Sechzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel
Breakfast Club mit mickrigem Budget und zu viel Rotwein

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Der Mittwoch endet also damit, dass Levin und ich im Chemielabor stehen und es schrubben. Ein Wahnsinnstiefpunkt für eine Wahnsinnswoche, aber dass mein Schicksal Spaß daran hat, mich nach Strich und Faden zu veräppeln, habe ich mittlerweile bereits überrissen.

Es ist kurz vor zwei Uhr, als wir gemeinsam im Chemielabor erscheinen. Man sollte definitiv nicht die Schule schwänzen, so viel steht fest. Aber die Zeit, die ich mit Levin allein verbracht habe, war schön. Sie ist es.

Ich habe schon öfters Schule geschwänzt, aber es hat sich nie so angefühlt wie die Stunden, die ich mit Levin verbringe. Er ist kein sonderlich hipper Typ und ich bin keine sonderlich außergewöhnliche Person, aber vielleicht ist es ja wie in der Mathematik. Minus und Minus ergibt Plus.

Das mindert natürlich nicht, dass ich nicht gerade begeistert bin, mit ihm das Chemielebor nun tiptop zu schrubben. Die Staubschicht auf den Fensterbrettern ist so dick, dass ich mich allen Ernstes frage, wann hier das letzte Mal ordentlich durchgefegt wurde. Ob man hier darauf wartet, dass Schüler einen Fehler machen, um sie dann alles putzen zu lassen?

Vor dem Chemielabor steht Reisenberg bereits und wartet auf uns. Daneben thront ein riesiger Putzwagen mit Besen, Mopp und allem anderen, was mein Raumkosmetikerinnenherz begehrt.

»Und gleich kommt Marie Kondo um die Ecke und fragt, ob wir Joy verspüren. Nein Marie, ich verspüre den Drang zu kotzen«, murmelt Levin gerade so laut, dass nur ich es höre. Ich muss kichern, wodurch ich Reisenbergs Aufmerksamkeit errege.

»Aha. Da seid ihr ja endlich.«

Endlich? Wir sind pünktlich, was hat er denn erwartet?

»Ähm, ja«, sage ich höflich und deute auf den Wagen. »Der ist dann wohl für uns?«

»Allerdings.« Der Lehrer sieht alles andere als begeistert aus, während er die Tür des Klassenzimmers aufsperrt und uns Einlass zum Labor gewährt.

»Die Türe zu den Chemikalien ist verschlossen - bei euch beiden scheint die Stimmung ja explosiv zu sein, da sollte man sich vorsehen und seine guten Alkalimetalle lieber verstecken.« Er deutet auf die Uhr. »In zwei Stunden komme ich vorbei und checke die Lage. Vorher wird hier keiner einen Fuß raus machen, ist das klar? Ich hoffe, dass die Dämpfe der Putzmittel euch wenigstens zu etwas Vernunft bringen.«

Mit diesen Worten überlässt Herr Reisenberg uns unserem Schicksal und macht kehrt, um zu verschwinden.

»Wow. Ich fühle mich wie beim Breakfast-Club, bloß, dass unseren Drehbuchautoren ein sehr viel knapperes Budget und zu viel Rotwein zur Verfügung stand«, murmle ich und sehe mich missmutig um. Als erstes sollten wir vermutlich die Sesseln auf die Tische stellen, sonst kann man hier nicht einmal wischen. Oder lieber die Tische putzen?

»Alter, ich putz' ja nicht einmal meinen eigenen Scheiß weg.« Levin starrt den monströsen Putzwagen an. »Wofür ist dieses ganze Zeug überhaupt?«

Ich zucke mit den Schultern. »Lass uns anfangen, sonst sitzen wir hier morgen noch fest.«

Es vergeht etwas Zeit, in der ich beginne, die Fensterbänke und Fenster zu putzen. Levin wischt die Tafel und das Lehrerpult perfekt sauber, bis beides hochpoliert glänzt.

»Kann ich dich etwas fragen?«

Die Worte verlassen wie von selbst meinen Mund.

Levin sieht mitten in seiner Tätigkeit auf.

»Was gibts?«

Ich mustere ihn einen Moment lang. Wie er so dasteht, beim Pult, einen Arm auf die Keramikplatte gestützt, sieht er eigentlich sehr hübsch aus. Er ist schlank; schlanker als die meisten Jungs in unserem Alter, die nur darauf aus sind, den breitesten Bizeps und den größten Torso zu haben. Aber Levin hat eine schlaksige, natürliche Statur. Ich sehe auf seine Chucks, die vom ganzen Skaten vorne völlig abgefahren und kaputt sind. Der Gummi löst sich auf, aber das stört ihn nicht. Unter seinem Pullover erkenne ich den Zipfel eines Holzfällerhemdes.

Erst, als Levin sich räuspert, erwecke ich aus meiner Starre.

»Ähm, also«, beginne ich und wische einige Mal über die Fensterbank, bis ich den Mut fasse, meine Frage zu stellen. »Wieso bist du vorhin so ausgerastet, als ich dich nach deiner Familie gefragt habe?«

Sobald meine Stimme verklungen ist, rechne ich schon damit, dass Levin gleich wieder an die Decke geht und aus dem ruhigen Typen eine explosive Handgranate wird. Doch nichts dergleichen passiert. Levins Gesichtsausdruck ist allerdings verbissener, als zuvor.

»Ich rede einfach nicht gerne über sie«, sagt er irgendwann, als ich schon gar nicht mehr mit einer Antwort rede. »Ist nicht immer einfach zu Hause. Und hier kennt mich keiner, da fragt mich auch keiner danach.«

Ich nicke. Macht Sinn.

»Mhm«, mache ich, weil ich das Bedürfnis habe, irgendwas zu sagen.

»Was ist mit deiner Familie? Du redest auch nie über sie.«

Ich zucke mit den Schultern und fokussiere den Schwamm in meinen Fingern. »Mein Bruder ist der ach-so-perfekte Sohn, daneben schaue ich ja nur doof aus«, sage ich schulterzuckend. »Mein Dad ist tot und mit meiner Mutter verstehe ich mich nicht gut.«

»Du siehst überhaupt nicht doof aus«, sagt Levin. Er sagt es nicht tröstend, sondern so, als wäre das ein Fakt.

»Ach ja? Denkst du das? Vielleicht glaubst du das, weil du denselben Schaden hast.«

Levin lässt den Schwamm in den Eimer plumpsen und kommt ein paar Schritte auf mich zu.

»Je größer der Dachschaden, umso schöner der Ausblick auf die Sterne. Lass dir das von jemandem sagen, der schon viele Nächte unterm freien Himmel verbracht hat.« Er lächelt, er lächelt dieses ganz spezielle Levin-Lächeln, das mich von Anfang an aus irgendeinem Grund fasziniert hat.

Vielleicht deswegen, weil es ehrlich und ungeniert und einfach er ist.

Ich lasse von der Fensterbank ab und gehe auf ihn zu, setze mich zu ihm auf einen der Tische. Schweigend sitzen wir da, doch es ist eine angenehme Stille.

»Meine Mutter ist Psychologin. Ist auch nicht so toll, wenn jeder deiner Handlungsschritte fünffach analysiert wird.« Er zuckt mit den Schultern. »Meine Schwester ist genauso perfekt wie dein Bruder. Keine Zigaretten, kein Alkohol, keine Drogen, kein Sex. Keine Ahnung, ob sie überhaupt jemals Spaß hat.« Er lacht rau und sieht mich an.

Die Haut auf meinen Wangen fühlt sich warm an, als würde ich soeben erröten, weshalb ich schnell wegsehe.

»Ich habe irgendwann einmal gelesen, dass Gefühle, je länger man sie verleugnet, am Ende umso stärker sind.« Diese kühlen, blauen Augen bohren sich direkt in meine Seele.

Ich lache schrill. »Was willst du mir damit sagen? Dass ich längst in dich verknallt bin?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich sag ja nur. Denkst du immer noch, dass du was von Oliver willst?«

Einen Moment lang starre ich in die Leere.

Nein.

»Ja.«

Levin zieht eine Braue hoch, ehe er sich langsam vom Tisch gleiten lässt. »Du hast echt ein Problem, weißt du das? Du siehst die Dinge, die direkt vor deiner Nase sind, nicht.«

Ich sehe ihm verwirrt nach, wie er sich wieder ans Putzen macht, und bleibe noch eine Weile sitzen.

»Kaya war im Café und hat etwas über dich gesagt. Dass du ... dass du ...«

Keine Ahnung, woher dieser plötzliche Mut kommt, aber er verlässt mich, noch bevor ich fertig gesprochen habe.

»Dass ich?«

Levins fordernder Blick bringt mich um den Verstand und raubt mir den letzten Funken Mut, den ich noch hatte.

»Dass du abhängig warst«, flüstere ich leise, doch ich sehe deutlich, wie sich Levins Schultern versteifen. Wie in Zeitlupe hebt er den Kopf, dann den Blick. Sein Gesicht ist wie eingefroren - keine Regung weit und breit. Er sieht so aus, als würde er gleich den Kübel mit Putzwasser nehmen und gegen die Wand schleudern.

Scheiße, man. Ich habe etwas völlig Falsches gesagt.

»Ach ja?«, fragt er kühl. »Hat sie das gesagt?«

Ich nicke vorsichtig. »Ich weiß nicht, wieso. Aber ... ich habe mir gedacht, dass es etwas mit deiner Familie zutun hat, und als du dann so ausgeflippt bist ...«

»Da dachtest du, du wüsstest irgendwas?«

Levin kommt näher und legt den Lappen zur Seite.

»Es tut mir leid, okay? Ich weiß nicht, wieso sie es mir einfach gesagt hat.« Ich schließe die Augen. »Ich will nur ehrlich sein.«

Weil du der erste Mensch seit Langem bist, dem ich wieder vollends vertrauen kann. Der erste Mensch, der mich versteht und nicht einfach für geistig grenzdebil erklärt.

»Toll. Was willst du wissen? Welche Tabletten es waren? Ob ich in der Klapse war? Wie es mir jetzt geht? Keine Sorge, ich brauche keinen Trost, keine Fürsorge und auch kein ›Oh, das tut mir jetzt aber leid‹.« Levin sieht wütend aus.

Ich schüttle den Kopf. »Nichts davon. Du musst mir nichts erzählen, ich will nichts wissen. Das sind Dinge ...« Ich schlucke hart. »Das sind Dinge, die deiner Vergangenheit angehören. Ich will nur, dass es dir jetzt gut geht.«

Sind das die Abgase der Chemikalien, oder seit wann labere ich so einen Scheiß direkt aus Shakespeares Schnulzen?

»Mir geht es gut«, sagt Levin, doch er sieht mich nicht an.

»Ach ja? Fällt mir irgendwie schwer, das zu glauben, wenn du mich nicht einmal anschauen kannst, während du das sagst.«

Er kommt einen Schritt auf mich zu. Wir stehen uns so nahe, dass ich seinen typischen Geruch riechen kann - Rauch und Pfefferminz und irgendwas à la Axe-Männerdeo.

»Es geht mir gut, okay?« Levin sieht mich ernst an. »Ich will einfach Spaß haben und mein Leben leben und die ganze Scheiße, die mich abfuckt, vergessen.«

»Okay«, sage ich. »Okay.«

Er macht noch einen Schritt auf mich zu, dann nimmt er meine Hand. »Mach es nicht kaputt, Mila. Verkauf dich nicht an Typen wie Oliver, die dich nicht verdient haben.«

Verwirrt ziehe ich die Brauen zusammen. »Wie bitte?«

Levin dreht sich um und zuckt mit den Schultern. Er fährt auf seinem Skateboard ein paar Runden durch den Chemiesaal, ehe er sagt: »Unsere Zeit auf diesem Planeten ist begrenzt. Scheiß drauf, was die anderen denken. Sei du und mach, was du tun willst.«

Und mit diesen Worten positioniert er sich auf dem Lehrerpult und post vor sich hin, als wäre er bei irgendeinem sexy Shooting. »Na, wie seh ich aus?«

Ich kann nicht anders, als zu lachen.

Ich mag Levin, weil es ihm nicht peinlich ist, anders zu sein. Er genießt es in vollen Zügen - obwohl er eigentlich verschlossen ist und eigentlich ein sehr gefühlvoller Mensch ist. Irgendwie sind wir einfach so - zwei Jugendliche, die nicht ins System passen. Aber wenn wir einander haben, ist das irgendwie egal.

Am Heimweg denke ich über meine Familie nach. Und über Levin, und darüber, dass er tablettenabhängig war. Papa starb bei einem Unfall, und es vergeht kein Tag, an dem ich ihn nicht vermisse. Morgens, wenn ich aufstehe, denke ich an ihn, und abends, wenn ich ins Bett gehe. Seitdem er unser Leben verlassen hat, fehlt etwas in meinem Leben.

Es ist kurz vor fünf Uhr, als ich endlich zuhause ankomme. Mein erster Weg führt mich zur Handhygiene, weil ich mich im Bus an einer dieser ekelig klebrigen Halterungen, die von der Decke gespannt sind, anhalten musste, sodass ich erstmal fünf Minuten versuche, den unsichtbaren Dreck von meinen Händen zu waschen.

Der zweite Weg führt mich in die Küche, weil ich vor Hunger beinahe sterbe.

Doch als ich in der Küche ankomme, pralle ich zurück.

Vor mir steht Ma - und sie küsst einen Mann.

Einen Mann, der nicht Papa ist. Natürlich nicht. Papa ist tot.

Einen fremden Mann, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe.

Wieso lädt Ma einen fremden Mann zu uns ein? Und wieso ... wieso küsst sie ihn hier so?

Als Ma mich entdeckt, erstirbt ihr breites Lächeln. Sie starrt mich aus den rehbraunen Augen an, die ich geerbt habe, und ich starre zurück. Keine Regung. Irgendwann dreht sich der großgewachsene Mann um und starrt mich auch an.

Zwei zu ein, keine Chance.

»Mila...«, beginnt Ma irgendwann. »Das ... das ist Helmut.«

Sie blickt unwirsch im Raum herum, bis ihr Blick schließlich meinen auffängt - doch bevor ich irgendwas sagen kann, drehe ich auf dem Absatz um und renne aus der Wohnung. Ich schnappe mir meinen Rucksack und laufe ebenso rasant, wie ich gekommen bin, raus.

Das ist alles zu viel für mich.

Mama, wie ich sie dabei erwische, wie sie mit irgendeinem Helmut rummacht.

Denkt sie denn gar nicht an Papa?

Der Riss in meinem Herzen nimmt die Größe eines Kraters an, während ich tränenblind das Stiegenhaus runterlaufe.

Ich höre ihr Rufen nach mir, doch ich bleibe nicht stehen. Ich muss hier raus. Ich muss weg.

Dieser ... dieser Druck und all das, was auf meinen Schultern lastet, das ist einfach zu viel für mich. Flos Glück, sein perfektes Leben als perfekter Sportler und gutaussehnder Typ, Mas neuer Typ und sie wie sie ihn küsst ... das ist zu viel.

Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Als würde ich ertrinken, obwohl ich an der Oberfläche schwimme.

Seit Papa gegangen ist, habe ich keine Träne geweint, und nun laufe ich tränenblind durch die Straßen Hamburgs. Die Tränen laufen mir in Sturzbächen über die Wangen, und ich bin machtlos dagegen. Ich höre immer wieder Kayas Stimme in meinen Ohren.

Er war abhängig.

Er war abhängig.

Er. War. Abhängig.

Ich laufe weiter, einfach weiter, bis zum Hafen hinunter, bis zu einer leeren Sitzbank. Ich laufe, bis mir die Rippen stechen, und setze mich schweratmend. Die Möwen kreischen, doch sie können mir nichts anhaben.

Dort, wo ich anatomisch gesehen mein Herz als beheimatet erklären würde, tut es richtig weh. Als würde etwas fehlen, was ich mir so sehr wünsche. Papa fehlt mir so schrecklich sehr, und Levin hatte recht.

Viel zu lange habe ich mir verboten, daran zu denken und zu weinen.

Und jetzt holt mich der ganze Scheiß ein.

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