Zwanzigstes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel
Gemeinsamkeiten ziehen sich aus

____________________________________


Was die meisten Menschen antreibst, ist die Trauer. Wut. Ärger.

Was mich antreibt ist die Angst, nicht gut genug zu sein. Es ist eine dumme Angst. Jede Angst ist dumm. Aber diese ganz besonders. Denn wenn ich rational darüber nachdenke, weiß ich, dass ich vor gar niemandem Angst haben muss. Aber in den Momenten, in denen mich diese Angst überkommt, denke ich nicht rational.

Die nächste Woche vergeht rasch, sie fliegt beinahe an mir vorbei. Ich denke viel nach. Ich denke darüber nach, ob ich mit Merle reden soll. Ob ich die Karten auf den Tisch legen soll und ihr sagen soll, dass ich Oliver eigentlich nicht ausstehen kann und dass ich Levin sehr mag. Dass ich in der Trauer um meinen Vater versinke und dass wir uns entfernt haben, obwohl ich sie nahe bei mir haben will.

Wir schreiben eine Klausur in Mathe, was mich irgendwie aus diesen Strudel der Gefühle herauszieht. Ich mag Mathe. Ich mag Zahlen. Sie sind ehrlich. Schwarz auf weiß steht das Ergebnis da und entweder es stimmt, oder es stimmt eben nicht. Es gibt nur ja oder nein, kein vielleicht, kein möglicherweise.

Wieso kann das Leben nicht auch so sein?

Am Samstagabend steigt bei Oliver eine Party und natürlich darf Merle da nicht fehlen. Und ehrlich gesagt ist mir sogar ein bisschen nach Party. Trinken, Essen, gemeinsam lachen und Erinnerungsfotos mit unserer geistigen Kamera einfangen.

Und ich weiß, dass Levin auch kommt. Vielleicht ist das der Grund, wieso ich hinwill.

Um acht Uhr stehe ich also vor Merles riesiger Villa. Der Türknauf wird vom Kopf eines Löwens gehalten, eine hübsche Gravur. Das schwarze Ebenholz bildet einen hübschen Kontrast zum rein weißen Putz.

Ich höre die aufgeregten Fußtritte von Merle, die kurz darauf die Türe aufreißt und mich in eine herzhafte Umarmung zieht.

»Da bist du ja!«, ruft sie begeistert. »Komm rein! Ich mache mich noch schnell fertig, dann können wir los.«

Ich bin schon so oft hier gewesen, dass ich mich beinahe so gut auskenne, wie zuhause. Merles und meine Freundschaft geht weit in die Vergangenheit zurück, zurück in eine Zeit, in der wir beide keine Freunde hatten. Sie, weil die meisten Kinder Angst vor ihr hatten, weil ihr Vater in einer Serie einen Serienmörder gespielt hat, und ich, weil ich immer schon ruhig und eher kontaktscheu gewesen war. Und so waren wir irgendwie für einander da gewesen und hatten alles mit einander erlebt.

Ich will sie nicht verlieren. Sie würde verstehen, was mit mir los ist. Sie versteht mich doch immer.

Als ich in ihr Zimmer komme, sehe ich, wie Merle sich gerade große Kreolen an die Ohren steckt. Wir sind wirklich sehr unterschiedlich gekleidet, denn während ich mit einer zerschlissenen Jeans, einem lockeren T-Shirt, ausgefransten Vans und einer Jeansjacke herumlaufe, trägt sie Netzstrümpfe und ein kurzes, enges Kleid. Was ihre Intentionen sind, könnte sogar ein Blinder sehen.

»Freust du dich schon? Das wird garantiert die Party des Jahres!«, quiekt Merle begeistert und malt sich die Lippen mit einem dunklen Lippenstift nach. Ich finde, dass ich eigentlich ziemlich aufgebrezelt bin, denn heute erstrahlen meine Augen von einem dunkel getuschten Wimpernkranz umrahmt und nicht so fahl wie sonst.

»Mhm«, mache ich.

Merle rollt die Augen und stößt mir mit dem Ellbogen sanft, aber bestimmt, in die Seite.

»Au, wofür war der denn?«

»Du trägst doch irgendwas mit dir herum, das sehe ich genau. Ist es wegen Oliver? Erwartest du dir ein Zeichen von ihm? Denn wenn es das ist, dann hast du heute sicher gute Chancen. Früher später werden wir irgendein Trinkspiel spielen und dann ...«

Ich schüttle rasch den Kopf und unterbreche sie, bevor sie weitersprechen kann. »Nein. Nein, das ist es nicht. - Es ist nichts.«

Sie zieht die Brauen zusammen und mustert mich und meine verkrampfte Haltung im Spiegel, sagt aber nichts.

* * *

»Wohin müssen wir eigentlich?«

Ich bin schließlich noch nie bei Oliver gewesen, wie mir gerade auffällt. Ich kann mir gut vorstellen, dass er auch in einer großen Villa in Altona wohnt, aber ich kann mir genauso gut vorstellen, dass er irgendwo in Eimsbüttel in einem hübschen Einfamilienhaus mit Pool und Sauna wohnt.

Merle und ich gehen schon eine ganze Weile durch die dunklen Gassen Hamburgs und reden über belangloses Zeug, wie Harry Styles' letzte Single oder die Tatsache, dass Babys süß sind. (Was ich nicht finde.)

»Wir sind bald da«, meint Merle und nickt zu einem stattlichen Wohnhaus. Es müsste der dritte Stock sein, vielleicht auch der zweite, in dem die Lichter hell brennen und leise Partymusik zu uns nach draußen dringt.

»Oliver wohnt in einer Wohnung in Harvestehude?«, frage ich ungläubig. Ich kenne absolut niemanden, der sich das leisten kann.

Merle nickt. »Seine Eltern haben Kohle.«

Ich schlucke. Ich bin eigentlich mit unserer kleinen Wohnung in Altona sehr zufrieden; ich habe mein Reich, klein aber fein, keiner hat Zutritt und mit den alten Vinylscheiben, den dicken Wälzern und Papas Holzfällerhemden habe ich zumindest das Gefühl, in Sicherheit zu sein.

Das Eingangstor steht offen, als wir unten durch den torartigen Eingang gehen. Wir treten in ein marmorbelassenes Stiegenhaus, dessen Wände in einem hübschen cremeweiß gestrichen sind. Man riecht noch die Frische der Farbe, lange kann hier also noch nicht ausgemalt sein.

Wir müssen bloß der Musik folgen, dann wissen wir, wo wir lang müssen. Bereits im Stiegenhaus riecht man den Alkohol und den Zigarettenrauch, und als wir klingeln, wird die Türe aufgerissen und der Lärm dringt endgültig zu uns durch.

»Guten Abenddd Ladiiesss'«, gluckst ein besoffener Typ und stiert Merle ganz ohne Genier an. Ich rolle die Augen und dränge mich an ihm vorbei.

»Pisser«, murmle ich und scanne mit den Augen die Menge nach einem bekannten Gesicht ab.

Die Lage ist nicht viel anders als auf meinen letzten Partys: Viele Leute, stickige Luft, laute Musik und es mieft nach Teenagern, die sich betrinken wollen, um rumzumachen, weil high on life nicht reicht.

»Komm«, sagt Merle und zieht mich grinsend tiefer ins Innere der Wohnung. Sie wippt mit den Hüften zum Takt der Musik, was sie zugegebenermaßen sehr gut kann. Mein Taktgefühl lässt dahingehend eher zu wünschen übrig.

»Tanzen?«, fragt Merle. Sie beugt sich zu mir und muss beinahe schreien, denn hier im Wohnzimmer ist die Musik richtig laut.

Ich schüttle den Kopf. Mir ist nicht danach, meinen Körper an anderen schwitzenden Teens zu reiben.

»Sollten wir nicht eher, äh ... Oli suchen und uns für die Einladung bedanken?«

Merle setzt gerade zu einer Antwort an, doch da packt eine starke Hand sie an der Taille und wirbelt sie herum - Jules. Und ab diesem Moment ist sie in einer ganz anderen Welt, das weiß ich, weshalb ich mich aus dem Staub mache und in den nächstbesten Raum gehe, der sich als Küche entpuppt. Sich etwas zu trinken zu holen ist sowieso keine schlechte Idee.

Die große Kücheninsel in der Mitte sieht wie ein rettender Fels in der Brandung aus. Der schwarze Stein glänzt, die gesamte Einrichtung ist in einem rustikalen Industrial-Style gehalten. Eigentlich sehr hübsch, aber etwas unpersönlich. Während bei uns zuhause an den Wänden der Küche peinliche Kinderfotos und Erinnerungszeichnungen, Basteleien aus Kindestagen und kleine Notizen, die wir hinterlassen, wenn wir gehen, hängen, so ist hier nichts derart Persönliches aufzufinden.

Auf der Kücheninsel thronen so viele Alkoholflaschen, dass ich beinahe glaube, Oli wäre einmal am Spirituosenregal im Supermarkt vorbeigefahren und hätte einfach alles in den Wagen geschaufelt.

Ich greife nach einem frisch aussehenden Glas und schenke mir etwas Himbeersaft ein. Gerade, als ich daran nippen will, werde ich jedoch ziemlich unsanft von hinten angerempelt, sodass mir das Glas fast auskommt. Der Inhalt ergießt sich mitleidslos über der Theke und zu einem Teil auch über mir.

»Verflucht«, schimpfe ich und drehe mich um.

Nur um zu sehen, dass hinter mir Oliver steht. Seine Augen sind rot und blutunterlaufen. Er sieht irgendwie total ... komisch aus.

Oliver will nach meinem T-Shirt fassen, doch ich schiebe seine Hände weg.

»Lass das«, fauche ich nur.

»Sorry«, nuschelt er. Ich rieche den Alkohol, den er schon intus haben muss - dabei ist es doch gerade einmal neun Uhr!

Ich lasse das Glas unberührt auf dem Tresen stehen und versuche mit dem Geschirrtuch das Gröbste zu beseitigen. Als das jedoch keine Wirkung zeigt, gebe ich auf und gehe wieder ins Wohnzimmer. Ein Platz auf der Couch ist freigeworden und ich sprinte beinahe dorthin, um mich setzen zu können.

Für einige Momente sitze ich einfach nur da und schaue um mich herum. Dann fällt mein Blick auf genau die Person, wegen der ich hier bin - Levin. Er steht da, hat sich lässig gegen das Bücherregal an der Wand gelehnt, und nippt an einem Glas. Dabei sieht er in die Menge, doch genau in dem Moment, in dem ich ihn ansehe, erwidert er meinen Blick.

Es ist, als könnte ich das Blau seiner Augen spüren. Als wäre das ein Sturm, der sich bis in mein Inneres vorbohrt.

Ich schlucke hart und sehe weg, doch Levin löst sich von seinem Beobachtungsposten und kommt auf mich zu.

»Willst du raus?«, fragt er und hält mir den Arm hin. Einen Moment lang sehe ich auf seine Hand, auf die schlanken, langen Finger, ehe ich in die Menge sehe. Irgendwer grölt gerade laut, dann ertönt irgendein Dorfschlager.

Ich nicke und ergreife die Hand.

»Gehen wir an die frische Luft«, sagt er und zieht mich mit in einen anderen Raum. Es scheint Olivers Schlafzimmer zu sein, denn es sieht nach einem Jugendzimmer aus und Oli ist Einzelkind.

»Was machen wir?«, frage ich leise, aber Levin bedeutet mir, ruhig zu sein. Mit zusammengezogenen Brauen beobachte ich, wie er den dicken Vorhang zur Seite schiebt und ein kleiner Balkon zum Vorschein kommt.

Der Balkon ist winzig, doch als ich mich am Gelände anhalte und über die Dächer Hamburgs sehe, fühle ich mich ein bisschen wie in »König der Löwen«. Stark.

Levin lässt sich auf der kleinen Sitzbank nieder und klopft auf den Platz neben sich. Ich lasse mich langsam niedergleiten und spüre die Wärme, die von ihm ausgeht.

»Die Jungs haben vorhin irgendwas genommen, als ich noch nicht da war. Hast du Oliver gesehen? Wenn der heute noch irgendwen prügelt, würde es mich nicht wundern«, beginnt Levin locker zu reden. Ich antworte nicht darauf. Ich will nicht an Oliver denken.

»Du hattest Recht«, sage ich schließlich in die nächtliche Stille.

»Womit?«, fragt er. Sein offener Blick berührt mich.

»Damit, dass ich Oliver nicht wirklich mag. Ich kenne ihn ja nicht einmal.« Ich sehe wieder in die Ferne. »Ich mochte nur die Illusion. Seine Perfektion. Er ist alles, was ich nicht bin, und Gegensätze ziehen sich vermutlich an, richtig?«

Levin schluckt. Sein Adamsapfel wandert nach oben und wieder nach unten und irgendwie fasziniert mich dieses anatomische Zusammenspiel.

»Und Gemeinsamkeiten ziehen sich aus«, sagt er rau und grinst. Ich muss kichern und schüttle den Kopf.

»Du spinnst.«

»Vielleicht«, sagt er schulterzuckend.

Gott, ich habe ihn vermisst, ihn und dieses belanglose Reden, das Treiben, sich einfach vom Leben treiben lassen.

Ich streiche über mein Handgelenk, über die große Narbe, wegen der ich immer meine Uhr am rechten Arm trage.

»Was ist denn da passiert?«, fragt Levin und sieht auf meine Hand.

Mist.

»Nichts«, murmle ich rasch und ziehe die Hand weg. Als Levin nichts sagt, lege ich meinen Arm wieder hin und erkläre leise: »Ich ... ich bin als kleines Kind die Treppen runtergefallen und in eine Vase aus Glas gestürzt. Total bescheuert, aber deswegen habe ich eine riesige Narbe am Unterarm.«

»Wieso versteckst du sie?«

»Keine Ahnung, weil sie hässlich ist?« Meine Stimme klingt schrill. Wieso stellst du Fragen, auf die ich keine Antworten habe?

»Trage deine Narben lieber mit Stolz. Sie flößen dir Respekt ein.«

Levin legt den Arm auf die Lehne und betrachtet mich.

Ich schüttle den Kopf. »Respekt? Wieso sollte ich Respekt von anderen Menschen wollen?«

»Jeder will irgendwas. Anerkennung. Akzeptanz. Lob. Respekt. Die Menschen hören auf, dich für blöd zu verkaufen und als naiv, als komisch, abzustempeln, wenn sie sehen, was du schon alles erlebt hast. Wie das Leben zu dir war und dass du trotzdem noch da bist.«

Er lächelt, wobei seine süßen Grübchen zum Vorschein kommen.

»Was, wenn die Narben innerlich sind?« Meine Stimme ist schwach, doch ihr Gewicht ist hoch.

»Dann bekommst du etwas, das man mit nichts auf der Welt vergleichen kann - Respekt von den Menschen, die dich am besten kennen. Von denen, die wissen, wie es in deinem Inneren aussieht.«

Das klingt schön.

»Das ist doch irgendein Poeten-Scheiß. Hast du etwa heute auch schon zu tief ins Glas geschaut?«, frage ich ironisch. Ironisch, damit ich vertuschen kann, wie sehr mich seine Worte berühren.

Ich spüre seinen Atem auf meiner Haut, als er lacht.

Levin schüttelt den Kopf. »Nein. Wenn man nur angestrengt genug nachdenkt und sich oft genug nach einem Grund fragt, dann braucht man keinen Alkohol mehr, um die Wirkung zu spüren. Dann fühlt es sich irgendwann so an, als wäre man high. High von der Realität, high vom Leben.« Er macht eine allumfassende Bewegung. »Als könnte man spüren, wie sich die Erde dreht. Wie die Pflanzen wachsen, und wie die Sonne auf- und wieder untergeht.«

Ich stehe grinsend auf und gehe zu Levin, der am eisernen Gelände lehnt und über die Dächer Hamburgs schaut, die von der Dunkelheit umrahmt werden.

»Ich habe dich vermisst«, sage ich leise. Ehrlich.

Levin sieht mich an und lächelt, ehe er meine Hand nimmt.

»Ich dich auch.«

Dieser Moment wäre perfekt gewesen, wenn da nicht irgendwer die Balkontüre aufgerissen und: »Hey, wollt ihr mit uns ›Ich hab' noch nie‹ spielen?«, gerufen hätte.

Seufzend löse ich mich vom Gelände und drehe mich um. Das Mädchen, das neugierig im Türrahmen steht, ist Kathi.

»Äh ...«, stoße ich aus.

»Klar«, sagt Levin. Er zwinkert mir zu.

Mir wird heiß.

Na gut. Ist doch nicht so schlimm. Das wird schon! Was habe ich denn auch zu verlieren? So spannend bin ich nun auch wieder nicht ...


Was ich zu verlieren habe, bemerke ich erst, als ich zwischen den anderen Mitspielern im Kreis sitze. Kiki, Kiera und Kathi sitzen zu dritt auf Olis Bett, Jules, Oliver und Valentin haben es sich am Boden bequem gemacht, Levin dreht, reif wie er ist, einige Runden auf Olis Drehstuhl und Merle, Francesco und ich gammeln irgendwo dazwischen.

Reihum muss jeder etwas sagen, was er noch nie getan hat, und wenn man es schon getan hat, muss man trinken. Flo hat dieses Spiel früher, als er mich auf Partys mitgeschleppt hat, wenn unsere Eltern ausgeflogen waren und er eigentlich babysitten sollte, immer gespielt.

»Ich hab' noch nie gegen ein Auto gepisst«, gluckst Francesco vor sich hin. Zu meiner Überraschung trinken alle Jungs (kein Wunder, bei denen ist das anatomisch gesehen irgendwie einfacher). Auch Levin, was mich irgendwie überrascht.

Kiki drückt mir einen Becher in die Hand, in dem irgendeine unergründliche Grütze schwimmt.

Keine Ahnung, was genau das ist, aber Alkohol schmeckt ohnehin immer gleich. Nach Gefühlen, die unterdrückt werden, und der ganzen Scheiße, die man zu ignorieren versucht.

Ich habe noch nie mir einen Lehrer oder eine Lehrerin nackt vorgestellt«, sagt Oliver, der als nächstes dran ist. Und im selben Atemzug trinkt er einen großen Schluck.

Sollte man bei dem Spiel nicht eher Dinge sagen, die man noch nie getan hat?

Aber egal, über Regeln scheint man sich hier sowieso hinweg zu setzen - und Oli ist nicht der einzige, der trinkt. Auch die anderen Jungs nehmen feixend einen Schluck.

Als nächstes bin ich an der Reihe.

Es ist mir unangenehm, dass mich alle so anstarren.

»Ich ...«, beginne ich zögerlich. »Ich habe noch nie mit jemandem geschlafen.«

Das ist so ziemlich der Standardspruch, und bis auf mich und Laura trinken alle.

Auch Merle.

Das hat sie mir nie erzählt.

Ich sehe zu Levin, dessen Blick auf mir ruht. Das Verlangen, ihn zu küssen und ihm nahe zu sein, wächst mit jeder Sekunde, in der ich ihn mit seinen wirren Haaren, dem Bandana und dem lockeren Pullover so dahocken sehe.

Bevor der Blick zu intensiv werden kann, sehe ich zu Kathi. »Ich habe noch nie einen Penis auf die Scheibe eines Autos gezeichnet, wenn es geschneit hat!«

Ihr Satz ist von reichlichen Trunkenheits-Glucksern untermalt. Zwei Leute trinken und ich stelle fest, wie froh ich bin, diese pubertäre Phase hinter mir zu haben.

Drei Stunden später ist die Party immer noch ziemlich gut besucht, aber mein Schädel brummt und wenn ich noch mit dem Zug nach Hause zu Opa fahren will, muss ich mich langsam losreißen.

Natürlich ist da noch immer mein Zimmer in Altona - den Schlüssel habe ich griffbereit. Aber ich fühle mich noch nicht bereit, zurück zu kommen. Wenn ich zurückkomme, sollte ich mit Mama reden. Das weiß ich. Aber darüber muss ich noch nachdenken.

»Oli«, rufe ich und ziehe ihn am Ärmel zu mir, um mich zu verabschieden. »Ich gehe heim. Danke für die Party, war echt ... cool!«

»Oh schade, gehst du etwa schon? Bleib doch noch! Du kannst auf der Couch pennen ... oder bei mir im Bett!« Er grinst schief, doch ich schüttle den Kopf.

»Nein, danke. Ich habe noch einen Weg vor mir ...« Ich ringe mir ein Lächeln ab.

»Oh«, gibt er enttäuscht von sich. Ich umarme ihm als Abschiedsgeste, doch als ich seine Lippen an meinem Ohr spüre, entziehe ich mich dem Klammergriff.

Wollte er mich gerade küssen?

»Also dann ...«, sage ich noch, dann lasse ich mich von der Menge verschlucken und verlasse die Party.

Merle habe ich nicht mehr gesehen, genauso wenig wie Jules. Nach dem Spiel sind die beiden verschwunden, aber ich freue mich, dass sie wenigstens glücklich ist. Mein Kopf brummt, als ich die Stufen des Altbaus hinunter gehe und das Haus verlasse.

Sobald ich draußen bin und mir der kühle Nachtwind in den Nacken schlägt und bis auf die nackte Haut fährt, spüre ich, wie mir eine Last von den Schultern fällt. Ich nehme mir fest vor, am Montag mit Merle zu reden. Ihr zu sagen, dass das mit Oli aus ist und ihr zu erklären, dass da was mit Levin ist.

Meinen Plan, Oli eifersüchtig zu machen, kann ich längst über Bord werfen. Ich habe gar kein Interesse daran. 

Mit in den Jacken vergrabenen Händen mache ich mich auf den Weg zum Bahnhof Altona.

»Hey!«, höre ich jemanden hinter mir. Eine Hand packt mich am Arm.

Ich schreie heiser auf und drehe mich um.

Levin.

Verfluchte Scheiße.

»Erschreck mich doch nicht so!«, rufe ich außer Atem und halte mir mit flatternden Lidern das Herz. »Ich hätte sterben können an diesem Herzinfarkt, du Trottel!«

Levin lacht. »Das wäre aber ein schlimmer Tod.«

»Mhm«, gebe ich zurück. »Stalkst du mich jetzt etwa oder habe ich ab heute einen persönlichen Bodyguard?«

»Wir haben vorhin unser Gespräch nicht beenden können«, sagt er schulterzuckend. »Wohin gehst du überhaupt? Ist es nicht etwas spät für einen Spaziergang?«

»Ich ... ich gehe zum Bahnhof. Altona.«

»Zum Bahnhof? Wieso das denn?« Er sieht ehrlich verwundert aus.

»Ähm ... ich bin derzeit bei meinem Opa zu Besuch. Er wohnt in Kiel.«

»Kiel«, sagt Levin leise. »Das ist ein ganzes Stück bis dorthin.«

»Und wieso bist du jetzt hier?«, frage ich ehrlich neugierig. Von den Millionen Plätzen in Hamburg hat er den neben mir ausgewählt.

»Willst du etwa weiter alleine durch das nächtliche Hamburg laufen?« Er macht einen Schritt von mir, doch ich ziehe ihn wieder zu mir.

»Passt schon«, murmle ich.

Es ist total ruhig, nur irgendwo am Ende der Straße höre ich die Schreie eines Betrunkenen.

Eigentlich könnte Levin den Arm, den er vorhin um meine Schulter gelegt hat, längst wieder zu sich nehmen, doch er tut es nicht, und ich will ihn nicht daran erinnern. Ich mag seinen Geruch, der mir in die Nase steigt, weil er mir so nahe ist. Und er ist warm, und mir ist kalt.

Stumm laufen wir nebeneinander, bis wir beim Bahnhof ankommen. Die Anzeigetafel flackert und sagt mir, dass ich noch fünfzehn Minuten auf meinen Zug warten muss. Na toll. Wenn ich eines hasse, dann die Unpünktlichkeit der deutschen Bahn. Andererseits habe ich Glück, sie überhaupt noch zu erreichen.

»Wieso bist du eigentlich bei deinem Großvater?«, fragt Levin neugierig.

»Bei uns daheim ist es gerade etwas ... angespannt«, sage ich wahrheitsgemäß. »Und ich war schon lange nicht mehr bei Opa.«

»Mhm.«

Einige Minuten ist es ruhig, dann deutet Levin zu einem kleinen Fressstand. »Bock auf Döner?«

Ich kann nicht anders, als über diese skurrile Frage zu lachen.

»Klar.«

»Warte kurz, bin gleich wieder da«, sagt er grinsend und geht los, um uns Essen zu holen. Ich lasse mich auf der leeren Bank nieder. Tagsüber ist hier viel los, doch jetzt, wo sich die nächtliche Ruhe über die Hansestadt legt, ist es leer.

»Hier«, reißt mich Levin aus den Gedanken und drückt mir einen vor Salat und Fleisch und Soße fast überquellenden Döner in die Hand. Er riecht so gut, dass mein Magen knurrt.

»Danke«, murmle ich und fische aus meiner Jackentasche etwas Kleingeld, doch Levin winkt ab.

»Ich lade dich ein. Guten Appetit!«

Ich nehme einen Bissen und stelle fest, dass es nichts Leckereres gibt, als einen Döner irgendwann um Mitternacht mit Menschen, die man gerne hat. Levin hat den Döner innerhalb weniger Minuten verdrückt, ich hingegen brauche etwas länger. Mein Zug lässt aber immer noch auf sich warten, sodass ich beinahe Angst habe, die Anzeige sei kaputt oder so.

Zufrieden lehne ich mich, als ich den letzten Bissen heruntergeschluckt habe, zurück und verschränke die Arme. Levin sitzt neben mir, seine Körperwärme strömt auf mich über und wärmt mich.

Als der Minutenzeiger schon gefährlich nahe der Zeit kommt, zu der die Bahn kommen würde, erhebe ich mich langsam von der Bank. Ich will eigentlich nicht gehen.

»Danke ... für den Döner«, sage ich leise.

Levin lächelt. »Gerne.«

Ich sehe ihn einen Moment lang an, habe das Gefühl, mich wieder in seinen Augen zu verlieren, dann flüstert er leise: »Pass auf dich auf, Mila.«

Und in genau diesem Moment passiert das, was ich mir schon so lange ausgemalt habe. Wie in einer träumerischen Trance stelle ich mich auf die Zehenspitzen und strecke mich, bis meine Lippen Levins Lippen berühren. Ich lege meine Hand in seinen Nacken und spüre den Druck, mit dem er diesen Kuss erwidert. Ein Feuerwerk der Gefühle erhellt mein Inneres. Auf meiner Haut tanzen die Härchen Walzer, die Gänsehaut erstreckt sich über meinen ganzen Körper.

Ich spüre Levins warme Zunge, wie sie über meine Lippen streicht, und seine Hand an meiner Taille, wie er mich näher zu sich zieht, sodass wir uns so nahe sind, dass kein Blatt mehr zwischen uns passt. Ich will nicht loslassen, ich will nie mehr loslassen.

Das ist alles, was ich je wollte. Dieses Gefühl ist alles, was ich brauche. Die Welle Glückshormone, auf der ich surfe, ist so groß, dass ich mein Glück kaum fassen kann. Als ich mich wieder von Levin löse, sehe ich, wie dunkel seine blauen Augen geworden sind. Ich sehe den lustverhangenen Blick, den er mir zuwirft. Ich kann seine Gefühle selten deuten, weil sein Gesichtsausdruck meist verschlossen ist, doch das Blau seiner Augen gibt mir immer Aufschluss über seine Gefühlslage.

Als die Bahn einfährt, wirbeln meine Haare durch die Luft. Levin küsst mich noch einmal, ehe ich mich von ihm löse und in den Zug steige.

Das alles ist ohne ein einziges Wort passiert, ohne ein Wort, das gesprochen wurde. Manchmal braucht man keine Worte. Manchmal reichen Taten.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top