Vierzehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel 
Leck mich. - Mit Vergnügen. 
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Heilige Scheiße.

Was Kaya mir über Levin erzählt hat, liegt mir flau im Magen.

Er war abhängig von Tabletten.

Ich habe keine Ahnung, was ich dazu sagen soll. Ja, mir fehlen nicht nur die Worte – mir fehlen die Gedanken. Es ist krass, dass Kaya mir das erzählt. Levin wird das vermutlich nicht gerade erfreuen, weshalb ich vorerst beschließe, dieses Wissen für mich zu behalten und nichts zu sagen. 

Der Arbeitstag am Samstag ist verdammt anstrengend und ich zweifle nicht nur einmal daran, ob ich wirklich für diesen Job die richtige Person war. Der Samstag endete darin, dass ich völlig erschöpft Luigi seine Schürze zurückgab und ihm sagte, dass ich diesen Job nicht auf Dauer machen konnte. Ich bin einfach zu schwach für eine solche Arbeit. Lieber sollte ich mir etwas suchen, was ich wirklich machen konnte, wie zum Beispiel einen Podcast starten oder so. Jedenfalls nichts körperlich anstrengendes. 


* * * 


Der Montag und die damit verbundene Anstrengung kommt leider viel zu schnell. 

»Aufstehen!«, ruft Ma mir entgegen. 

Ich stöhne in mein Kissen. Montag - lasset die Scheiße von vorne beginnen. Ich habe keinen expliziten Hass auf den Montag, weil ich eigentlich jeden Tag, an dem ich in die Schule muss, gleich wenig mag. Aber heute muss Ma extra früh raus, weil sie einen Termin in der Arbeit hat, und deswegen ist sie besonders aufgescheucht, aufgeregt und gehetzt. 

Mein einziger Anker ist, dass Flo versprochen hat, mich mit seinem Auto heute zur Schule zu bringen. Es ist zwar eine verbeulte Karre, für die mein geliebter großer Bruder vermutlich schon mehr Geld für die Reparatur gezahlt hat, als sie eigentlich wert ist, aber alles ist besser als die Vorstellung des sozialkontaminierten Busses, in dem ich mir auf zwanzig Quadratmetern mit hundert wildfremden Menschen einen Platz teilen muss. 

Zum Glück redet Flo während der Autofahrt nichts, sodass ich mir die Kopfhörer in die Ohren geben kann und mit Greenday einfach mein Umfeld ausschalte. 

»Viel Spaß in der Schule«, flötet Flo feixend. Ich rolle die Augen und nehme den linken Kopfhörer raus. 

»Ich habe jetzt schon keine Lust. Vielleicht sollte ich einfach schwänzen«, murmle ich. Einen Moment starre ich das Treiben vor der Schule an, die vielen Leute. Dann fasse ich mich am Herz und öffne die Beifahrertür. 

»Bitte bring sie nicht alle um«, ist das letzte, was ich von meinem Bruder noch höre, dann knalle ich die Türe zu, ziehe mir meine Kapuze in die Stirn, weil es ein wenig nieselt, und stapfe mit der typischen Montagsscheißlaune zu dem Platz, an dem Merle und ich immer auf das Läuten zur ersten Stunde warten. 

Merle. 

Bei dem Gedanken an sie wird mir flau im Magen. Seit der Party weiß ich nicht mehr, ob ich ihr vertrauen kann. Ich meine - nicht nur hat sie eine Party für mich geschmissen, was ich ihr ausdrücklich gesagt habe, dass sie unterlassen soll, sondern zu alledem hat sie dann auch noch mit Oliver rumgemacht. Auf Teufel komm raus. 

Ihre mickrige Entschuldigung kann sie sich wirklich sonst wohin schieben - aber ohne Merle habe ich niemanden. 

Mein Blick fällt auf einen Typen in weinroten Chinos und schwarzem Kapuzenshirt. 

Levin steht da, beim Schaukasten, und drückt eine Zigarette am Metall des Kastens aus, in dem immer die Bilder der Fünft- und Sechstklässler und ihrer Projekte ausgestellt werden. 

Wenn ich Merle nicht mehr habe, hätte ich immer noch Levin. Ich rufe mir wie unabsichtlich die Worte, die Kaya gesagt hat, wieder in Erinnerung. Er war abhängig. Und jetzt, wo ich ihn sehe, mit diesem belustigten Grinsen, das immer seine Mundwinkel umspielt, der hellen Haut und den fast schwarzen Haaren, kann ich es mir gar nicht vorstellen. Aber irgendwie auch total. 

Als die Glocke klingelt, sehe ich Merle weit und breit nicht, weshalb ich mich ohne sie auf den Weg zum Musiksaal mache. Die erste Stunde, und dann gleich Musik. Leider habe ich den Fehler gemacht, Kunst abzuwählen. Damals, vor zwei Jahren, habe ich einfach Musik gewählt, weil Merle das getan hat. Und Merle hat Musik gewählt, weil sie seit sie drei ist Klavier spielt. Dabei kann ich nicht einmal Noten lesen. 

Ich habe mich schon oft geärgert, dass ich das getan habe. In den letzten zwei Jahren habe ich ein regelrechtes Interesse für Kunst entwickelt, und wenn ich die tollen Projekte sehe, die die anderen machen und ausstellen, werde ich eifersüchtig. 

Frau Kuntermann, die Musiklehrerin, ist alt und hinkt ein bisschen beim Gehen, doch das hindert sie nicht, ihre Schüler äußerst streng zu behandeln. Wäre sie nicht so eine nett wirkende alte Frau, wäre mir vermutlich schon der ein oder andere Kommentar von der Zunge gerutscht. 

Ich lasse mich auf meinen Platz in der dritten Reihe am Fenster fallen. Der Musikraum ist der größte Raum der Schule, weil dort verschiedene Instrumente - ein Schlagzeug, ein Flügel und ein Cello sowie eine Technikanlage - stehen. Außerdem gibt es viel Bewegungsfreiheit, eine kleine Bühne und die wohl luxuriöseste Sitzmöglichkeit der ganzen Schulausstattung — Stühle mit integrierten Tischplatten.

Der Raum füllt sich nach und nach mit meinen Mitschülern, die wie Ameisen hereinströmen und sich verteilen. Als ich gerade mein Federpennal und mein Heft herausgeholt habe, taucht Merle auf und setzt sich neben mich. 

»Morgen!«, begrüßt sie mich mit einem stürmischen Lächeln. 

»Hallo«, sage ich nur kurz. Ich sehe sie gar nicht richtig an, stelle aber trotzdem fest, dass sie ordentlich viel Make-up aufgetragen hat, was mich wundert. Bis vor zwei Wochen, als die Schule losgegangen ist, war sie nämlich noch der Meinung, sie brauche kein Make-up, weil das sowieso nur ihr Gesicht versteckt. Also ganz meiner Meinung. Und jetzt? Jetzt trägt sie so viel Schminke, dass ich kaum noch ihre Haut sehe. Ihre Augenbrauen sind unnatürlich stark geschminkt und über ihren Wimpern prangt ein fetter Lidstrich. 

Es sieht ungewohnt aus - aber Merle weiß wohl, dass ein Engelsgesicht wie ihres von nichts entstellt werden kann. 

»Wie war dein Wochenende?«, fragt Merle freundlich. Es ist nur eine Floskel, reine Gewohnheit. Ich weiß, dass sie das nur fragt, um nach ihrem Wochenende gefragt zu werden. Ich gebe nach und sage bereitwillig: »Ganz okay. Und selbst?« 

Merles Augen beginnen zu glitzern. »Mein Wochenende war bombastisch!«, ruft sie aufgeregt. »Ich war mit Jules Eis essen und dann im Kino. Wir haben sogar Händchen gehalten.« 

Cool. Wie schön für dich. Ich habe dafür herausgefunden, dass Levin scheinbar aus einer ziemlich abgefuckten Familie kommt und eine Zeit lang tablettenabhängig war. 

Ich komme mir richtig bescheuert vor, weil Merle in dieser perfekten Seifenblase lebt, und ich werde mit den ganzen Problemen konfrontiert. Oder zeigt sie mir ihre Probleme einfach nicht? 

»Schön«, sage ich, weil ich mich verpflichtet fühle, Merles gute Laune mit einem positiven Wort zu quittieren. 

»Und du weißt ja - heute werden die Paare für die Eröffnung des Schulballs im Dezember ausgewählt.« Merle quasselt im Plauderton weiter. »Ich hoffe auf jeden Fall, dass ich mit Jules genommen werde. Du kannst dich ja mit Oliver melden!« 

Scheiße, das ist heute? 

»Sicher, dass du das nicht willst?«, frage ich distanziert. Diesen Kommentar kann ich mir nicht verkneifen. 

»Mit Oli? Wieso sollte ich das denn?« Merle lacht affektiert. 

Weil du auf meiner Geburtstagsparty, die eigentlich nur eine Party war, auf der du dich wieder einmal repräsentieren konntest, mit ihm rumgeknutscht hast. Beste Freundin. 

Abgesehen davon... Aus irgendeinem Grund will ich gar nicht mit Oli eröffnen. Wenn ich an ihn denke, ist da nicht länger dieses Kribbeln, das früher da war. Ich meine, klar, er sieht aus wie ein Calvin-Klein-Model höchstpersönlich, und das würde wohl jederfraus Bauch zum Kribbeln bringen. Er hat diese weichen Haare, die zum Durchstrubeln gerade zu einladen. Aber... mehr ist da nicht. Komisch. 

»Keine Ahnung«, sage ich und zucke mit den Schultern. »Lass mal stecken. Bin nicht so interessiert am Tanzen.« 

Merles Gesichtszüge verändern sich für einen Augenblick, dann hat sie sie wieder alles unter Kontrolle. 

»Ist das... Ist das immer noch wegen der Party, Mila?« Sie runzelt die Stirn. »Ich sagte doch, dass es mir leid tut. Ich habe an dem Tag zu viel Alkohol getrunken und ich hätte...« 

»Nein, es ist nicht deshalb«, sage ich. Es ist genau deshalb. »Ich glaube, über die Ferien ist es doch nicht stärker geworden. Eher... anders.« 

Merle wirft mir einen komischen Blick zu, dann wechselt sie das Thema. Sie erzählt mir, dass sie dieses Jahr zu Weihnachten in die Karibik fliegt, anstatt die Zeit bei ihrer Familie in Schladming zu verbringen. 

Wie schade. 

Merle und ich kommen definitiv aus sehr verschiedenen Welten. 

Als Frau Kuntermann in den Raum kommt, legt sich eine Stille über die Klasse. Hinter ihrer dicklichen Gestalt huschen Levin und ein anderer Typ, der Valentin oder so heißt, herein und nehmen in der letzten Reihe platz. 

»Guten Morgen meine lieben Schüler«, begrüßt uns die Lehrerin und sieht streng in die Runde. Alle, inklusive mir, stehen zur Begrüßung auf. Das ist eine Geste, die mir bereits in der vierten Klasse eingetrichtert wurde, und es ist ganz normal, aufzustehen, wenn die Lehrer reinkommen. 

»Wie die meisten von euch vermutlich wissen, werden wir heute die Paare für den Schulball im Dezember festlegen. Wir werden ab jetzt jede Woche eine halbe Stunde die Choreografie lernen, damit ihr sie am Ende bestens draufhabt. Insgesamt brauchen wir zwölf Paare. Da ihr die Musikklasse seid, dürft ihr diese Aufgabe übernehmen, wie es die Tradition vor sieht.« 

Ein Grund mehr, Kunst zu wählen. 

»Wir werden uns auch ein paar Extratermine ausmachen, um das Tanzen zu perfektionieren. Während manche von euch vielleicht schon einmal getanzt haben, ist es für andere ganz neu. Ich schlage für die Perfektion den Freitag vor, abends, aber natürlich nicht zu spät.« Sie lacht. »Dann habt ihr genug Zeit, auszugehen - oder was das junge Gestrüpp eben heutzutage so macht.« 

Frau Kuntermann redet immer so schnell, dass am Ende ein gemischter Wortsalat rauskommt. Außerdem hat ihre Stimme leider eine sehr nervenaufreibende Tonlage, was ihren langweiligen Unterricht nicht gerade aufwertet. 

»Wir werden es selbstverständlich auf die herkömmliche Tour machen und mit einer Damenwahl beginnen. Die Mädchen gehen bitte zum Klavierflügel, die Jungs zum Schlagzeug.« Sie klatscht in die Hände, um zu signalisieren, dass wir uns bewegen sollen. 

Na toll. Einen Moment lang wandert mein Blick zu Oli, dessen goldbraunes Haar heute besonders glänzt. Ist er in die Geltube gefallen, oder wieso schimmert das so? 

Dann wandert mein Blick weiter zu Levin. Er fängt diesen auf und zieht eine Braue hoch, als würde er fragen: Willst du die Eifersuchtskarte ausspielen? 

Ich nicke unmerklich. Eigentlich will ich es gar nicht. Beziehungsweise, ich will es nicht aus dem Grund, aus dem es begonnen hat. Ich will es nicht mehr, um Oli für mich zu gewinnen. Ich will es, um ihm wehzutun, weil er mir wehgetan hat, indem er mit Merle rumgemacht hat. Ich habe mir von beiden mehr Integrität erwartet - vor allem von Merle, aber eben auch von ihm. 

Eigentlich lustig, dass Levin der Typ ist, der mich so oft nervt - aber nie enttäuscht hat. 

Die Begeisterung der meisten ist nicht gerade groß, denn genau wie Frau Kuntermann stammt auch ihre Didaktik aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Brav stehe ich auf und gehe zu dem schwarzen Flügel, wo sich bereits eine Menschentraube gesammelt hat. Merle grinst superglücklich und supergut gelaunt. 

Was ist denn so toll? 

Ich sehe weg. 

»Dann werden wir jetzt die Paare einteilen. Die Herren sagen den Namen einer Dame, mit der sie dann tanzen werden.« 

Kann man sich irgendwie krank melden oder so? Einen Moment lang denke ich darüber nach, so zu tun, als hätte ich mir den Knöchel superkompliziert gebrochen und könne deswegen leider nicht tanzen, aber leider hinkt der Plan von vorne bis hinten. Gips trage ich ja keinen. 

»Du beginnst«, sagt Frau Kuntermann und deutet auf den Typen, der meines Erachtens nach Valentin heißt. 

Auf Valentins Lippen erscheint ein Grinsen. Er nickt zu Merle. »Du, Goldlöckchen, wie heißt du?« 

Sie sieht alles andere als begeistert aus. »Merle.« 

»Merle, ich nehme Merle«, sagt er. Kuntermann nickt. 

»Ähm, sorry, habe ich da auch Mitspracherecht?« Merle plustert sich auf, aber Kuntermann schlägt ihren Protest nieder, und irgendwie grinse ich schadenfroh. 

Als nächstes ist Levin an der Reihe. »Mila.« 

Die Art, wie er meinen Namen ausspricht, lässt mich aufschauen. Aufschauen, direkt in seine eisblauen Augen, die trotz - oder vielleicht gerade deswegen - ihrer Kälte mein Herz erwärmen. 

Ich sehe, dass Oli die Augen verdreht und sagt: »Dann nehme ich Kiki.« 

So geht es dahin, bis alle Paare eingeteilt sind und ich förmlich merke, dass es nachher ein Riesendrama geben wird, weil Merle nicht mit Jules tanzen kann. Ich stütze den Ellbogen auf den Flügel und sehe zu der Lehrerin. 

Mein Blick wandert zu den hohen Fenstern, deren barocke Stuckverzierung davon zeugt, wie alt dieses Schulhaus eigentlich ist. Die riesigen, dunkelblauen Vorhänge lassen den sich dem Ende zuneigenden September noch trister und grauer erscheinen. 

Ich erwache erst aus meinem Starren, als Frau Kuntermann meinen Namen kräht. Dann stelle ich fest, dass so gut wie alle mich anstarren. 

»Ähm, was?« 

»Kommst du bitte her?« Frau Kuntermann klingt wenig begeistert. Zu ihrer Rechten steht Levin, dessen Begeisterung auch schon einmal größer war. Trotzdem hat er irgendwie ein schiefes Grinsen auf den Lippen. 

»Hi«, sagt Levin sonor und sieht mich an, als ich zu ihm gegangen bin. Ich werfe ihm ein knappes Lächeln zu. Levin bemerkt meine schlechte Laune leider sofort. »Find das mit dem Tanzen auch nicht so geil. Eure Schule ist echt weird.« 

»Mhm«, sage ich. »Nicht die ganze. Aber lustigerweise hast du bisher nur die doofen Stunden erlebt.« 

Ich mustere Levin. Sein Gesicht ist kantig, aber auch weich. Er hat eine ausgeprägte Kinnlinie, dunkle Augenbrauen und glasklare, blaue Augen. In ihnen liegt dieses spitzbübische Etwas, das ihn irgendwie einzigartig macht. Levin trägt heute ein Holzfällerhemd und darunter ein lockeres, weißes T-Shirt. Mit roten Chinos hat er scheinbar eine Obsession. Der schwarze Pulli liegt lässig auf seinem Platz. 

Ich sehe weg. Das, was Kaya mir über ihren kleinen Bruder erzählt hat, liegt mir schwer im Magen. Levin sieht stark aus. Aber gleichzeitig sieht er nicht aus wie einer, der mit allem klarkommt. Jeder hat einen wunden Punkt und ich frage mich, wo Levins ist. Und wer so stark drauf gedrückt hat. 

»Willst ein Autogramm haben, oder wieso starrst du so?«, neckt mich Levin grinsend. 

»Damit ich mich für immer daran erinnere, dass du derjenige bist, bei dem mich ein Sprung vom Ego zum IQ killen würde?«, gebe ich ebenso grinsend zurück. Die Grübchen auf Levins Wangen vertiefen sich. 

Seine Augen glitzern ein bisschen, was ganz schön aussieht. Levin will gerade etwas darauf sagen, hat schon den Mund offen, als Frau Kuntermann unsere Konversation unterbricht. 

»Da nun alle Paare beisammen stehen«, ruft sie, »werden wir als erstes die Basisschritte lernen. Wir haben uns choreografisch auf einen Walzer geeinigt, der ein bisschen modernisiert ist.« 

»Dass die überhaupt das Wort ›modernisiert‹ kennt«, flüstert mir Levin zu, woraufhin ich leise gluckse. Er hat recht, und das, obwohl er die Frau keine zehn Minuten kennt. 

Ich ziehe Levin etwas weiter an den Rand, um nicht so exponiert in der Mitte der Truppe tanzen zu müssen. Kuntermann teilt uns in zwei Reihen ein, was leider darin resultiert, dass Levin und ich in der zweiten Reihe ganz vorne tanzen müssen. 

Das Schlimmste ist, dass ich eigentlich nicht vorgehabt habe, beim Winterball zu erscheinen. Treppe runterfallen und Knöchel kompliziert brechen ist also immer noch eine ernstzunehmende Option. Nur jetzt habe ich irgendwie schon die Verpflichtung, den Scheiß mit Levin durchzuziehen. 

Ich habe seit dem Kindergarten kein Kleid mehr getragen. In Kleidern sehe ich total bescheuert aus und ich will den Anblick einer miesgelaunten Mila im Tutu den Menschen ehrlich gesagt lieber ersparen. 

»Noch anwesend oder malst du dir schon aus, wie ich dich mit deinem Tüllkleid durch den Raum wirble?«, fragt Levin und schnippt vor meinem Gesicht herum. Ich sehe ihn eine Augenblicke unwirsch an, dann sage ich: »Seit du meinen Namen gesagt hast, kann ich an nichts anderes mehr denken.« Mit verdrehten Augen füge ich hinzu: »I want you, I need you, o baby, o baby.« 

»Als erstes zur Tanzhaltung. Die Dame legt die rechte Hand in die linke des Herrs, während sie die linke auf seiner Schulter platziert und er die rechte an ihrem Korsett. Und wehe irgendwer macht hier einen auf Hinternrutscher - die Hand bleibt über dem Allerwertesten, verstanden?« 

Einige Jungs kichern, aber ich bin mir sicher, dass die, die lachen, genau die sind, deren Finger unzüchtig auf Wanderschaft gehen. 

Frau Kuntermann zeigt die Tanzhaltung an einem unsichtbaren Kerl her, was ein bisschen ulkig aussieht. 

Mein Herz setzt für einen Takt aus, als ich Levins Hand an meinem unteren Rücken spüre. Er hat große Hände, schmale, lange Finger, und sie sind warm. Ich schaue ihn bewusst nicht an, weil das hier, er und ich in Tanzhaltung, schon ziemlich eng ist und ich Körperkontakt nicht so gerne mag und auch nicht so gewöhnt bin. Ich spüre Levins Atem auf meiner Stirn. 

Vorsichtig lege ich meine Hand auf seine rechte Schulter und lege die andere Hand in seine. Ich habe mich selten so komisch gefühlt, wie jetzt gerade. Es fühlt sich nicht falsch an. Aber auch nicht richtig. Einfach nur komisch. 

»Wir tanzen einen Linkswalzer, daher macht der Herr mit dem linken Bein einen Schritt zurück, die Dame mit dem Rechten einen nach vorne. Darauf folgt ein Seit-Schluss.« Frau Kuntermann zeigt es wieder mit ihrem unsichtbaren Herrn vor. Sie dreht sich hundertachtzig Grad. 

Und als hätte sie damit den Startschuss gegeben, rollt das Chaos auf uns zu. Ich mache einen Schritt nach vorne, aber Levin irgendwie auch, was dazu führt, dass Levin einige Augenblicke auf meinem Fuß steht. 

»Autsch, du Waschbär«, fauche ich und ziehe meinen Fuß unter seinem Gewicht weg. Das hat echt wehgetan. 

»Meine Güte, entspann dich, das war nur dein kleiner Zeh!«, mault Levin. Ich kneife die Augen zusammen  und erwidere: »Ich bin nicht angespannt. Und mein kleiner Zeh hat auch Gefühle!« 

»Du regst dich schon gern auf, wenn der Tag lang ist, was, Tiger?« Er lacht leise und schüttelt den Kopf. 

Ich fühle mich ein bisschen vor den Kopf gestoßen, schließlich regt sich Levin mindestens genauso oft auf. 

Wir starten also einen zweiten Versuch, der allerdings nicht viel besser endet, als der erste, bloß bin es jetzt ich, die auf Levins Fuß tritt. 

»Autsch, du Koloss«, faucht Levin. Ich weiß, dass er das nur sagt, um mich zu ärgern. Und irgendwie schafft er das auch, weil ich ohnehin von Merles unschuldigem Getue genervt bin. Dazu noch diese Information, die mir Kaya über Levin erzählt hat, und das Chaos ist perfekt. »Hast du keine Augen im Kopf?« 

Ich lache trocken auf. »Doch, habe ich. Aber die mache ich gelegentlich zu, sonst müsste ich in dein dämliches Gesicht schauen!« 

Sein Gesicht ist nicht dämlich. Eigentlich mag ich es. 

»Wie lang hast du gebraucht, um dir den Spruch zu überlegen, hm?«, fragt Levin sarkastisch und grinst. Er zieht mich mit seiner Hand, die auf meinem Rücken liegt, ein wenig näher, obwohl ich versuche, den Abstand zu wahren. 

»Jedenfalls nicht so lange, wie du gebraucht hast, um... um...« 

Ach, Mist, ich habe keine Ahnung. Mein Kopf ist leer, ich bin müde und fühle mich träge. Dass ich nicht weiß, was ich sagen soll - das passiert nur in Levins Gegenwart. 

»Um?«, hakt Levin überlegen grinsend nach. 

»Ach scheiße man, leck mich doch«, murre ich leise und rolle die Augen. Meine Nerven sind aufs Äußerste strapaziert und es tut mir leid, dass Levin das jetzt abkriegt. 

»Mit Vergnügen«, sagt er und zwinkert, was mir irgendwie die Hitze in die Wangen treibt. 

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