Kapitel 1: Neue Hoffnung

Mondschein stolperte etwas unbeholfen durch den Wald, in ihren Armen ein Weidenkorb. Mühselig folgte sie den laubbesetzten Pfaden, welche sich immer wieder im Dickicht verloren und an anderen Stellen weiter gingen.
Nicht umsonst nannte man diesen Wald Spinnenwald, seine Bäume waren wie ein Labyrinth und einmal hinein gegangen, konnten nur die wenigsten ihn wieder heil verlassen. Wie ein Insekt in einem Spinnennetz.
Doch das dürre Mädchen lief nicht das erste Mal diese Strecke, auch wenn sie heute einen Umweg genommen hatte.
Unauffällige Spuren wie abgeschabte Rinde oder seltsam geformtes Moos waren wie Wegweiser für sie angebracht worden und geleiteten sie sicher zu einer kleinen Lichtung.
»Mondschein!«
Ein großer und edler Hirsch schritt auf sie zu und sein warmer Atem bewegte ihr dünnes, schneeweißes Haar ein wenig.
»Unruhe und Sorge kehrte hier ein, denn du warst länger fort, als die letzten Male. Ist etwas vorgefallen?«
Ein freudiges Lächeln zierte nun ihre schmalen Lippen und sie rang kurz den Kopf. »Aber nein, Tralyphes. Nichts ist passiert, alles war wie üblich, aber heute bin ich einen anderen Weg gegangen. Die Spuren waren dort schon verblasst, deshalb hat es etwas länger gedauert...«,schilderte sie ein wenig außer Atem und hopste neben dem anmutigen Tier her, welches sie zielstrebig zu einer niedrigen Höhle führte. Sie war bewachsen mit Moos und wenn man nicht genaustens hin sah, konnte man sie nicht von dem üppigen Gras rund herum unterscheiden.
»Das leuchtet mir ein, aber was hat dich veranlagt, dieses Risiko einzunehmen?«
Wortlos hielt sie den Korb in die Höhe und der Hirsch bemerkte die vielen Waldbeeren, welche ihn bis zum Rand füllten, woraufhin er anerkennend den Kopf neigte.
»Ein wunderbares Geschenk zur Ehren des edlen Wesens, welches heute das Licht der Welt erblicken wird...« Er beobachtete das Mädchen, wie es sich geschickt durch den schmalen Spalt in die Höhle zwängte und sich andächtig vor das dort liegende kniete.
Seit Tralyphes und seine Herde sie aus den Fängen eines Adlers befreit hatten, kümmerte sie sich um das Ei und bewahrte es vor Übeln wie Schlangen oder Vögeln.
Umso gespannter war sie darauf, dem Küken endlich einmal gegenüber treten zu können. Hoffentlich würde sie sich gut mit ihm verstehen...
Zusammen mit Tralyphes wartete sie vor der Höhle darauf, dass die Nacht herein brach und das Licht der Abendsonne dem des fahlen Mondes wich. Der letzte Sonnenstrahl ließ Tralyphes' Augen funkeln und er wandte sich Mondschein zu:
»Es ist soweit, Mondschein. Die Nacht ist eingebrochen und das Licht der Planeten erstrahlt.«
Mondschein sprang sofort auf, nickte eilig und schlüpfte wieder in die Höhle, um das kleine Ei behutsam in den Arm zu nehmen. Sie spürte, wie ihre Arme vor Aufregung zitterten, als sie das Ei zu einem Nest brachte, welches sich in der Mitte der Lichtung befand und auf das ununterbrochen das bläuliche Licht fiel.
Alle Rehe scharten sich um das Nest und die Kitze lugten neugierig zwischen den Beinen ihrer Mütter hindurch, auf das schimmernde Phönixei.
Seit sie hier war, war dies nun schon das zwölfte Mal, dass es Jungen gab, hatte Mondschein mitgezählt.
Sie bewunderte Tralyphes dafür, dass er mitansehen konnte, wie die Kitze heranwuchsen, selbst eine Geburt ausführten und schließlich friedlich einschliefen.
Der Hirsch schien nicht zu altern, oder zumindest nur sehr langsam, ähnlich, wie es auch bei Mondschein der Fall war. Sie war nur knapp eine Daunenfeder größer als bei ihrer ersten Begegnung mit der Herde.
Nun zitterte sie vor Aufregung und konnte nicht still sitzen.
Das Ei bewegte sich nach langer Zeit, die für Mondschein wie im Flug vergangen war und die ersten Risse bildeten sich an der glatten Oberfläche.
Gespannt beobachteten alle, wie sich die Risse verbreiteten und das ganze Ei bedeckten, welches schließlich auseinander brach und den Blick auf ein kleines, graues Küken mit flauschigem Gefieder freigab.
Langsam erhob Mondschein sich und blickte kurz zu Tralyphes, welcher ihr ein warmes Lächeln schenkte und knapp nickte. Andächtig bewegte sich das Mädchen auf das Küken zu und blickte in dessen große, leuchtend gelbe Augen. Als sie sich hin kniete, trippelte der kleine Vogel ohne Scheu auf sie zu und kletterte auf ihren Schoß.
»Hallo mein Kleiner, Willkomen in der Welt, ähm...« Nachdenklich sah sie zum Nachthimmel empor. »Merkur!«

Ein ungewohntes Rauschen und ein kühler Luftzug ließen Merkur erwachen, welcher ratlos den Kopf hob und seinen Blick über die Baumwipfel bis hinunter zu der kleinen Lichtung schweifen ließ.
Seine brennenden Federn tanzten im Wind, als er elegant von seinem Baum herab auf eine kleine Gestalt zuflog.
»Was machst du da, schon so früh am Morgen?«,fragte der Phönix mit schiefgelegtem Kopf, kaum war er am Boden angelangt.
Mondschein hatte ihn nicht bemerkt und zuckte überrascht zusammen, ja, fiel sogar vor Schreck um.
»Merkur! Entschuldige, habe ich dich geweckt? Das war nicht meine Absicht, wirklich...« Bedauernd sah sie zu Boden und der Vogel musste leise lachen, ehe er antworten konnte: »Alles ist gut, Mondschein. Aber bei was habe ich dich gerade unterbrochen? Übst du wieder mit deinen Kräften?«
Seufzend setzte sich das Mädchen im Schneidersitz in das kühle Gras und musterte Merkur bedrückt. Seine großen, leuchtend gelbe Augen, die sanfte Aura und die Neugierde... Nichts an ihm hatte sich geändert.
»Du hast mich ertappt...«,wisperte sie verlegen und zupfte ein paar Grashalme heraus.
»Klappt es nicht so gut?«,erkundigte Merkur sich vorsichtig und trat noch einen Schritt nach vorn.
Mondschein antwortete mit einem missmutigen Kopfschütteln und schoss genervt die Augen.
»Aber kein Wunder, ich bin ja auch nur eine Halbelfe. Was erwarte ich schon? Kein Wunder, dass meine Familie mich zurückgelassen hat.«
Merkur flatterte empört mit den Schwingen und legte seinen Kopf tröstend in ihren Schoß.
»Oh Mondschein, sag doch soetwas nicht. Ich bin sicher, deine Kräfte werden sich noch richtig entfalten, aber lass ihnen Zeit. Selbst der schönste Schmetterling war anfangs eine kleine Raupe.«
Ein Lächeln huschte über ihr blasses Gesicht und sie strich ihm über den Schnabel, was den Phönix einen Laut, ähnlich dem Schnurren einer Katze ausstoßen ließ.
»Ich danke dir, Merkur... Wollen wir erstmal zur Herde zurück kehren?«
Der Vogel nickte zustimmend.

Tralyphes und seine Herde hießen die beiden herzlich Willkommen und gingen mit ihnen zu den Silberspiegeln, einigen großen Seen mitten im Spinnenwald. Der Hirsch erkundigte sich nicht dem Verlauf des Ausflugs und Mondschein erzählte ihm alles bis auf das kleinste Detail.
Doch Merkur, der sonst immer gerne mitredete, war heute ungewöhnlich still und starrte stumm auf die glatte Wasseroberfläche, auf der sich die Sterne wiederspiegelten, was ihnen auch ihren Namen gegeben hatte.
»Merkur...? Ist etwas?«,fragte Mondschein besorgt und setzte sich neben ihren Freund, Sorge lag in ihren tiefblauen Augen.
»Ich denke darüber schon eine ganze Zeit nach und ich bin zu keinem sinnigen Schluss gekommen... Wo ist meine Familie? Natürlich liebe ich dich, Tralyphes und die Herde über alles, aber dennoch...«
Die ruhige und schier allwissende Stimme Tralyphes' durchschnitt das bekümmerte Schweigen: »Irgendwann, das war mir gewiss, würdest du danach fragen, Merkur. Und ich gab deiner Mutter das Versprechen, wenn dieser Tag kommen würde, werde ich es dir erzählen...«
Mondschein lauschte der Geschichte mindestens genauso aufmerksam wie Merkur selbst. Als der Hirsch geendet hatte, schwieg sie betroffen.
Sie war Diana noch nie begegnet, ihr Besuch war noch gewesen, bevor sie von der Herde aufgelesen worden war.
»Gibt es noch andere? Hat nicht wenigstens einer überlebt?«, fragte Merkur voller Kummer.
»Erzählungen nach, sollen die Phönixe bei den Menschen gequält aber keinesfalls umgebracht werden. Natürlich weiß ich nicht, ob man diesen Gerüchten Glauben schenken kann, aber-«
»Bitte lass es mich überprüfen!«
Mondschein schreckte hoch und sah ihren Freund entgeistert an, den Mund vor Schock leicht geöffnet.
»A-aber Merkur! Wir reden hier von Menschen. Abscheuliche Kreaturen, die aus lauter Gier ganze Wälder in Brand stecken. Das ist zu gefährlich! Du solltest...«
Sie wurde leiser und verstummte schließlich komplett. Genau genommen hätte sie nicht das Recht, so über Menschen herzuziehen, schließlich war sie zur Hälfte selbst einer.
»Lieber gehe ich diese Gefahr ein, anstatt dass ich hier bleibe und mich feige verstecke, während meine Artgenossen gequält werden... Bitte lass mich gehen, Tralyphes!«
Der Hirsch neigte den Kopf hin und her und ein unergründlicher Ausdruck legte sich auf sein weises Gesicht, als er nachfragte:
»Du bist dir im Klaren darüber, was dir wiederfahren könnte?«
»Das bin ich.«
»Und dennoch willst du der Gefahr trotzen und nach den anderen suchen?«
»Ja, das möchte ich.«
Für einen kurzen Moment schlossen sich Tralyphes' Augen und als er sie wieder öffnete, lächelte er matt.
»Ich werde dich nicht aufhalten und dich ziehen lassen, doch sei gewarnt. Die Reise bis zum Tal der Menschen, die dein eigen Fleisch und Blut gefangen halten ist lang und beschwerlich. Außerdem hat niemand aus dieser Herde, mich leider eingeschlossen, diese Reise je beschritten. Als erstes wirst du eine Karte finden müssen.«
Merkur nickte verstehend und Mondschein merkte, wie er vor Abspannung und Aufregung zitterte. »Moment!«,warf sie plötzlich ein und hob beide Hände, sodass Merkurs und Tralyphes' Blick nun auf ihr ruhten.
»Du willst das wirklich machen, Merkur?« Der Phönix nickte leicht und sah sie entschuldigend an.
Die Halbelfe fasste sich ein Herz, holte tief Luft und verkündete ihren Beschluss mit leicht zitternder Stimme: »Ich komme mit. Allein ist das viel zu gefährlich und außerdem kenne ich mich mehr mit Menschen aus als ihr. Ich könnte Essen sammeln, mit Fremden sprechen und Karten und Bücher lesen. Magie kann ich auch benutzen, zumindest bald...«
»Mondschein, nein... Das ist-«
»Ich lasse dich nicht allein! Das habe ich noch nie getan und damit will ich auch gar nicht erst anfangen!«
Entschlossen funkelte sie den Phönix an und diesem blieb nichts anderes übrig, als zu Nicken.
»Also gut, wenn das dein Wunsch ist...«
Tralyphes stampfte leicht mit einem Huf, um so wieder die Aufmerksamkeit der beiden zu erlangen. »So sei es, nun folgt mir. Ich werde euch aus dem Spinnenwald führen, bis hin, zur Wüstenstadt. Von dort aus, werdet ihr allein euren Weg beschreiten müssen.«

Der Weg durch den dichten Wald war erschwerlich und als Mondscheins dürre Beine irgendwann nachgaben, trug Merkur sie auf seinem Rücken weiter. »Wir haben unser Ziel erreicht, dies ist die Grenze des Spinnenwaldes. Von hier aus werdet ihr auf euch allein gestellt sein, lebt wohl, ihr beiden...« Zärtlich berührte er Mondscheins und Merkurs Stirn mit seiner Schnauze und verschwand dann im Wald, dessen Schatten ihn schon bald verschluckten.
Merkurs Blick glitt über die niedrigen Felsen, welche eine Art Grenze bildeten, hinter der sich eine Wüste auftat. Ein steiniger Weg führte mitten in die Wüste hinein, aber der Vogel konnte nicht erkennen, wo der Weg endete.
Doch fürs erste legte er sich unter eine hohe Fichte und legte den Flügel schützend über Mondschein. Morgen früh würden sie aufbrechen...
An diesem Gedanken hielt er sich fest, ehe in der Schlaf übermannte und ins Reich der Träume schickte.

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