Kapitel 1

1

Distrikt 7, Tag der Ernte

Stumm steigt sie aus dem Wasserkübel. Ihre dunklen Haare triefen nur so vor Wasser und der Boden wird nass von dem Wasser, welches an ihrem Körper hinab fließt. Mit einem alten Handtuch, welches auch schon bessere Zeiten hinter sich hat, trocknet sie erst ihre Haare und dann ihren Körper ab, wobei es schon völlig durchnässt ist, als sie an ihren Beinen ankommt. Sie nimmt ihre Unterwäsche von ihrem Wäschestapel und zieht diese an. Bevor sie sich allerdings weiter anzieht, rubbelt sie ihre Haare erneut trocken, doch vergeblich. Innerlich hofft das Mädchen, dass sie es noch schafft ihre Haare am Feuer zu trocknen bevor sie los muss. Das Kleid ist auch nicht mehr das, was es einmal war, denkt sie frustriert, als sie es hoch hebt um es anzuziehen. Narie mag keine Kleider, nein. Kleider sind unpraktisch, unbequem und sehen nicht mal gut aus. Hosen und ein normales T-Shirt sind ihr immer noch am liebsten. Das Grau in Naries Kleid ist verwaschen und verblasst und im Vergleich zu den schwarzen Details ist es fast schon wie weiß. Doch trotzdem besitzt sie nur dieses eine Kleid, denn sie brauch es nicht häufig. Höchstens für die Ernte oder eine Beerdigung. Sie lässt sich nicht durch ihre Mutter stören, die immer wieder an die Tür des kleinen Raumes klopft und wissen will, ob ihre Tochter fertig ist, denn sie weiß ganz genau, dass Narie heraus kommen würde, wenn sie fertig wäre. Narie knotet das letzte Band ihres Kleides zu und sieht ihre Schuhe an. Ihre Mutter besteht darauf, dass sie zu diesem Kleid ihre hochhackigen Hochzeitsschuhe trägt, sozusagen als Familienerbstück, aber Narie hasst diese Schuhe. Oft hatte sie schon daran gedacht einen der viel zu hohen Hacken abzubrechen, aber als ihr in den Sinn gekommen war, wie sehr ihre Mutter diese Schuhe liebt hatte sie sie jedes Mal stillschweigend angezogen. Doch heute nicht. Ohne lange zu überlegen tritt Narie mit den Schuhen in der Hand aus dem Zimmer und läuft geradewegs auf die Schuhe neben der Tür zu. Sie zieht sich ihre Halbstiefel an. Zu ihrer Verwunderung sagt ihre Mutter nichts dazu, allerdings ist diese heute auch so still wie selten. Ihr Vater betritt das Zimmer und umarmt sie einmal fest. Er hatte in den letzten Jahren nicht gemerkt, was für eine starke Persönlichkeit Narie entwickelt hatte, da er den Kummer über den Tod von Naries Bruder mit Alkohol ertränkt hatte und dafür das gemeinsame Geld der Familie ausgegeben hatte. Narie hatte sich Tessera-Steine geholt, damit sie ihre Familie anstelle ihres Vaters ernähren konnte, außerdem halfen ihr ein paar der alten Überlebenden der Hungerspiele und brachten ihr Jagen bei, denn sie sahen die Begabung von Narie und erkannten ihr Talent. Zudem wollte Narie kämpfen und Jagen lernen, denn sollte sie einmal in die Hungerspiele müssen, so wollte sie eine Chance haben sich zu verteidigen und nicht kampflos zu sterben. Aber ihr ist bewusst, dass sie gegen die Karrieros keinerlei Chance hätte, denn diese werden seit sie klein sind auf diese Spiele vorbereitet und zu den ultimativen Killermaschinen erzogen. Ein Sieg bedeutet für die Karrierodistrikte alles, dort ist es eine große Ehre an den Spielen teilnehmen zu dürfen, während man in den anderen Distrikten jedes Jahr auf's Neue zittert, wen es denn nun treffen wird, wer dem Tode geweiht ist. Einer dieser Personen ist Blight. Naries bester Freund ist einer der Überlebenden der Hungerspiele. Sie sah die Gewinner nicht als Sieger an, denn was hatten sie gewonnen? Albträume? Eine Nähe zum Kapitol? Zu den Leuten, die ihnen das Jahr für Jahr antaten? Das Einzige, was sie gewinnen ist Reichtum. Doch den wollen viele nicht ein mal. Hier in Distrikt 7 ist es nicht so, wie in 1, 2 und 4. Hier sind die Hungerspiele nichts Tolles und man käme auch nie darauf sich freiwillig zu melden.

Der Marktplatz ist gefüllt und in den Gesichtern der Jungen und Mädchen erkennt man Angst. Jeder hier hat Angst davor gezogen zu werden, denn jeder hier weiß, dass so ziemlich jeder der Tribute aus diesem Distrikt zum Tode verurteilt wären, wenn ihr Name gelesen werden würde. Stumm und mit dem gewohnt kalten Blick auf Naries Gesicht ordnet sie sich in die Menge der Mädchen ein. Ihr Blick gleitet zur Bühne, zu Johanna, einer Überlebenden, mit der sie sich relativ gut versteht, und zu Blight, einem weiteren Überlebenden und ihrem besten Freund. Er ist fast 10 Jahre älter als Narie, sie selber ist 17, aber der Altersunterschied wirkt sich nicht auf die Freundschaft der Beiden aus. Narie hat nicht viele Freunde, das liegt aber größtenteils an ihrer Art, denn zu anderen ist sie abweisend und kalt. Sie hatte gelernt, dass Gefühle weh tun. Auch Blight sieht sie und nickt ihr kurz zu. Sie erwidert sein Nicken. Jedes Jahr am Tag der Ernte, hat er diesen Blick drauf, mit dem er jetzt über die Menge schaut. Er hat Angst, Angst davor jemanden zu verlieren den er liebt. Blight hat hier niemanden mehr. Seine Familie wurde ausradiert, oder ist von selbst gestorben und seitdem er in den Spielen war, hat er teilweise panische Angstzustände, die dafür sorgten, dass sich alle seine Freunde, außer Narie, von ihm abwandten.

Als Lorena, die, wie Narie es so liebevoll bezeichnet, Kapitoltusse, die Bühne betritt sehen sich beide noch kurz an, dann sehen sie beide zu Lorena. Ihre Haare leuchten dieses Jahr in einem Pastellgrün, passend zu ihrer mintfarbenen Kleidung. Ihr Gesicht ist ungewohnt blass und Narie versteht nicht, wie Lorena auf diesen Schuhen laufen kann.

»Fröhliche Hungerspiele und möge das Glück stets mit euch sein.«, ertönt ihre nervige, viel zu hohe Stimme über den Platz. Das Mikrofon in das sie spricht, verstärkt ihren Kapitolakzent noch einmal, was auf Dauer ziemlich anstrengend ist. Deswegen ist Narie fast schon froh, als der langweilige Kapitolfilm abgespielt wird, in dem es darum geht, dass die Hungerspiele nur deshalb existieren um die Aufstände von vor über 70 Jahren nicht zu vergessen und sich nicht wiederholen zu lassen. Lorena hat diesen Film schon hunderte Male gesehen, doch trotzdem spricht sie jede Zeile mit Freude mit, so als wäre sie jedes Mal aufs Neue begeistert. Daraufhin kann Narie nur die Augen verdrehen. Sie wird diese Frau niemals verstehen.

»So und nun ist es an der Zeit eine mutige junge Frau auszuwählen, die Distrikt 7 bei den 74. Alljährlichen Hungerspielen vertreten darf.«, sagt sie übertrieben freudig und tritt auf den Lostopf der weiblichen Jugendlichen zu. Oh ja, ist wirklich toll jemanden auszuwählen der in seinen Tod rennt. Narie kann sich bei diesem Gedanken ein abfälliges Grinsen nicht verkneifen. Sie hasst das Kapitol. Während in den äußeren Distrikten Leute an Essensmangel sterben hat das Kapitol so viel, dass vieles wieder weg geschmissen wird. Aber anstatt, dass das Kapitol etwas abgibt lassen sie die Menschen lieber verhungern und tun so, als würden sie in ihrer eigenen Welt leben. Gespielt langsam zieht Lorena einen der Zettel aus der Lostrommel und stöckelt zurück zum Mikrofon. Sie öffnet den Zettel, holt tief Luft und als sie laut den Namen verkündet bricht für Blight die Welt zusammen...

Obwohl Blight das eigentlich verstecken sollte keucht er erschrocken auf und sagt ein lautes und geschocktes »Nein!« Er ist kurz davor aufzuspringen und Lorena dazu zu zwingen einen anderen Zettel zu ziehen, doch das darf er nicht. Im schlimmsten Fall könnte Narie für seine Taten bestraft werden und das will er um jeden Preis vermeiden.

Narie verbirgt ihren Schock und läuft sicher, mit ihrem gewohnt distanzierten Gesichtsausdruck auf die Bühne zu. Ihr Blick geht nicht zu den Seiten, sie hält ihren Blick stumm auf den geschockten Blight gerichtet. Sie weiß, dass sie selbstbewusst wirkt als sie die Stufen zur Bühne erklimmt. Lorena fasst sie an den Schultern und schiebt sie neben sie an das Mikrofon. Narie blickt sich um. Sie hatte schon viele Tribute dort oben stehen gesehen, hatte gesehen wie sie geweint haben aber nun selber hier zu stehen ist eine ganz andere Sache, es ist schlimmer.

»Wie alt bist du Narie?«, fragt Lorena gespielt freundlich.

»17.«, gibt Narie nur trocken zurück und muss sich bemühen ihre Stimme selbstbewusst klingen zu lassen, da sie in diesem Moment ihre weinende Mutter erblickt. Ihr Vater zeigt keine wirkliche Regung, aber alleine daran wie er steht kann Narie erkennen, dass er wieder betrunken ist.

»Wundervoll. Und nun zu dem männlichen Tribut.«, sie fährt fröhlich fort. Sie wiederholt die Prozedur, wartet wieder lange bevor sie einen Zettel nimmt, kommt zurück gestöckelt und holt wieder tief Luft, nachdem sie den Zettel geöffnet hat.

»Ian Hood.«, verkündet sie mit der gleichen Freude wie bei Narie.

Narie kennt den kleinen, schlaksigen Jungen nicht, der mit Tränen in den Augen auf die Bühne kommt. Es muss sein zweites oder drittes Jahr sein, sie tippt auf das Zweite.

»Wie alt bist du Ian?«, fragt Lorena ihre übliche Frage. Der Junge antwortet mit einem schwachen: »13.« Er tut Narie Leid, und einen Moment lang überlegt sie, ob sie sich mit dem Jungen verbünden sollte um ihn zu schützen. Doch diesen Gedanken verwirft sie schnell. Sie braucht keinen Klotz am Bein, sie braucht niemanden auf den sie zusätzlich zu ihr selber noch aufpassen muss. Sie muss es schaffen zurückzukehren, sie kann ihre Mutter nicht alleine lassen. Ihre Mutter kann sich alleine niemals versorgen, vorallem nicht wenn Narie nun auch noch sterben sollte. Dann hat sie zwei Kinder verloren, ohne Hilfe schafft sie es nie damit klar zu kommen.

»Nun dann. Schüttelt euch die Hände.« Während Narie und Ian sich die Hände schütteln nicken sie sich kurz zu. Beide werfen noch einen kurzen Blick auf das was von Distrikt 7 zu sehen ist, dann lassen sie sich von zwei Friedenswächtern in das Justizgebäude begleiten und werden in die Verabschiedungsräume gebracht.

Zu Naries Überraschung sind es nicht ihre Eltern die als Erstes in den Raum stürzen, wobei ihr Vater wohl eher getorkelt wäre, nein es ist Blight, der schon beinahe panisch den Raum betritt.

»Wieso du? Es gab doch so viele andere Zettel, wieso musste die denn ausgerechnet dich ziehen?!«, verzweifelt sieht er sie an, während er sie fest umarmt. Er kann es noch gar nicht glauben, dass seine beste Freundin, so ziemlich das Einzige was ihm geblieben ist, jetzt in den Tod rennen soll. Er weiß, wie viel sie kann und wie gut sie ist, nicht nur im Umgang mit Waffen, sondern auch im Nahkampf, aber gegen die Karrieros, die sogar extra für die Spiele ausgebildet werden um sich dann freiwillig zu melden, hat selbst Narie kaum eine Chance.

»Ich lasse dir die restliche Zeit mit deinen Eltern. Wir sehen uns im Zug.«, meint er, löst sich aus der Umarmung und geht nach draußen.

Ihre Mutter betritt aufgelöst den Raum, die Tränen rinnen ihr über das Gesicht. Ihr Vater torkelt nur benommen hinterher.

»Es tut mir so Leid mein Kind, dass du so etwas erleben musst. Aber du hast gute Chancen zu uns zurückzukehren. Ich habe mit den Siegern geredet, sie meinen du wärst wirklich gut. Bitte, du musst es mir versprechen!«, gegen Ende des Satzes klammert sich die Frau fast schon panisch an ihre Tochter. Auch Narie umarmt ihre Mutter. Es fällt ihr sehr schwer ihre Mutter hier alleine zu lassen, denn sie weiß ganz genau, dass sie ohne sie große Probleme haben wird. Allerdings hatte sie durch ihre Trainingseinheiten mit Überlebenden der Spiele ein paar sehr gute Freundschaften geschlossen und konnte ihnen das Versprechen abringen, dass sie auf ihre Mutter aufpassen, wenn sie jemals ausgewählt worden würde. Die Meisten mögen ihre Mutter, denn sie ist ein herzensguter Mensch, immer um das Wohl von ihren Mitmenschen besorgt und sie ist selbstlos, also hat Narie vertrauen, dass sich jemand um ihre Mutter kümmert.

Jetzt tritt auch ihr Vater hervor.

»Es tut mir so Leid, mein Kind. Vergiss nicht, dass ich dich liebe.«, sagt er und umarmt seine Tochter. »Ich dich auch, Daddy.«, murmelt sie und löst sich von ihm. Mit Tränen in den Augen umarmt sie ihre Mutter nochmals und flüstert ihr etwas ins Ohr.

»Wenn dir einer der Sieger Hilfe anbietet, dann nimm sie an. Für mich, ja?«

»Okay.«

»Versprich es mir.«

»Ich verspreche es.«

Die Umarmung zwischen Mutter und Tochter wird stärker, als man leise, immer näher kommende Schritte auf dem Flur hört. Die Tür öffnet sich und Friedenswächter kommen herein.

»Zeit zum Gehen.«, brummt einer und sieht ungeduldig auf die Szene die sich vor ihm abspielt. »Vergesst nicht, dass ich euch liebe.«, meint sie und umarmt beide noch einmal.

»Wir lieben dich auch. Leb wohl, meine Kleine.«, dann wird die Tür geschlossen. Narie steigen weitere Tränen in die Augen. Ihre Eltern sind weg. Für immer.

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