2. On The Surface

On the Surface

„Na, was treibt dich denn hierher, Süße?"

Ich bin so in Gedanken vertieft, dass ich seine Anwesenheit gar nicht mitbekommen habe. Erschrocken fahre ich herum. Wie lange steht er schon im Türrahmen? Haymitch steht einfach da, mit dem Anflug eines Grinsens auf den Lippen und einer Weinflasche in der Hand. Sein blondes Haar fällt ihm leicht über die Stirn. Er macht sich nicht mal die Mühe es wegzustreichen.

Plötzlich kommt mir mein Nachthemd viel zu freizügig vor. Wie dankbar ich bin, mein Make-Up nicht abgenommen zu haben! Ohne ihm eine Antwort zu geben, stehe ich auf und will an ihm vorbei schlüpfen, als er anfängt mich zu mustern. „Du bist ja niedlich klein", bemerkt er und lacht vergnügt. „Wie ist denn die Luft da unten?"

Wütend funkele ich ihn an, doch ihn scheint das nicht zu stören. Ich flüchte schlagartig aus dem Abteil, rufe ihm jedoch über meine Schulter hin zu: „Kümmer du dich lieber mal darum, dass du bis zum Morgengrauen nicht vollkommen dicht bist!"

Ich weiß, dass er es gehört hat, aber er reagiert nicht. Er ist nicht sehr lange nüchtern gewesen, aber jeder hätte sich denken können, dass das passieren würde. Allerdings war mein Verhalten gerade nicht wirklich angemessen. Sobald ich mein Zimmer erreicht habe, verriegele ich die Tür hinter mir. Schweigend mache ich mich daran, meine Perücke abzunehmen. Sie ist mit vielen kleinen Nadeln in meinem Haar befestigt. Es dauert also eine Weile, bis ich sie vollständig entfernt habe. Ich löse den Zopf meiner echten Haare und kaum einen Augenblick später fallen sie mir in weichen, blonden Locken über die Schulter bis auf die Brust. Dann kümmere ich mich um mein Gesicht. Zum Glück ist es wesentlich einfacher die Unmengen an Make-Up zu entfernen.

Aus dem Spiegel heraus betrachtet mich eine fremde Frau. Ohne die viele Schminke, das falsche, aufgesetzte Lächeln und die künstlichen Haare wirke ich wie ein völlig anderer Mensch. Genauso fühle ich mich auch. Nicht an meinem schlimmsten Tag kann ich es mir vorstellen, so einen Fuß auf die Straße zu setzen. Jetzt erst kann ich die unterschiedlichen Emotionen sehen, die sich in meinen Augen spiegeln, weil sie vorher von all dem Make-Up verdrängt wurden. Meine Gefühle sind wie ein Geheimnis, das ich durch das Make-Up schütze. Schließlich bin ich die Einzige, die mich je so sieht.

Müde lösche ich das Licht und versuche im Dunkeln ins Bett zu krabbeln. Gar nicht so einfach. Zum Glück spendet der Mond etwas Licht, sodass ich es dann doch ins Bett schaffe und dankbar die Augen schließe.

oOo

Heute steht die Eröffnungsfeier vor der Tür. Besonders für die Kapitoler ein besonderer Augenblick, ihre Lieblinge aus vielen Jahren wiederzusehen. Ich habe mich mit gemischten Gefühlen in den Tag gestürzt und sitze nun fertig angezogen am Tisch im Trainingscenter. Katniss und Peeta sind bereits bei unserer Ankunft in die Hände ihrer Vorbereitungsteams gegeben worden. Haymitch hat sich nicht blicken lassen. Wahrscheinlich schläft er gerade seinen Kater aus.

Ich erinnere mich an unsere seltsame Begegnung letzte Nacht im Zug und beuge mich seufzend und kopfschüttelnd über meinen Ordner. Dort habe ich alle wichtigen Sponsoren aufgelistet, die Haymitch und ich in den Tagen der Hungerspiele abklappern werden. Manche von ihnen haben uns bereits letztes Jahr unterstützt, andere sind neu. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es gleich Zeit für ein Mittagessen wäre. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Haymitch wecken oder ihn lieber in Ruhe lassen soll. Letztendlich beschließe ich, ersteres zu tun.

An der Tür von Haymitch bleibe ich stehen und klopfe. Keine Reaktion. Also klopfe ich erneut, diesmal intensiver. „Haymitch?" Da endlich höre ich ein Murren aus seinem Schlafzimmer. „Es ist bereits gegen Mittag", versuche ich ihm zu erklären. „Ich dachte mir, dass du vielleicht etwas essen möchtest?" Irgendwie kommt es mir falsch vor, hier vor seiner Tür zu stehen und ihn zum Mittagessen zu bitten.

Als er dann tatsächlich die Tür öffnet, bin ich etwas überrascht. Haymitch kann nicht viel Schlaf bekommen haben, denn seine Augenringe sind deutlich erkennbar im Kontrast zu seiner hellen Haut. Seine grauen Augen sind in einen Schleier getränkt, was mir sagt, dass der Alkohol seinen Körper noch nicht vollständig verlassen hat. Allerdings sieht er nicht wütend aus, was ich als gutes Omen deute. Für einen Moment treffen sich unsere Blicke und seine Maske beginnt zu bröckeln, denn ich sehe den Schmerz in seinen Augen.

„Alles in Ordnung?" Meine Stimme klingt zu mitleidig und an seiner Reaktion erkenne ich, dass er nicht bemitleidet werden will. Aber ich bemitleide ihn doch gar nicht. Oder doch?

„Ich komme gleich, gib mir fünf Minuten", sagt er nur und schließt die Tür vor meiner Nase. Sein Benehmen lässt wie immer zu wünschen übrig, aber ich bin schließlich nichts anders gewöhnt.

„Ein paar Manieren würden dir nicht schaden", rufe ich entrüstet gegen die Tür und kehre zurück ins Wohnzimmer.

Nach einer Viertelstunde steht er angezogen auf der Matte. Sein Haar ist zwar nicht gekämmt, aber er hat wenigstens ein neues Hemd angezogen. Schweigend lassen wir uns das Mittagessen servieren. Während ich esse, beuge ich mich über den Ordner und studiere weiter die Sponsoren. Ich brauche den Kopf nicht zu heben, um zu wissen, dass Haymitch völlig in sein Essen versunken ist.

Irgendwann, der Tisch ist schon lange abgeräumt, vergeht mir langsam die Lust und ich kann die Sponsoren einfach nicht mehr sehen. Mit einem dumpfen Knall schlage ich den Ordner zu, sodass Haymitch verwundert den Kopf von seinem Drink wendet und mich über den Tisch hinweg anschaut. Ich möchte mich nicht mit ihm unterhalten, also ignoriere ich ihn und hole meinen Notizblock hervor. Wenn ich ehrlich bin, wundert es mich, dass er überhaupt noch hier am Tisch sitzt. Dem Drink kann er sich genauso gut in seinem Zimmer widmen. Ich schlage den Block auf und betrachte die wenigen Skizzen, die die ersten Seiten zieren. Sie sind nicht wirklich schön, aber sie helfen mir, mich abzulenken. Eine Weile kritzele ich geistesabwesend auf einer neuen Seite herum.

Bis Haymitch plötzlich auflacht. Erschrocken zucke ich zurück und schaue verwundert auf. Unsere Blicke treffen sich. Seine Miene hat sich zu einem amüsierten Ausdruck aufgehellt und seine Pupillen fixieren mein Gesicht. Fragend hebe ich eine Augenbraue. Er lacht so sehr, dass er eine Minute braucht, bis er sich so weit zusammenreißen kann, um mir zu antworten. „Du kaust doch tatsächlich auf deinem Bleistift", kommt es nun von ihm. Sein Grinsen reicht von einem Ohr zum anderen.

Die Röte schießt mir schlagartig in die Wangen, was er -dank meines Make-Ups- zum Glück nicht sehen kann. Dann schaue ich auf den Bleistift herab und mir wird bewusst, dass er recht hat. Ich habe es nicht einmal bemerkt, aber es sind ganz deutliche Zahnabdrücke am Schaft zu erkennen. Wie peinlich! Meine Mutter würde sich unheimlich über mein Verhalten ärgern. Und dann hat Haymitch mich auch noch dabei erwischt. Ausgerechnet Haymitch, den ich in der Vergangenheit öfter als einmal wegen seiner Manieren angefahren habe.

Ich hebe den Kopf und versuche, unbeeindruckt zu gucken. Er muss die Scham in meinen Augen gesehen haben, denn jetzt wirkt er nicht mehr so, als würde er sich über mich lustig machen. „Keine Sorge, Süße, ich verrat's auch keinem", sagt er versöhnlich und lächelt ein schiefes Lächeln. Warum lächelt er überhaupt? Früher hat er mich die meiste Zeit ignoriert. Mit letztem Jahr hat sich das geändert. Aber dieses Jahr ist es schlimmer. Oder besser. Je nachdem wie man es betrachtet.

Ich schüttele den Kopf und gebe ein ungläubiges Schnauben von mir, bevor sich meine Lippen unwillkürlich zu einem kleinen Schmunzeln formen. Die Bewegung lässt mich innehalten und ich zwinge mich dazu, meine Gesichtszüge zur Neutralität zurückzubewegen. Haymitch und ich sollten uns nicht gegenseitig angrinsen, wir sollten unsere Arbeit machen. Dieser Moment drängt eine dunkle Erinnerung in mein Gedächtnis, doch ich gebe ihr nicht die Chance, ans Tageslicht zu kommen. Darüber hinaus hat meine Reaktion nichts mit dem einer professionellen Arbeitsweise gemein. Meine Mutter würde bei meinem Anblick wahrscheinlich verbittert den Kopf schütteln.

Ich kann nicht sagen, was Haymitch in meinem Blick sieht, als ich meine Sachen zusammensammele, mich entschuldige und dann aus dem Wohnzimmer flüchte. Allein der Ausdruck in seinen grauen Augen, der mit einem Mal nachdenklicher und ernster wirkt als zuvor, ist Indiz dafür, dass auch ihn die Situation an etwas erinnert, das lange zurückliegt.

Im Schlafzimmer angekommen, möchte ich das Notizbuch geordnet auf meinen Nachttisch legen, als mir die Zeichnung ins Auge fällt. Es fühlt sich an, als würde das Blut in meinen Adern gefrieren. Wie vom Blitz getroffen verharre ich in meiner Bewegung und starre auf das Gesicht eines Mädchens. Sie kann nicht älter als Dreizehn sein. Ihre Augen stechen mir verängstigt entgegen und ihr Haar fällt ihr in unordentlichen Locken über die Schultern.

Es braucht einen Augenblick, bis ich sie erkenne, aber als mein Gehirn realisiert, wer sie ist, entfährt mir ein erschrockener Laut. Ich lasse den Block los, als hätte ich mich verbrannt.

Es ist das zwölfjährige Mädchen, das ich vor drei Jahren als weibliches Tribut für Distrikt 12 gezogen habe.

Sie war am ersten Tag tot. Zwölf Jahre alt. Ein ganzes Leben vor sich. Unschuldig. Tot.

Und ich bin es schuld.

oOo

Die Sonne verschwindet gerade hinter den Gebäuden des Kapitols, als Haymitch aus seinem Zimmer gestapft kommt. Er trägt einen schwarzen Anzug und seine Haare sind gekämmt. Ich seufze erleichtert, wir sind schon viel zu spät dran. „Du bist zu spät", fahre ich ihn an. Meine Worte klingen schärfer als beabsichtigt. Ich balle meine Hände zu Fäusten, damit sie nicht zittern. Den Schock von eben noch nicht völlig verarbeitet.

Ich selbst trage ein knielanges Kleid, das in mehreren Rottönen gefärbt ist und an den kurzen Armen einige Rüschen aufweist. Dazu sitzt meine goldene Perücke perfekt, die ich mit goldenen Schuhen kombiniert habe.

„Ich bin dann so weit", sagt Haymitch. Die Aufforderung in seiner Stimme ist unüberhörbar. Gemeinsam gehen wir zum Aufzug. Die Stille zwischen uns ist nicht unbedingt schlecht. Durch sie habe ich genug Zeit meine Gedanken zu sortieren.

Es dauert nicht lange, bis wir das benachbarte Erneuerungsstudio erreicht haben. Trotzdem kommen wir zu spät. Peeta und Katniss haben bereits ihre Plätze eingenommen, sodass sie uns nicht mehr zu Gesicht kriegen. Die Stimmung der Kapitoler scheint ihren Tiefpunkt erreicht zu haben. Viele von ihnen schluchzen und lassen ihren Gefühlen freien Lauf. Auch im Kapitol gibt es Menschen, die es nicht befürworten, dass die Sieger nochmals in die Arena ziehen müssen.

Zwischen Haymitch und mir herrscht immer noch ein Schweigen, welches langsam unangenehm wird. Ich ergreife meine Chance eine Unterhaltung in Gang zu bringen. „Einigen Leuten aus dem Kapitol scheint es nicht zu gefallen, dass die Sieger zurück in die Arena müssen", versuche ich möglichst beiläufig zu erwähnen, aber von aus dem Augenwinkel beobachte ich seine Reaktion.

Haymitch verzieht das Gesicht, als hätte ich etwas Unüberlegtes gesagt. „Sobald der Gong ertönt und die Spiele beginnen, haben sie das sowieso alle wieder vergessen", gibt er angewidert zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Es ist kein Geheimnis, was Haymitch vom Kapitol und seinen Bewohnern hält. Ich aber nicht, hätte ich am liebsten erwidert, bleibe jedoch still.

In diesem Augenblick fährt nämlich der Wagen von Distrikt 12 vor. Katniss trägt dieselbe Frisur, die sie letztes Jahr an der Ernte getragen hat. Doch diesmal ist ihr Gesicht vollkommen von Make-Up überzogen. Das Highlight allerdings ist ihr rabenschwarzes Kleid, das in Flammen zu stehen scheint. Peeta hat einen Anzug an, ist jedoch vom Stil auf sie abgestimmt. Sie schauen ernst aus und drehen sich nicht zu den Menschenmengen.

„Sie sehen fantastisch aus", flüstere ich ehrfürchtig. Sie sehen gefährlich aus.

Als sie den zentralen Platz erreicht haben, machen wir uns auf den Weg, um sie rechtzeitig abfangen zu können.

„Effie!", trällert da plötzlich eine Stimme hinter uns. Ich hätte sie wahrscheinlich überall wiedererkannt.

„Octavius", entfährt es mir und mein Akzent mischt sich wieder in meine Stimme. Wir fallen uns in die Arme. „Wie lange ist es her?"

Octavius, ein alter Schulfreund meinerseits und der Sohn eines Bekannten meines Vaters, lächelt mich herzlich an. Seine Haare sind dunkelblond gefärbt -seine echte Haarfarbe ist braun- und er trägt einen passenden Anzug, jedoch recht freizügig geschnitten. „Ich habe keine Ahnung", säuselt er und denkt nach. „Viel zu lange auf jeden Fall!"

Wir tauschen kurz Belanglosigkeiten aus und er erzählt mir, dass er neuer Betreuer von Distrikt 6 ist. Da wir beide wegen unserer Tribute hier sind, haben wir also nicht viel Zeit für Smalltalk. Als ich mich kurz darauf zu Haymitch umdrehe, ist dieser verschwunden. Suchend schaue ich mich im Erdgeschoss um und erspähe ihn auf der anderen Seite der Halle. Neben ihm stehen sein langjähriger Freund Chaff, seine Partnerin Seeder und Katniss und Peeta.

Ich gehe auf sie zu und bemerke, wie unbeschwert sie alle miteinander umgehen. Seeder umarmt Katniss, Chaff drückt ihr einen Schmatzer auf den Mund und dreht sich dann lachend zu Haymitch. Sein schallendes Lachen ist durch das gesamte Erdgeschoss zu hören. Typisch. Ich kann ein kleines Schmunzeln nicht unterdrücken, weil er dasselbe damals auch bei mir gemacht hat. Die Sieger sind alle in ausgelassener Stimmung, ohne an Regeln oder irgendwelche Höflichkeitsformen zu denken. Es ist bewundernswert, wie natürlich mir es mir auf einmal erscheint. Nur, weil ich sie schon so lange kenne.

Gerade wollte ich noch zu ihnen laufen, da wird mir plötzlich bewusst, dass ich Haymitch vielleicht diese kleine Wiedervereinigung lassen sollte. Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich sie allein lasse, damit sie sich unbeschwert austauschen können.

Da fällt mir plötzlich Finnick wieder ein. Er steht nicht bei der Gruppe, muss also hier irgendwo umnherlaufen. Ich entdecke ihn kurzerhand mit seiner Eskorte Lillian. Ich mag sie nicht besonders, sie ist abgehoben und arrogant, aber Finnick weiß, wie man sie im Schach hält. Winkend komme ich auf sie zu, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Als er mich in der Menge erspäht, entspannt sich sein Gesichtsausdruck wie von selbst.

„Effie!" Er klingt erleichtert. Mit einem halben Grinsen fällt er mir um die Arme und ich habe Mühe, nicht nach hinten zu kippen. Ich lächele in mich hinein. Selbst auf Highheels ist der Junge größer als ich. Sein blondes Haar kräuselt sich um seine Ohren und er trägt ein oberkörperfreies Fischeroutfit, im Stil seines Distrikts.

„Was für ein Tag", murmele ich zerstreut, als ich mich von ihm löse. Ich werfe Lillian einen Blick zu, den sie mit einem Hauch von Verärgerung erwidert. Sie wispert eine Entschuldigung und verschwindet. Sobald wir allein sind, lassen wir die Fassade fallen. „Ich kann es nicht glauben. Das kann doch kein Zufall sein, oder?"

Finnick schüttelt gedankenverloren den Kopf und seine Augen fahren unkonzentriert über die Menge. „Natürlich", erwidert er offen. „Sie haben uns da, wo sie uns haben wollen. Alle potenziellen Bedrohungen auf einen Streich aus dem Weg geräumt. Wirklich schlau, aber unglaublich. Nach den letzten Ereignissen aber vorhersehbar."

Ich schlucke und lehne mich nach hinten, um ihn seine grünen Augen schauen zu können. Ich harke mich bei ihm ein und wir gehen ein Stück. In Finnicks Gegenwart ist es so leicht, meine Maske der immerfröhlichen Effie abzusetzen. „Letzte Ereignisse?"

„Du solltest nichts davon wissen", erklärt er bestimmt und kratzt sich am Hinterkopf. Ich sehe ihm an, dass es ihm schwerfällt, mir nicht davon zu erzählen. „Haymitch wird mich umbringen, wenn ich dir die Wahrheit sage. Seit den letzten Spielen hält er alles für eventuelle Gefahren." Finnick und ich konnten schon immer offen miteinander reden. Ich bin ihm dankbar dafür, denn von Haymitch erfahre ich nie etwas.

Dass Haymitch sich überhaupt um etwas sorgt ist mir neu, aber ich erinnere mich an unser Gespräch hinter dem Gerichtsgebäude und verstehe, was er damit ausdrücken will. „Ich werde ihm nichts erzählen."

Seufzend fährt Finnick sich durchs Haar. „Es gibt Aufstände. Bei uns noch nicht, aber es wird darüber geredet. Spekulationen."

Also hatte ich recht. Bei uns noch nicht. Als würden Finnick darauf warten, dass sie sich ausweiten. „Das ist ja schrecklich." Und es ist wirklich schrecklich. Aber vollkommen sinnlos.

In seinen Augen blitzt etwas auf. Nach einer Weile des Schweigens räuspert er sich. „Ja ..."

„Wie geht es Annie?", frage ich schließlich, denn ich kriege die Bilder von der Ernte in Distrikt 4 nicht mehr aus meinem Kopf. Ich weiß, was sie ihm bedeutet. Haymitch und ich haben gesehen, wie sehr er darum gekämpft hat, sie lebendig aus der Arena zu kriegen. Den Rest konnten wir uns denken.

„Sie ist okay." Damit wäre das Thema wohl beendet. Ich verstehe, dass Finnick Zeit braucht. Ich tätschle ihm noch einmal den Arm, bevor ich mich entschuldige. Verbittert bahne ich mir einen Weg durch die Menge aus Siegern, Mentoren und Vorbereitungsteams und laufe beinahe zu den Aufzügen, bevor noch irgendjemand anderes auf die Idee kommt, mit mir ein Schwätzchen zu halten.

Nachdem sich die Tür hinter mir schließt, merke ich erst, wie erstaunt ich wirklich bin. Aufstände. Was bedeutet das für uns? Aber ich weiß, dass die anderen bald nachkommen werden, um zu Abend zu essen, weshalb ich mich nicht von meinen Gefühlen ergreifen lasse. Ich möchte schon ins Esszimmer verschwinden, als sich eine weitere Aufzugtür öffnet. Bei Haymitchs Anblick erstarre ich. Ist er mir etwa gefolgt? Hat er das Gespräch mit Finnick mitbekommen? Ich kann meine Überraschung kaum verbergen.

„Wo willst du denn hin?", fragt er mich und hebt leicht die Augenbrauen. Die Bewegung lässt ihn albern aussehen.

Für einen Moment starre ich ihn einfach nur an. Als ich merke, dass er auf eine Antwort wartet, muss ich mir erst etwas ausdenken. Die Wahrheit werde ich ihm nicht sagen. Schließlich gehen ihn meine Gefühle und Gedankengänge nichts an. Ich entschließe mich dazu, ihn abzuwimmeln. „Ich wollte es möglichst vermeiden, mit zehn anderen Personen auf engstem Raum eingequetscht zu sein. Besonders, wenn man am längsten fahren muss", sage ich also. Ich weiß, dass er darauf nichts erwidern wird, da dies eine typische Kapitolantwort ist. Und Haymitch hasst das Kapitol.

Einen Augenblick lang schweigen wir beide und schauen uns nur an. Haymitch lehnt gegen die Brüstung der Aufzüge und mustert mich aus verschränkten Armen. Der Blick seiner Augen sieht nachdenklich aus. Eine Sehnsucht schimmert in ihnen, die ich weder verstehe noch deuten kann. Dann stößt er sich vom Geländer ab und macht einen Schritt auf mich zu. Ein Grinsen umspielt seine Lippen als er seinen Mund öffnet und die Worte hervorbringt, die mich vollkommen aus der Bahn werfen. „Prinzessin, du solltest öfter an deinem Bleistift rumkauen, ist ein süßer Anblick."

Ich will etwas erwidern, doch ich bin zu verdattert, als dass ich irgendetwas hervorbringen könnte. Ein warmes Gefühl macht sich in meinen Wangen breit und ich bete, dass er die Röte unter der Schminke nicht sieht. Ist das etwa ein Kompliment gewesen? Was für einen Zweck hat er darin gesehen, mir das mitzuteilen?

Haymitch lächelt einfach nur ungesittet und dreht sich zu den Aufzügen. Katniss und Peeta steigen aus. Katniss scheint über irgendetwas verärgert zu sein. Jetzt, wo Haymitch mir den Rücken zugekehrt hat, kann ich den Anflug eines Lächelns nicht mehr verbergen. Doch da bleibt Haymitch plötzlich wie angewurzelt stehen und ich laufe beinahe in ihn hinein. Ich gehe an seine Seite und mustere ihn besorgt. Sein Gesichtsausdruck hat nichts mehr mit dem vor einigen Sekunden gemein. Ein Anflug von Verwirrung huscht über sein Gesicht, dann wird es ernst. Er starrt Katniss an und scheint mich gar nicht zu bemerken. Besser so, denke ich mir.

Erst dann merke ich, dass er gar nicht Katniss anstarrt, sondern auf etwas hinter ihr. Oder jemanden. Denn als ich einen Schritt zur Seite gehe, entdecke ich sie. Das rothaarige Avoxmädchen von letztem Jahr. An ihrer Seite steht ein anderer Avox, ebenfalls rothaarig.

„Offenbar bekommt ihr dieses Jahr zwei im Partnerlook", entfährt es mir mit fröhlicher Miene, damit das Thema abgehakt ist. Haymitch wirft mir einen Blick zu. Ich erkenne an seiner Miene, wie sehr ich es mir gerade verspielt habe. Aus seiner Sicht der Dinge dürfte es Avoxe gar nicht geben. Bei mir ist das anders. Ich komme nun mal aus dem Kapitol und wurde so erzogen, dass ich die Avoxe als Teil unserer Gesellschaft betrachte. Auch wenn sie eigentlich nichts anderes sind als Sklaven. Sklaven. Das Wort beschreibt dasselbe, ist meiner Meinung nach aber viel schlimmer.

Haymitch hechtet auf Katniss zu, die auf die beiden zugehen will und hält sie am Arm fest. Weiß Gott warum er so einen Aufstand macht. Katniss, die plötzlich völlig bestürzt wirkt, reißt sich los und flieht in Richtung Schlafzimmer. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen winkt Haymitch Peeta zu sich und verschwindet mit ihm.

Wieder bin ich allein. Die beiden Avoxe starren mich an. Nicht wütend aber mit einem gewissen Vorwurf in den Augen. Sie wissen, dass ich sie jederzeit dafür bestrafen könnte. Eine Welle von Scham überkommt mich, denn während sie mich ansehen, bekomme ich plötzlich das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben.

oOo

Bald darauf finden wir uns alle für das Abendessen zusammen. Auch Cinna und Portia leisten uns Gesellschaft. Letztes Jahr waren die beiden der einzige Grund, weshalb Haymitch und ich uns nicht gegenseitig an die Gurgel gegangen sind. Dieses Jahr ist es anders. Wir unterhalten uns alle ausgelassen über die Eröffnungsfeier, lästern vielleicht ein klein wenig über manch ein Kostüm. Ich lache viel.

Aber nicht alle sind in guter Stimmung. Katniss hat noch kein einziges Wort gesprochen und starrt auf ihren Teller und immer mal wieder auch zu unserem neuen Avox, der uns bedient. Und Haymitch trinkt. Nicht viel, aber es reicht, um ihn auszuklinken. Er kommentiert nur hier und da etwas. Ich versuche mir keine Gedanken zu machen.

Ich bin so vertieft in das Gespräch, dass ich mich umso mehr erschrecke, als Katniss eine Schüssel mit Erbsen auf den Boden fallen lässt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie sich hinabbeugt, um die Erbsen aufzusammeln. Keinen Augenblick später ist der Avox an ihrer Seite und macht seinen Job. Unsicher schaue ich zu Cinna und Portia herüber. Ich weiß nicht wieso, aber ich bin wütend. Katniss, die den ganzen Tag kein einziges Wort mit uns wechselt und sich jetzt Hals über Kopf in irgendwelche Aktionen verstrickt.

„Das ist nicht deine Aufgabe, Katniss", sage ich mit einem ärgerlichen Ton in der Stimme. Schweigend setzt sie sich wieder hin und starrt wieder auf ihren Teller. Sie hat ihre Lippen zu einer dünnen Linie gepresst. Auch ich wende mich wieder den anderen zu und ernte einen Blick von Haymitch.

Kurz darauf setzen wir uns alle vor den Fernseher, um uns die Wiederholung der Eröffnungsfeier anzuschauen. Ich setze mich neben Portia und Haymitch setzt sich neben mich. Schnell schlage ich die Beine übereinander und falte meine Hände im Schoss. Ich rieche den Alkohol in Haymitchs Hand und wende angeekelt den Kopf zu Portia und unterhalte mich mit ihr. Als die Sendung vorbei ist, springt Katniss auch schon auf und bedankt sich höflich bei Cinna und Portia für ihre tolle Arbeit. Ich bin glücklich darüber, wie sehr sich ihre Manieren gebessert haben.

„Denkt daran, dass wir uns pünktlich zum Frühstück treffen, um unsere Trainingsstrategie zu besprechen", erinnere ich die anderen mit bedrückter Stimme. Und als ich sie ansehe weiß ich, dass sie den bekümmerten Ton gehört haben.

Wir alle wissen, dass es dieses Jahr keine zwei Sieger geben wird. Auch so stehen unsere Chancen schon schlecht genug, da die anderen Sieger sich alle bereits kennen. Viele von ihnen waren oder sind immer noch Mentoren. Haymitch und ich werden uns sehr anstrengen müssen, um morgen beim ersten Treffen mit den anderen Mentoren und Betreuern einen guten Eindruck zu machen, um Vertrauen zu gewinnen. Aber im Anbetracht der Umstände glaube ich nicht, dass das schwer sein wird. Haymitch kennt viele von ihnen.

Ich gehe zeitig schlafen, weil wir morgen rechtzeitig auf den Beinen sein müssen. Wahrscheinlich werde ich wieder die erste sein die wach ist, letztes Jahr war es auch so. Sobald ich das Licht ausgeknipst habe, falle ich einen Schlaf, der mir diese Nacht keine Ruhe geben wird.


A/N:
Jo, ich hab's vergessen. Sorry! Ich war so im Stress die letzten Tage. Ich habe seit drei Wochen an keinem Projekt mehr weiter geschrieben. Ich weiß nicht, woran es liegt, die Lust ist mir definitiv nicht vergangen aber ...
Naja, nun ich muss mich als allererstes bei euren Reviews bedanken! Ich habe mich sehr darüber gefreut. Noch etwas zu Effies Charakter. Ich bemühe mich seeeehr, sie nicht allzu OOC erscheinen zu lassen, aber einerseits bin ich völlig einverstanden mit ihrem Verhalten, in den ersten beiden Kapiteln. Man muss bedenken, dass sie diesen Job seit zehn Jahren macht. Zehn Jahre lang unschuldige Kinder sterben zu sehen, mit denen man vorher noch in Kontakt war ist für Effie sicherlich nicht einfach, denn sie wird auch in den Büchern als eine sehr emotionale Person beschrieben. Also seht es mir nach. =D

Die Stelle mit Effie und Haymitch vor den Aufzügen musste einfach sein. Es gibt im Buch eine Passage "Haymitch und Effie gesellen sich zu uns und sehen irgendwie zufrieden aus." und das hat einfach nach Hayffie und einer detailierteren Erzählung geschriehen!

Im Moment verläuft alles noch ziemlich nach Buch "Catching Fire", das wird sich aber spätestens ab der Arena ändern, weil wir uns ja vor allen Dingen auf Effie konzentrieren, das bedeutet, dass ich einiges dazu erfunden hab!

Ich wollte euch noch darauf hinweisen, dass ich nächsten Freitag eine andere Version von "Figure It Out" hochladen werde und ich würde mich freuen, wenn ihr sie euch mal anschaut. Es ist keine ganze Geschichte, sondern nur einzelne Kapite, die ich komplett verändert habe, sodass nun diese Version entstanden ist, die ihr gerade gelesen habt. Dort hat Effie eine andere Vergangenheit und die Kapitel sind um einiges dramatisierter und OOC-er.

Bis -vielleicht- nächste Woche und auf jeden Fall, bis in zwei Wochen! Bitte hinterlasst mir ein Review, ich würde mich sehr freuen!

Skyllen

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