Kapitel 2

2

Die vertraute Landschaft von Distrikt 7 zieht an Narie vorbei. Während Ian sofort in sein Abteil des Zuges gelaufen ist und weint, ist Narie in den hintersten Teil des Zuges gegangen und sieht aus dem riesigen Fenster. Auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen möchte, sie hat Angst. Sie hat Angst vor dem was passieren wird, Angst davor wie sie sterben wird. Innerlich hofft sie, dass sie von einem der Karrieros getötet wird, denn die wissen wenigstens wie man jemanden schnell umbringt, ohne das man noch mehrere Stunden unter Schmerzen auf den unvermeidbaren Tod warten muss. Die Meisten der Tribute hatten noch nie eine Waffe in den Händen und stechen einfach drauf los, egal wohin, Hauptsache sie treffen ihren Angreifer. Aber wäre Narie anders, wenn sie sich nicht von den Überlebenden ausbilden lassen hätte? Wahrscheinlich würde sie noch nicht einmal eine Waffe erbeuten können, weil sie vorher schon getötet werden würde.

Die Tür geht leise auf und kaum hörbare Schritte erklingen hinter Narie. Ohne sich umzudrehen weiß sie, dass es Blight sein muss, denn kein anderer geht so.

Doch Narie ist jetzt überhaupt nicht in der Laune zu reden.

»Jetzt nicht, Blight.«, meint sie und dreht sich dabei nicht um.

»Wir wollen uns die Ernten angucken um zu wissen mit wem wir es dieses Jahr zu tun haben, kommst du?«, fragt er und stellt sich neben sie. Er weiß, dass es wohl besser ist Narie jetzt nicht wie ein kleines Kind zu behandeln. Er hatte diesen Fehler ein Mal gemacht und es bitter bereut. Narie hatte mehrere Tage nicht mit ihm geredet, weil sie so sauer auf ihn war.

»Ich komme nach, wenn wir Distrikt 7 verlassen haben.«, meint sie ohne den Blick von dem Wald abzuwenden. Mit diesem Wald verbindet sie viele schöne Zeiten. Sie verbrachte viele Tage dort, die Überlebenden brachten ihr bei, wie sie sich bewegen sollte um keine Geräusche zu verursachen. Sie haben Fallen aufgestellt, geübt auf Bäume zu klettern (und auch wieder heil herunterzukommen), haben sich gegenseitig verfolgt um das Laufen auf unebenem Boden zu üben und noch so allerhand mehr. Bis vor drei Wochen ging das mehrmals in der Woche so. Aber im Moment ist Hauptrodungszeit, da hat man nirgends einen freien Platz wo man das Alles üben kann, ohne dass man von einem Baum erschlagen oder von einem Arbeiter erstochen wurde. Besonders das Trainieren mit den Waffen ist umso gefährlicher, denn wer kann einem garantieren, dass man nicht plötzlich einen Arbeiter trifft und ihn versehentlich verletzt oder sogar umbringt?

Stumm wartet Blight neben dem schwarzhaarigen Mädchen welches verträumt aus dem Fenster sieht. Er kann sich ungefähr vorstellen, was sie gerade für Gedanken hat, denn ihm ging es damals nicht anders. Blight wollte auch jeden Moment auskosten, den er von Distrikt 7 noch bekommen konnte, denn er hatte fest damit gerechnet, dass er das alles niemals wieder sehen würde.

Als die letzten Bäume aus der Ferne verschwinden dreht sich Narie wortlos um und läuft zur Tür. Blight versteht und folgt ihr, ebenso leise wie sie.

Im Fernsehraum sind schon Lorena, Ian und Johanna versammelt.

»Was hat das denn so lange gedauert?«, fragt Lorena sofort und man hört deutlich wie ungeduldig sie ist. Innerlich schlägt Johanna sich vor die Stirn. Was bitte versteht Lorena daran nicht, wenn man ihr sagt, dass sie Narie jetzt besser nicht reizen sollte?!, denkt sie fast schon wütend.

»Ich musste mich noch von meinem Distrikt verabschieden.«, gibt Narie nur zurück und setzt sich neben Johanna auf die sehr bequem aussehende, orangene Couch.

»So lange?«, fragt Lorena misstrauisch und zieht eine Augenbraue in die Höhe. Erneut stöhnt Johanna innerlich auf.

Narie wollte sich eigentlich einen Kommentar verkneifen und Lorena ignorieren, aber kann nichts gegen ein »So was verstehst du nicht. Du weißt nicht, wie es ist, zu wissen, dass man sterben wird, du findest das alles hier ganz toll und eiferst doch am Ende auch mit wer gewinnen wird!« machen.

Daraufhin sagt Lorena gar nichts mehr und lässt sich beleidigt schnaubend auf einen Sessel weit weg von Narie fallen. Narie wiederum findet das nicht schlimm, ist sogar ganz froh, dass sie den Geruch von Lorenas Parfüm nicht ertragen muss.

»Gut, sehen wir uns die Ernten an. Lasst uns mal gucken, wer gefährlich werden könnte und mit wem ihr euch verbünden wollt.«, meint Johanna, klingt dabei aber nicht besonders begeistert.

Die erste Ernte beginnt. Distrikt 1 ist ein Karriero-Distrikt, was bedeutet, dass es eigentlich immer Freiwillige gibt. So auch dieses Jahr. Eine blonde Schönheit betritt die Bühne. Glimmer... Einen Moment lang schmunzelt Narie bei dem Namen. Die Eltern aus Distrikt 1 geben ihren Kindern wirklich seltsame Namen... Doch dann denkt Narie daran wie schwer es die Karrieros eigentlich haben müssen. Von klein auf werden sie für die Spiele ausgebildet, wenn sie nicht gut sind, dann werden sie bestraft. Es geht den Eltern nicht darum ein gutes Verhältnis zu ihren Kindern aufzubauen, es geht ihnen darum, dass ihr eigenes Kind gewinnt um sich selber besser darstehen zu lassen.

Wenn man Glimmer sieht, dann denkt man, dass sie sich eher um ihr Aussehen kümmert und nicht ums Kämpfen.

Der Junge aus Distrikt 1 macht auf den ersten Blick einen freundlichen Eindruck, hat ein nettes Lächeln, ist etwas schlaksig, aber die Tatsache, dass er sich freiwillig gemeldet hat, zerstört diesen Eindruck sofort. Er ist ein Karriero, also ziemlich tödlich und sein Ziel ist es zu gewinnen, um jeden Preis.

Distrikt 2 kommt als nächstes.

Ein junges Mädchen mit braunen Haaren meldet sich freiwillig und betritt selbstbewusst die Bühne. Dafür, dass sie sich freiwillig gemeldet hat ist sie noch relativ jung, wahrscheinlich so um die 15 oder 16 Jahre. Ihren mordlustigen Blick kann man selbst durch die Kamera deutlich erkennen. Auf den ersten Blick wirkt sie etwas zierlich, aber sie wird gelernt haben, wie sie ihre Kraft gezielt einsetzt.

Der Junge ist sehr muskulös und man erkennt deutlich, dass er einen mit der bloßen Hand töten kann. Er hat auf jeden Fall große Chancen die Spiele zu gewinnen.

Aus Distrikt 3 ist niemand der einen bleibenden Eindruck bei Narie hinterlässt, genau so wenig wie aus 4. Blight und Johanna meinen, dass die keine wirkliche Bedrohung werden, zumindest nicht für Narie. Die beiden wissen ja schließlich, wie gut sie ist, haben ihr den Großteil selber beigebracht.

Das Mädchen aus Distrikt 5 sieht ziemlich schlau aus und erinnert Narie an einen Fuchs. Allerdings ist sie sehr zierlich gebaut. Wenn sie das Gemetzel am Füllhorn überlebt und fliehen kann, dann hätte sie gute Chancen lange zu überleben indem sie sich versteckt.

Der Junge aus 5 und die beiden Tribute aus 6 sehen ganz normal aus, relativ harmlos.

Nun ist Distrikt 7 dran. Es wird angefangen mit der Stelle, als Naries Name gelesen wird und Blight laut und für alle hörbar »Nein!« sagt. Es gibt eine kurze Aufnahme von seinem Gesicht, dann zeigt man Narie. Sie wirkt unheimlich selbstbewusst und sicher. Ihre Stimme zittert nicht als sie ihr Alter verkündet.

»Du wirst einen guten Eindruck hinterlassen.«, meint Johanna zu ihr ehe sie sich weiter auf die Ernte konzentriert. Ian wirkt nicht annähernd so selbstbewusst wie Narie, er hinterlässt genau den Eindruck, den Narie von den meisten anderen Tributen auch hatte. Schwach.

Aus Distrikt 8 gibt es auch niemand interessantes. Narie ist fast schon froh, dass dieses Jahr nicht so viele Junge Tribute dabei sind. Es gab ein Jahr, da gab es sehr viele Tribute, die scheinbar bei der ersten oder zweiten Ernte gleich gezogen wurden. Diese wurden natürlich sehr schnell von den älteren getötet.

Aus Distrikt 9 kommt ein Mädchen, dass einen freundlichen, aber auch etwas verplanten Eindruck macht. Sie weint nicht, nein sie versucht zu lächeln.

Aber ihr Lächeln erstirbt als sie den Namen ihres Mittributen hört. Ein Junge, ungefähr so alt wie sie. Beide lächeln sich auf der Bühne an, allerdings ist es ein schmerzvolles Lächeln. Vielleicht sind die beiden verwandt, befreundet oder sogar ein Paar. Doch egal was es ist, es ist nicht schön jetzt zusammen in die Spiele gehen zu müssen, mit der Gewissheit, dass es einer der beiden niemals schaffen kann, wenn der andere überleben sollte.

In Distrikt 10 passiert wieder nichts Spannendes, zwei verunsicherte Tribute betreten die Bühne, schütteln sich die Hände und verlassen sie dann wieder.

In Distrikt 11 betritt ein zierliches Mädchen die Bühne. Es ist unverkennbar ihre erste Ernte. Ihre lockigen Haare lassen sie ziemlich süß und verspielt aussehen.

Der kräftige Junge aus diesem Distrikt ist das komplette Gegenteil von ihr. Er hat sehr viele Muskeln, macht einen selbstbewussten und gefährlichen Eindruck und lässt das Mädchen neben sich noch zierlicher aussehen als sie es schon ist. Doch er wirft ihr einen mitleidigen, fast schon schmerzvollen Blick zu, so als würde er sie kennen, bevor die beiden sich die Hände schütteln.

In Distrikt 12 passiert etwas, was es noch nie gegeben hat. Ein junges Mädchen wird ausgelost. Bevor es die Bühne betritt wird es von einer Freiwilligen abgelöst. Es stellt sich heraus, dass es die große Schwester ist. Das ist auf jeden Fall mutig. Ob ich mich damals für meinen Bruder gemeldet hätte, wenn ich männlich gewesen wäre? Wahrscheinlich schon.

Der blonde Junge macht einen sehr verängstigten Eindruck und ist offenkundig kurz vorm weinen.

Zudem machen Mädchen und Junge den Eindruck als kennen sie sich.

Damit sind die Ernten vorbei. Blight und Johanna sehen das Mädchen an.

»Hast du eine Idee mit wem du dich verbünden willst?«, fragt Blight. »Nein. Ich möchte mich gar nicht verbünden. Ich mache das Alleine.«, gibt sie nur zurück.

»Aber es ist besser, wenn du mit jemandem zusammen kämpfst, falls du von den Karrieros angegriffen wirst.«, mischt sich nun Johanna ein.

»Und wozu? Um mich am Ende von meinem Verbündeten umbringen zu lassen? Oder noch besser? Um ihn dann selbst umzubringen?«, Naries Worte klingen etwas wütend. Johanna und Blight haben schon immer gemeint, dass sie sich mit jemandem verbünden solle, falls sie jemals in den Spielen ist und jedes mal sagte Narie, dass sie es nicht tun würde. Blight seufzt. Er kennt seine beste Freundin so gut um zu wissen, dass man sie nicht umstimmen kann, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.

»Was ist mit dir, Ian?«, fragt Johanna jetzt den Jungen. Er bleibt einen Moment stumm.

»Nun ja... ich hätte mich mit Narie verbünden wollen.« - »Nein.«

»Ich hab verstanden, dass du dich nicht mit mir verbünden willst, das musst du mir nicht noch extra sagen.«, gibt Ian zurück, als Narie ihn einfach unterbricht.

»Das Mädchen aus 5 machte einen netten Eindruck.«, meint er dann aber.

»Mit Nettigkeit schaffst du es aber kaum zu überleben.«, gibt Narie wieder ihren Kommentar ab.

»Ach, aber du alleine schaffst das?«, fragt Ian schnippisch zurück.

»Nein. Wir haben beide keine Chance.«, Narie steht auf.

»Ich gehe in mein Zimmer. Sagt Bescheid, wenn wir angekommen sind.«, mit diesen Worten verschwindet das Mädchen auf ihr Zimmer. Sie weiß nicht, wieso sie das gerade gesagt hatte und Ian damit das letzte Stückchen Hoffnung nahm, aber als sie die ganzen anderen Tribute gesehen hatte, schloss sie innerlich schon mit ihrem Leben ab.

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