Kapitel 87

Joe war gekommen. Hatte Pete mitten im Vereinsheim notoperiert.
Ben hatte mich, nachdem ich geduscht hatte und frische Sachen angezogen hatte, die ganze Zeit im Arm gehalten. "Er schafft das!" war das Einzige, was er pausenlos gesagt hatte. Verstanden hatte ich seine Worte jedoch nicht. Matt war tot. Pete kämpfte um sein Leben. Ich hatte einen Menschen erschossen. Das alles war zu viel, als das ich es in diesem Moment in meinem Kopf realisieren und verstehen konnte. Tränen flossen, ohne aufgehalten werden zu können, über meine Wangen. Ich zitterte, ohne das ich was daran ändern konnte. Zu töten hatte mir tatsächlich nicht diese Freiheit geschenkt, die ich mir erhofft hatte. Und doch war da dieses Gefühl des Glücks, dass ich Pete damit das Leben gerettet hatte. Hätte ich nur einige Sekunden gewartet,  mein Pete wäre gestorben.
"Er braucht viel Ruhe." Joe's Worte, als er zu Ben und mir kam. "Aber er wird es schaffen."
"Danke!" tonlos gesprochen,  aber Joe lächelte. Ich musste zu Pete. War in sein Zimmer gegangen. Geschockt darüber wie blass und leblos er wirkte, setzte ich mich auf den Stuhl neben sein Bett. Hielt seine Hand, die sich kalt anfühlte. Wie lange würde er schlafen? Wie würde er auf Matt's Tod reagieren? Die Beiden kannten sich seit dem Kindergarten. Waren eher wie Brüder, als nur Freunde. War es gerade wichtig über all das nachzudenken? Vielleicht ja! Vielleicht nein! Mir schien im Moment nur wichtig, das Pete bald aufwachte. Das er schnell gesund wurde.
Aber er schlief. Unendlich viele Stunden. Zumindest fühlte es sich für mich unendlich an. Und doch blieb ich auf dem Stuhl, neben dem Bett, sitzen. Wollte nicht verpassen, wenn er wach wurde. Er sollte wissen, dass ich bei ihm war. Das es mir gut ging. Ich wollte ihm jeden Wunsch erfüllen.
"Möchtest du was essen?" Sam schaute zur Tür herein. Ich schüttelte nur den Kopf. Also ging er wieder. Essen war gerade echt das Letzte woran ich dachte.
"Du musst ganz schnell gesund werden Pete." sprach ich leise zu ihm. "Es ist so viel passiert. Ich brauch dich! Ich muss mit Jemanden reden! Ich... ich brauch deine starken Arme, die mich auffangen." Ob er mich überhaupt hörte? Ich hoffte es. "Ich liebe dich." Oh ja, und wie ich ihn liebte. Tränen die gerade getrocknet waren, nässten meine Wangen erneut. Ich hatte für ihn getötet. Genauso, wie er für mich getötet hatte. Endlich verstand ich zum Teil, was er fühlte. Begriff, dass Worte nicht immer reichten, wo Gewalt das Leben bestimmte. Wusste, dass wenn man zögerte, die Chance vertan hatte. In dem Moment, als ich abgedrückt hatte, war mir alles egal. Nur eins nicht und das war Pete's Leben. Wenn ich nicht geschossen hätte, wäre er tot und ich hätte die Schuld daran getragen. Zumindest redete ich mir das ein. Ich hatte in Bruchteilen von Sekunden entscheiden müssen, was richtig und was falsch war.
Hatte ich mich richtig entschieden? Wenn ich ihn hätte sterben lassen, hätte ich für Niemanden mehr leben müssen. Hätte mit ihm zusammen die Reise zu unserer Tochter antreten können. Wir hätten dort glücklich sein können. Wir drei zusammen. Was also hatte mich da zu getrieben ihn zu retten? Es war die Ungewissheit, was uns nach dem Tod wirklich erwartete. Vielleicht war es gar nicht das Paradies, welches ich mir vorstellte. Pete und ich würden nie unsere Tochter treffen. Würden vielleicht nicht zusammen die mystische Materie des Himmels erreichen. Vielleicht gab es dieses WIR, nach dem Tod, gar nicht. Sondern nur ein - Jeder für sich.
Ich hatte seine Hand losgelassen. War zum Fenster gegangen, um es zu öffnen. Mein Sternchen funkelte am Himmel, der die Welt in tiefes schwarz tauchte. "Was ist da nach dem Tod?" nur ganz leise meine Worte. Ich hoffte eine Antwort zu erhalten, aber sie schwieg. Was auch sonst? Wenn es so einfach gewesen wäre, eine Antwort zu finden, würden sich nicht so viele Menschen die selbe Frage stellen, wie ich gerade. "Mach bitte, dass der Papa ganz schnell wieder gesund wird." ich flehte dieses Sternchen an. Mein Sternchen. Meine Prinzessin. Sie war der Schutzengel,  den Pete und ich so sehr brauchten. Sie war der einzige Halt, den ich glaubte im Moment zu haben.
"Chelsea..." eine Stimme krächzte leise hinter mir. Langsam drehte ich mich um. Was ich dachte, konnte doch nicht wahr sein. "Chelsea..."
"Pete!" mit einem Satz war ich vom Fenster ans Bett gehechtet. "Pete... Du... Wie geht's dir?"
Er schüttelte nur leicht den Kopf. "Ich hab Schmerzen."
"Warte, ich hol Joe." ich rannte aus dem Zimmer. Brüllte schon vom Flur aus seinen Namen. Sofort kam er herbei gestürmt.
"Stimmt was..."
Ich ließ ihn nicht aussprechen. "Pete, er ist wach. Aber er hat unglaubliche Schmerzen."
"Ok, geh zu ihm. Ich hol schnell was."
Noch bevor Joe seinen Satz beendet hatte, hatte ich mich umgedreht. War zurück ins Zimmer gerannt. "Er kommt gleich." sagte ich Pete. Setzte mich zu ihm. Nahm seine Hand in meine. So kalt fühlte sie sich zum Glück nicht mehr an. Ich lächelte mein schönstes Lächeln für Pete. Ein Echtes, denn ich musste mich nicht verstellen.
"Ok Pete." Joe war herein gekommen und war ans Bett getreten. "Ich spritze dir jetzt ein Schmerzmittel."
"Hm..."
"Dir geht's gleich besser." Ich konnte gar nicht hin sehen, als Joe die Spritze setzte. "Aber du solltest dich noch ausruhen."
"Da pass ich schon drauf auf."
"Das glaub ich dir auf's Wort." Joe zwinkerte mir zu, bevor er das Zimmer verließ. Pete und ich waren wieder allein. Hoffentlich stellte er mir keine Fragen. Denn wie sollte ich darauf reagieren, wenn er mich nach Matt fragte? Ich wollte nicht, dass er sich aufregte. Klar musste er irgendwann die Wahrheit erfahren, aber halt noch nicht jetzt, wo es ihm so schlecht ging. Und ich wollte auch nicht die Jenige sein, die es ihm erzählte. Das sollten mal schön seine Bro's übernehmen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, der mich schaudern ließ.
"Alles gut bei dir Baby?"
"Hm..." ich war wieder aufgestanden. War zum Fenster gegangen, um es zu schließen. "Mir war nur kalt."
"Und wenn du ehrlich bist?"
Noch immer wante ich ihm meinen Rücken zu. "Auch dann war mir einfach nur kalt."
"Du hast für mich getötet Chelsea."
"Ja und?"
"Wie geht's dir damit?"
Langsam drehte ich mich zu ihm. "Gut Pete, denn hätte ich es nicht getan, wärst du jetzt tot." bei diesen Worten ging ich auf ihn zu. Er sollte aufhören da drüber zu reden. Sollte aufhören, sich über all das den Kopf zu zerbrechen. Ich hatte keine Wahl gehabt. Habe nur das gemacht, was Jeder in meiner Situation gemacht hätte, wenn ihm die Chance gegeben wurde. Nicht mehr und nicht weniger. Es war nichts, worauf ich stolz war. Viel mehr war es ein weiterer Teil in meinem Kopf, den ich einfach vergessen wollte.
Pete hatte seine zittrige Hand nach mir ausgestreckt. Gefordert, dass ich mich zu ihm auf die Bettkante setzte. Und genau das hatte ich getan. Hatte sanft sein müdes Gesicht gestreichelt. Seinen Bart, der unglaublich weich war. Den er genauso pflegte, wie seine schulterlangen, blonden Haare.
Das Licht der Nachttischlampe erhellte den Raum in ein angenehm schummriges Licht. Langsam zog Pete mich an sich. Hauchte mir ein zärtliches Küsschen auf die Lippen, während sich seine Hand in meinen Haaren vergrub. Ich hatte schreckliche Angst ihm weh zu tun. Der Grund, weshalb diesem Kuss die Leidenschaft fehlte? Oder war es doch eher die Realität?  Das Wissen, dass er nicht unsterblich war. Das auch er nur eine zerbrechliche Hülle besaß, die  sich Körper nannte. Das Wissen, dass er nie so gut auf sich aufpassen konnte, wie er es mir immer versprochen hatte. Das einige seiner  Worte nur Lügen waren, um mein Gewissen zu beruhigen. Langsam legte ich mich neben ihn. Ließ mich von ihm zudecken.
"Du bist die tollste und stärkste Frau auf der ganzen Welt." die Ehrlichkeit in seiner Stimme verzauberte mich. Auch wenn ich mich selbst nicht als toll und stark empfand. Die meiste Zeit meines Lebens fühlte ich mich nämlich einfach nur klein, unsicher und voller Ängste und Zweifel. Aber ich hatte gelernt die perfekte Schauspielerin zu sein. Setzte viel zu oft eine Maske auf. Lachte nach außen hin, obwohl ich innerlich weinte. Tat auf selbstbewusst, obwohl ich innerlich zerbrach. Versuchte kontaktfreudig zu sein, obwohl mich Menschen einfach nur nervten. Nicht mal Pete machte sich noch oft die Mühe, hinter die Maske zu blicken. Warum auch? Die Chelsea hinter der Maske war anstrengend. Hatte keine Lust aus ihrem depressiven Loch gezogen zu werden. Die Chelsea hatte auf nichts Lust, außer ihren melancholischen Gedanken hinterher zu hängen. Wenn ich meine Maske nur mal für einen Tag hätte fallen lassen, selbst Pete hätte mich nicht mehr erkannt. Wollte ich das? Nein! Sicher nicht. Klar war es mühselig jeden Tag eine Rolle zu spielen. Aber genau das war es mir wert. Immerhin musste ich so Niemandem was erklären. Musste nur mit mir die inneren Kämpfe ausfechten, während alle Anderen glaubten, in meinem Leben würde nur noch rosa Glitzer existieren.
Pete war wieder eingeschlafen. Vorsichtig strich ich ihm eine seiner blonden Haarsträhnen von der Stirn. "Ich liebe dich!" flüsterte ich, bevor ihn ein kleines Küsschen traf. Auch mir fielen bald die Augen zu.

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