Zwölftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Entspannte Geschlechtsteile
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Das Thema, dass mir und meiner Gruppe zugewiesen wird, ist die DNS. Der chemische Aufbau, die Basenfolge, die Proteinbiosynthese und die Enzyme. Das ganze Programm.
Als ich die Liste mit den Aufgabenbereichen, die unsere Ausarbeitung abdecken soll, sehe, runzle ich unwillkürlich die Stirn. Scheinbar fährt Frau Eiber dieses Jahr die Schiene »Gruppenarbeit statt Unterricht«, oder aber sie plant, den gesamten Stoff von den Schülern erläutert zu bekommen, bevor sie selbst eigentlich diese Schüler unterrichtet hat. In jedem Fall erschließt sich mir keine Logik.
Chris räuspert sich sofort, als wir in die Gruppen zusammengehen, um den weiteren Verlauf zu diskutieren. »Ich würde sagen, wir machen das Referat so bald es geht. Die Vorbereitungen, Kopien, die Präsentation und alles schaffen wir sowieso nicht an einem Tag. Aber wir haben diese Woche viel Zeit, noch ist ja prüfungsfreie Zeit. Wie wärs, wenn wir uns also gleich diese Woche treffen?«
Ich stimme nickend zu. Sie hat definitiv recht – es ist klug, die Arbeit jetzt zu erledigen und später davon zu zehren, anstatt irgendwann zwischen allen Klausuren, wo sowieso kaum Zeit und Kopf für ein Fach wie Bio bleibt, etwas an den Haaren herbei zu ziehen.
»Wie wärs, wenn wir uns gleich heute Nachmittag treffen? Wir haben ja heute keinen Nachmittagsunterricht. Wir könnten uns in die Bibliothek setzen«, fügt Nash hinzu. »Und es gibt Computer und einen Drucker.«
Wir stimmen uns ab, uns um zwei Uhr in der Bibliothek zu treffen, womit jeder einverstanden ist. Als ich einen Blick ins Levins Richtung werfe, wo ich mich die ganze Zeit nicht getraut habe, hinzuschauen, merke ich, dass er die Augen geschlossen und das Kinn auf die Hand gestützt hat. Na super. Ist der Kerl allen Ernstes eingepennt?
* * *
Pünktlich um kurz vor zwei Uhr erscheine ich in der Bibliothek. Nash ist bereits da, als einziger, und tippt etwas in den Computer ein. Tatsächlich ist das Heinrich-Heine-Gymnasium, was Technik angeht, nicht wirklich auf dem neuesten Stand. Eher auf einem neolithischen Stand, denn die PCs stammen wahrscheinlich noch aus den Neunzigern.
»Hi«, sagt Nash, ohne aufzusehen.
»Hi«, sage ich genauso monoton und lasse meinen Rucksack auf den Tisch fallen. Ich setze mich und sehe mich um. Wir sind alleine, bis auf die Bibliotheksaufseherin.
Nacheinander treffen langsam auch Chris, Kiki und Alex ein. Chris bindet sich die Haare hoch, während Kiki demonstrativ den Kaugummi von einer Seite ihrer Backe zur anderen.
»Okay«, beginne ich um zehn nach zwei, als niemand etwas sagt. Irgendwer muss schließlich beginnen. »Wir sind zwar noch nicht vollzählig, aber es sind jetzt schon zehn Minuten vergangen...«
Es ärgert mich ein bisschen, wenn Leute nicht pünktlich zu einem Gruppentreffen kommen. Außerdem habe ich sowieso keine Lust auf Bio. Und irgendwie nervt es mich, dass Levin auch zu spät kommt.
Gerade, als ich mich wieder räuspere, fliegt die Türe auf. Seinen dunklen Haarschopf erkenne ich sofort. Levin kommt herein. Er trägt eine dieser Mützen, die über dem Ohr aufhören, und einen riesigen Pullover. Anders als das erste Mal, als wir uns gesehen haben, trägt er keine roten Shorts, sondern weite Blue Jeans.
Mit einem lauten Rums lässt er seinen Rucksack in die Mitte des Tisches fallen und pflanzt sich auf einen freien Stuhl. »Was hab ich verpasst?«
»Nichts«, sage ich spitz. Levin schnauft, scheinbar ist er außer Atem. »Und du? Wieso bist du so außer Atem? Vor deinem Niveau davon gerannt?«
»Ha, ha«, macht Levin und wirft mir ein gefälschtes Lächeln zu, das trotzdem seine tiefen Grübchen zeigt. »Immerhin sehe ich meines regelmäßig, im Gegensatz zu dir.«
Ich sage nichts, sondern werfe einen Blick in die Runde. Niemanden scheint unser kurzer Disput zu kümmern. Kiki feilt sich gerade die Fingernägel.
Chris räuspert sich schließlich und beginnt zu reden: »Okay, dann lasst uns loslegen. Ich würde sagen: Zwei kümmern sich um die Recherche, einer macht die Powerpoint, einer macht das Handout und... dann bleibt noch einer für Kaffee übrig.«
Nash rümpft die Nase. »Ernsthaft? Wofür brauchen wir bitte Kaffee?«
Chris zieht eine Braue hoch. »Ich gehe davon aus, dass du als Warmduscher vermutlich einen Milchkaffee trinkst«, sagt sie hochnäsig. »Jedenfalls brauche ich meine tägliche Koffeinration.«
Ich rolle die Augen und werfe die Stiftkapsel, die vor mir herrenlos herum kullert, einige Zentimeter von mir. Levins Augen wandert mit der Bewegung der Hülse. Scheinbar ist er genauso gelangweilt, wie ich.
»Entspann dich«, murmelt Levin zu Chris.
»Du hast hier gar nichts zu sagen, Hartmann«, faucht diese jedoch. »Du bist der Neue.«
Ich schüttle den Kopf und beschließe, auch dazwischen zu gehen. »Gott, Chris, bitte entspann dich mal! Niemand hat dich als Chefin des Projekts erteilt!«
Chris murrt vor sich hin. »Ich bin entspannt. Du bist jawohl eher die, die mal dringend eine Entspannung benötigt. Oder hast du keinen Typen, der sich drum kümmert? Ach ja, du bist ja die gruuuselige Mila. Hab ich doch glatt kurz vergessen.«
Als ich das höre, ist es, als würde mir jemand einen Kübel Wasser ins Gesicht spritzen. Aus meiner ersten Intuition heraus will ich Chris einfach eine scheuern, aber das mache ich nicht. Natürlich nicht. Stattdessen sitze ich mit einem so ausdruckslosen Gesicht wie nur irgend möglich da und sehe sie an.
»Okay, Chris, bitte-«, fährt Levin dazwischen und setzt sich auf, jetzt, wo es gerade spannend wird.
»Halt du dich da raus«, faucht Chris.
»Wieso? Ich darf meine Meinung kundgeben, es nennt sich freies Land und Staatsverfassung!«, faucht Levin und fährt sich durch die Haare.
Ich werfe ihm einen Blick zu und hoffe stumm, dass er irgendwie telepathisch bewandert ist. Sei einfach still, murmle ich in Gedanken.
»Danke Levin, aber ich glaube, unsere Mila kann ihre Kämpfe schon selbst austragen«, sagt Chris ironisch und wirft mir ein teuflisches Lächeln zu. »Nicht wahr, Emilia?«
So eine bescheuerte, doofe Kuh!
»Emanzipierte Frauen brauchen keinen Typen, um sich zu entspannen. Nachdem du offensichtlich nicht zu jeder Sorte gehörst, scheinst du wohl single zu sein, so unentspannt wie du bist«, schnaube ich süffisant.
Ich kann förmlich sehen, wie es hinter Chris' Stirn rattert. Dann scheint ihr aber ein Licht aufzugehen.
»Du kleine Bitch«, ist das Einzige, was ihr dazu einfällt.
Ich lasse das unkommentiert, denn ganz offensichtlich hat sie diesen Kampf nicht gewonnen.
Levin sieht mich mit zusammengezogenen Brauen an. »Können wir jetzt anfangen oder hat noch jemand etwas beizusteuern?«
Er blickt sich in der Runde um, doch niemand hat etwas dagegen einzuwenden.
* * *
Vier Stunden später sind wir fertig. Ich bin mit den Nerven ganz schön durch - Chris' Kommentare haben sich nämlich in den letzten Stunden an Gehalt nicht gebessert. Es kostet mich sehr viel Kraft, ihr nicht ins Gesicht zu brüllen, was für eine gemeine, dumme Kuh sie doch ist, aber das würde nicht im Mindesten artikulieren, wie sehr sie mich getroffen hat.
Ja, ich bin unentspannt. Und woran liegt das? Daran, dass ich Streit mit meiner sogenannten besten Freundin habe - zumindest ist die Situation zwischen uns nach wie vor komisch und angespannt - und daran, dass mein Leben, seitdem Levin darin eine Rolle spielt, so ... anders geworden ist. Irgendwie ... ja, irgendwie aufregend.
Die Powerpointpräsentation ist doppelt abgespeichert, die Recherchen sind abgeschlossen und fünfundzwanzig Kopien des Handouts stecken in Nashs Schultasche. Das Whiteboard ist mit Levins unleserlichen Kritzelei überfüllt und ich habe aus lauter Langweile die Bücher in den Regalen richtig sortiert.
Wir sind alle ziemlich fertig mit den Nerven, als wir nach einander die Bibliothek verlassen und Nash als Schlusslicht das Licht löscht und die Türe hinter sich ins Schloss fallen lässt.
»Ich will nur noch ins Bett«, stöhne ich und massiere meine schmerzenden Schläfen. Wenn ich daran denke, dass ich jetzt noch mit dem überfüllten Bus nach Hause fahren muss... Mein Kopf wummert unablässig.
Alex, der während der ganzen Gruppenarbeit nicht viel geredet hat, sieht mich schräg von der Seite an.
»Was denn?«, frage ich etwas patziger als beabsichtigt.
»Nichts. Ich habe mich nur gefragt, warum alle dich eigentlich so geheimnisvoll und gruselig finden«, sagt er schulterzuckend. Aus den Augenwinkeln registriere ich, dass sowohl Chris, als auch Levin die Ohren spitzen und zu uns sehen.
Ich zucke mit den Schultern. »Die Menschen haben Angst vor dir, wenn du plötzlich beginnst, die Welt auf eine andere Art uns Weise wahrnimmst.«
Alex hebt eine Braue. »Ach ja?«
Ich nicke. Aber ich sage nichts mehr, weil ich nicht darüber reden will. Es hängt mit dem Unfall meines Vaters zusammen, und darüber will ich sicher nicht mit jemandem reden, den ich so gut wie gar nicht kenne.
Ich zerknülle das Schmierpapier in meiner Hand und werfe den Ball im Nowitzki-Stil in den Mülleimer. Apropos Nowitzki - wann ist eigentlich das nächste Spiel der Hamburger Raben?
Allerdings bietet sich mir nicht die Gelegenheit, die Frage zu stellen, weil sich Chris, Alex und Nash bereits verabschieden. Ich zucke mit den Schultern.
»Ciao, Leute, es war mir ein Volksfest«, sage ich so empathisch wie möglich.
»Tschüss«, sagt Levin rau.
Damit trennen sich unsere Wege, denn er geht zu den Fahrradständern und ich gehe zum Bus. Noch während ich zur Station gehe, stöpsle ich mir die Kopfhörer in die Ohren und lausche Coldplay.
Während ich im Wartehäuschen meine Zeit absitze, beobachte ich eine alte Frau, die mit einigen Plastiksäcken aus dem Supermarkt kommt und diese tetrisartig auf ihrem Rollator parkt. Etwas weiter unten auf der Straße kläffen sich zwei Hunde an. Der eine ist ein Dackel, der andere ein Schäferhund.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Es sind doch locker schon fünf Minuten vergangen - wo bleibt dieser bescheuerte Bus denn? Gibt es etwa schon wieder eine Störung, sodass der Betrieb nur alle heiligen Zeiten stattfinden kann?
Ich seufze. Meine Möglichkeiten sind reichlich begrenzt. Ich könnte zu Fuß gehen. Vielleicht ist Flo gerade in der Gegend und nimmt mich in seiner Karre mit. Das Auto, das er zu seinem zwanzigsten Geburtstag bekommen hat, ist echt der letzte Scheiß. Erst zwei Monate in seinem Besitz und schon dreimal in der Werkstatt gewesen.
Seufzend krame ich mein Handy hervor und wähle Flos Nummer, ehe ich mir das Telefon ans Ohr halte. Es tutet einige Male, doch gerade, als ich schon auflegen will, nimmt Flo den Hörer ab.
»Hallo?«, schnauft er in die Leitung.
»Läufst du grad einen Marathon?«, frage ich sarkastisch. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich Flo das letzte Mal außer Atem erlebt habe. Es ist wie ein achtes Weltwunder - seine Fitness ist nämlich normalerweise das, womit er sich bis zum Geht-Nicht-Mehr brüstet.
»Witzig«, mault er genervt. »Was willst du, Schwesterherz?«
»Kannst du mich abholen? Der Bus kommt schon wieder nicht«, maule ich in den Hörer. »Sonst muss ich den ganzen Weg laufen...«
Flo sagt ein paar Momente lang nichts.
»Komm schon, Flo...«, bettle ich. »Du kannst auch deine Neue mitnehmen. Wie heißt sie nochmal? Kenya?«
Kaya heißt sie, und das weiß ich genau. Aber ich will Flo ein bisschen ärgern.
»Sie ist nicht meine »Neue«, und du weißt ganz genau, dass Levins Schwester Kaya heißt«, sagt Flo ruhig. An seiner Stimmlage erkenne ich, dass er wütend ist. Na toll - jetzt habe ich mich auch noch selbst ins Out geschossen.
Ich seufze. »Kommst du mich jetzt abholen? Ich würde auch den Geschirrspüler für dich die ganze Woche ausräumen!«
»Was denkst du denn? Frag du doch deinen Neuen, ob er dich mitnimmt«, knurrt Flo ins Handy. »Außerdem sind es nur drei Kilometer nach Hause. Ein bisschen Bewegung hat noch niemandem geschadet.« Und mit diesen Worten legt er auf.
»Super«, murmle ich die tote Leitung an. Aber natürlich ist Flo längst weg - und mir bleibt nur eine Lösung: Ich werde einfach nach Hause gehen. Auch wenn ich hundemüde bin und die Migräne meine Sicht killt.
Tatsächlich schlendere ich gerade los, als jemand mir mit etwas Abstand einige Meter folgt. Ich sehe zur Seite. Levin sitzt auf seinem Fahrrad und folgt mir mit einem hämischen Grinsen.
»Was willst du denn schon wieder von mir? Verfolgst du mich?!«, frage ich alarmierter als beabsichtigt.
Levin schneidet eine Grimasse. »Oh Shit, du hast mich erwischt, bitte nicht die Polizei rufen«, quengelt er und rollt die Augen, die mir wie zwei kühle Saphire entgegen starren. Seine Haare sind vom Wind zerzaust, was ihm einen draufgängerischen Touch verleiht. Jetzt noch ein Baseball-Cap, und er wäre der coolste Teenie auf dem Disney-Channel.
»Sorry«, antwortet Levin. Als ob das irgendwas erklären würde.
»Lass mich einfach«, murmle ich. Ich will nicht reden. Ich will eigentlich gerade die ganze Welt einfach nur auf Stumm schalten.
»Dich zu Tode trauern?«, fragt Levin provokant. Ich verenge die Augen. Findet er das etwa lustig?
»Geh bitte wen anderen ärgern«, fauche ich.
»Ich würde dir ja anbieten, dich ein Stück auf meinem Gepäckträger mitzunehmen, aber du würdest es wahrscheinlich sowieso ablehnen...«, beginnt Levin mit der Stimme eines Unschuldslammes.
»Da hast du ausnahmsweise mal recht«, murmle ich. Auch wenn der Gedanke, nach Hause chauffiert zu werden, irgendwie etwas Verlockendes an sich hat. Wenn auch der Gepäckträger nicht gerade verlockend aussieht, mit all diesen Drahtstücken.
»Rein theoretisch«, sage ich, »was würdest du dafür wollen? Ich gehe mal nicht davon aus, dass du das rein aus Gefälligkeiten machen würdest.« Ich bleibe stehen. Er könnte mich ja vielleicht einfach ein ganz kleines Stück mitnehmen...
Levin blickt mich prüfend an. Ich will schon weitergehen, weil nichts mehr zu kommen scheint, als er ruhig und leise sagt: »Ich will, dass du dir das mit Oliver noch einmal überlegst. Willst du wirklich was von ihm? Empfindest du wirklich etwas für ihn? Und willst du wirklich, dass ich dir da helfe?«
Ich verschlucke mich beinahe an meiner eigenen Spucke. Ich habe mit wirklich viel gerechnet - aber nicht damit.
»Ja«, sage ich, ohne groß darüber nachgedacht zu haben. »Ja, will ich.«
Ich weiß nicht, was ich will. Der größte Teil meines Inneren ist einfach nur verwirrt.
»Darf ich jetzt aufsteigen?«, frage ich nervös.
»Oh, das kannst du bei mir immer«, lachte Levin, wobei sich wieder seine tiefen Grübchen zeigen. Ich rolle die Augen.
»Du... du...« Aber mir fällt nicht einmal irgendwas ein, was passend wäre.
»Steig einfach auf, Mila«, sagt Levin kopfschüttelnd. Ich seufze und komme der Aufforderung nach. Vorsichtig platziere ich meine Finger auf seiner Hüfte. Irgendwie ist es komisch, aber es gefällt mir.
Am Abend liege ich lange wach im Bett und denke nach. Diese Szene am Fahrrad spielt sich wie eine unendliche Sequenz vor meinem inneren Auge ab. Was meint Levin damit - dass ich es mir noch einmal überlegen soll, ob ich wirklich etwas von Oli will? Schließlich gibt es einen Plan und dieser Plan ist der Grund, wieso Levin und ich etwas mit einander zutun haben. Oder?
Aber auf der anderen Seite... Ich weiß, dass ich es mir nicht recht eingestehen will - aber die Gefühle für Oli wirken irgendwie... anders, als früher. So... technisch.
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass Levin jetzt in mein Leben getreten ist. Und das macht mir Angst. Es fühlt sich so an, als hätte ich eine Oberfläche erreicht und nach Luft geschnappt - das erste Mal in meinem Leben. Und jetzt will ich es nie wieder anders.
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