Kapitel 25

Irgendein Handy klingelte. Es war Pete's, stellte ich fest. Ich war auf der Couch in seinen Armen eingeschlafen und erst durch das Klingeln wieder aufgewacht. Es war die erste Nacht seit vier Monaten, die ich ohne Alptraum verbracht hatte. "Willst du nicht ran gehen?"
"Ist nur meine Mom." sagte er müde. "Ich sollte schon längst im Club sein."
"Dann fahr hin. Nicht das du noch Ärger bekommst." Aber er hatte nur den Kopf geschüttelt. Hatte mir erklärt, dass ihm das grad vollkommen egal war. Das er den Tag einfach mit mir verbringen wollte. Das er selbst erst mal alles verstehen und begreifen musste, bevor er zum Club fuhr. Ok, es war seine Entscheidung. Ich konnte ihn zu nichts zwingen. Dafür fehlte mir auch die Kraft.
"Ich mach' uns mal Kaffee." hatte er gesagt. War aufgestanden und hatte mich im Wohnzimmer allein gelassen. Ich saß auf der Couch, mit dem Rücken gegen die Lehne. Die Decke hatte ich bis zum Hals hoch gezogen. Und obwohl das Feuer im Kamin nicht mehr loderte, war es immer noch gemütlich warm.
"Hier Kleines!" Pete hatte sich wieder zu mir gesetzt und mir einen Kaffee gereicht.
"Danke!"
"Wie geht's dir?" ich zuckte mit den Schultern. "Ab jetzt passe ich  wieder auf dich  auf. Ok?"
"Ja,  ich  glaub' das würde mir gut tun."
"Weißt du Chelsea,  ich werde mein Zimmer in der Wg kündigen. Wenn du magst, kannst du es haben." er machte eine kurze Pause und schaute mich an. "Aber noch schöner fände ich, wenn du mit mir zusammen in dieses Haus ziehst."
"Zur Zeit geht's mir richtig scheiße. Ich will keine Beziehung. Ich will keinen Sex. Ich muss selbst erst mal klar kommen."
"Du könntest ins Gästezimmer ziehen." hatte er gesagt. Aber wollte ich das? Wollte ich ständig seine Nähe? Sollte mir das eventuell gut tun? Ich wusste es nicht. Es war in  den letzten Stunden mal wieder so viel passiert, das mein Kopf voll war. Zu voll,  um auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können. Klar, Pete wusste nun alles, aber würde er auch mit dieser Wahrheit auf Dauer klar kommen? Ich war nicht mehr die Chelsea, die er kennen und lieben gelernt hatte. Ohne etwas zu sagen stand ich auf.  Diese flauschige Decke hing über meine Schultern. Vorne hielt ich sie mit einer Hand zu. In der anderen Hand hielt ich eine Zigarette und ein Feuerzeug. So bewaffnet trat ich an das große Panoramafenster,  an welchem ich am Abend zuvor schon gestanden hatte. Ein riesiger Garten war zu sehen. Kahle Bäume, die Tot wirkten, eingehüllt unter einer weißen Decke aus Schnee. Die leeren Beete, die im Sommer bestimmt den schönsten,  buntesten  Blumen das Leben schenkten,  wirkten im Moment genauso leblos, wie die Bäume. Leise seufzte ich, als ich die Terassentür öffnete. Mit nackten Füßen trat ich in das Meer aus unzähligen Eiskristallen. Diese Kälte,  die schmerzte an meiner Haut, tat irgendwie gut und zog sich durch meinen ganzen Körper, bis in den Kopf. Ich zog an meiner Zigarette. Dachte an den nächsten Sommer. Stellte mir das Leben hier vor. Vögel würden zwitschern, Grillen zirpsen, Bienen summen, Blumen blühen und Bäume mit ihren grünen Blättern Schatten spenden. Die Natur würde wieder leben. Würde ich auch wieder leben?
Pete war zu mir raus gekommen. Hatte seine Arme von hinten um mich gelegt. Sein Kinn stütze leicht auf meiner Schulter. "Siehst du das Tor da hinten?" ich nickte. "Hinter dem Tor ist ein kleiner See. Im Sommer kann man da baden."
"Du hast das perfekte Haus ausgesucht."
"Genau das, von welchem wir geträumt haben. Weißt du noch, in dem Wald, an dem kleinen See?"
Oh ja, ich wusste es noch. "Pete,  was ist, wenn du nicht in Berlin bleiben kannst?"
"Chelsea..." er hatte nach meiner Hand gegriffen, mich dazu aufgefordert, wieder mit ihm rein zu kommen. "Morgen fahren wir Beide ins Vereinsheim. Ich werde dort alles erzählen, was passiert ist..."
"Nein!" entsetzt war ich von der Couch aufgesprungen,  auf der wir wieder saßen. Doch Pete zog mich zurück auf seinen Schoß. "Das kannst du nicht machen!"
"Es ist..."
"Mir ganz egal was es ist! Es soll Keiner wissen."
"Nur wenn sie die Wahrheit kennen", setzte er erneut an, "werde ich vielleicht bleiben dürfen."
Was? Nur wenn sie die Wahrheit wussten, durfte er vielleicht bleiben? Meine Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatten alle gar kein Recht da drauf es zu erfahren. Es ging sie nichts an. Genauso wenig, wie es sie was anging, weshalb Pete nun plötzlich doch bleiben wollte. Wie ich diesen Club hasste. Ohne ihn wäre sicher vieles anders gelaufen und doch wusste ich, dass es Pete's Leben war. Und Pete war immer noch irgendwie mein Leben. Mein Kopf lag  auf seiner Brust, während er mich einfach fest hielt. Mein Herz tanzte  ein ganz klein wenig. Nicht so sehr wie damals. Aber es tanzte. Es fühlte sich ein ganz klein wenig wie Leben an. Irgendwie machte mir diese Tatsache Hoffnung. Vielleicht sollte alles wieder gut werden. Nichts konnte ungeschehen gemacht werden und sicher konnte auch nichts vergessen werden. Aber vielleicht konnte ich lernen es zu verarbeiten und trotz allem ein glückliches Leben führen.
"Pete?"
"Hm."
"Wenn du morgen im Club alles geklärt hast, könnten wir dann ein paar Tage weg fahren?"
"Klar, wenn du das möchtest."
Ja genau das wollte ich. Ich wollte das erste Mal,  seit meiner Ankunft in Berlin,  einfach nur weg aus dieser Stadt. Wollte ein paar Tage allein mit Pete verbringen. Wollte mir da drüber klar werden, wie es mit uns weiter ging. Ich musste wissen, ob er mit der neuen Chelsea klar kam. Vielleicht brauchte ich auch nur die Gewissheit für mich, dass egal wie stark unsere Liebe immer noch war, dass mit uns nicht mehr funktionieren konnte. Ich hatte uns an dem Tag im Transporter schließlich aufgegeben. Und doch war er es gewesen, der mich in den ganzen Monaten am Leben gehalten hatte, ohne es zu wissen. Wie oft hatte ich an ihn gedacht. Wie oft mich in seine Arme gewünscht. Die funkelnde Rasierklinge nur über die Haut gezogen, an der sie mir nicht mehr tun konnte, als mich zu verletzen.
"Nicht weinen Baby." Viel zu vorsichtig wischte er mir die Tränen von den Wangen.

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