wir einfach nur da, die einfache Anwesenheit des anderen reicht aus, damit wir uns besser fühlen. Doch ab und zu erzähle ich ihr Dinge aus meinem alten Leben. Es hilft ihr. Meine Geschichten scheinen sie abzulenken. Desto länger wir zusammen sind, desto öfter beginnt sie, Fragen über mich zu stellen. Über das Kapitol, die Hungerspiele, meine Familie. Zu meiner Überraschung helfen mir die Geschichten ebenfalls. Sie lassen mich in mein altes Leben abtauchen. Eine Welt der Lügen, der gespielten Höflichkeit und Freude. Doch es war auch eine Welt ohne Qual. Eine Welt ohne Schmerz.
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Hi,
ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen! Warum scheint Johanna so überrascht zu sein, dass Effie im Gefängnis sitzt? Bin wie immer gespannt über eure Meinungen!
Liebe Grüße
Skyllen :)
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