Sechstes Kapitel
Sechstes Kapitel
Tiger & Intelligenzbestie
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Um fünf nach drei biege ich auf dem Fahrrad in die Mozartstraße ein, wo der Park auf einem hässlichen, kleinen Platz liegt. Der Platz heißt »Mozartplatz«, aber der Park hat keinen Namen.
Ich habe nicht einmal eine Ahnung, ob Levin aufkreuzen wird. Gestern Nacht bin ich alles noch einmal durchgegangen und zu der rationalen Entscheidung gekommen: Auch wenn mich Levin auf die Palme bringt, ist er der optimale Kandidat für meinen Plan. Gestern hat Levin mich nur etwas näher zu sich gezogen, und schon ist Oliver aufmerksam geworden. Wer hätte denn gedacht, dass das so einfach ging?
Wir müssen uns ja nicht küssen oder so. Das will ich ja gar nicht. Nur ein bisschen Händchen halten. So, dass es echt wirkt. Wirkt es ohne Küssen echt? Hm. Hoffentlich.
»Na, sieh mal einer an«, höre ich eine sehr vertraute Stimme, als ich gerade mein Rad abschließe.
Levin.
Er ist also doch gekommen.
»Die Irrenanstalt scheint Ausflugstag zu haben«, kontere ich.
»Nicht schlecht, aber ist das überhaupt ethisch korrekt, sowas zu sagen?«
»Traust du denen nicht zu, sich unter Menschen zu mischen?«, frage ich und lasse das Schloss einrosten. Dann stehe ich auf. Levin lehnt an einem der Bäume, die Arme verschränkt. Er sieht lässig aus. Er ist lässig. Er weiß einfach, wie das geht. Ich würde das auch gerne können.
»Und wie ich sehe, bist du wohl auf«, nickt Levin und stößt sich vom Baum ab. »Ich habe dich gestern nicht mehr gesehen. Bist du gut nach Hause gekommen?«
»Ganz offensichtlich, sonst stünde ich jetzt nicht hier«, fauche ich.
»Auf den Mund gefallen bist du am Heimweg definitiv nicht.« Levin nickt. Dann fügt er etwas leiser, aber gerade so, dass ich es gut hören kann, hinzu: »Auch wenn es sich mancher vielleicht wünschen würde.«
»Oh bitte, wenn es dich so sehr aufregt, wieso bist du dann überhaupt hergekommen?«, frage ich genervt. Es ist heiß, das macht mich genervt. Levin macht mich genervt.
»Deal ist Deal. Ich bin ein aufrichtiger Mensch.« Er zuckt mit den Schultern.
Ich beiße mir auf die Zunge.
Das ist attraktiv.
Und selten. Ist es deswegen attraktiv?
»Aha.«
»Also, was ist jetzt? Hat's was mit deinem Oliver zu tun?«
Ich deute auf eine Bank. »Setzen wir uns lieber Mal.«
»Angst, dass ich dich von den Socken werfe?« Levin hebt grinsend eine Augenbraue.
»Wahnsinnig große«, nicke ich mit großen Augen bestätigend. Er lacht nur noch lauter.
»Na wenn das nicht der ideale Grundstein einer Beziehung ist, weiß ich auch nicht«, sagt Levin grinsend. Er setzt sich auf das feuchte Holz, als würde er die herbstliche Nässe gar nicht spüren. Vielleicht tut er das gar nicht. Auf jeden Fall ziehe ich meine Jacke aus und setze mich auf sie, weil ich nicht nass werden will. Levin beobachtet mich zwar, aber er sagt nichts. Stattdessen lehnt er sich demonstrativ auf die nasse Lehne zurück.
»Also. Du und Oliver. Was ist da los?« Er klingt forsch, sodass ich etwas zusammenzucke.
»Ist es wirklich so offensichtlich, dass ich ihn mag?!«, fauche ich wütend. Es ärgert mich, dass ich in Levins Gegenwart das Gefühl habe, ein offenes Buch zu sein. Ich meine - er liest und blättert in mir, obwohl er mich nicht einmal kennt, und ich kann das Ganze nicht einmal verhindern!
»Ja, schon«, sagt Levin so brutal ehrlich, dass mir gar keine richtige Antwort darauf einfällt.
»Na super«, murmle ich schließlich mit einiger Verspätung.
»Ist doch egal«, wirft Levin ein. Er zuckt mit den Schultern. »Du bist fast achtzehn. Kannst du ihm nicht einfach sagen, dass du ihn magst?«
»Um dann von ihm zurückgewiesen zu werden?«, frage ich sarkastisch. »Nein, danke, ich verzichte.«
»Dann weißt du's wenigstens«, murmelt Levin.
Ich schubse ihn auf die Seite, sodass er fast von der Bank fällt, aber das ist mir in dem Moment egal. Levin hat eine dermaßen ehrliche Art, dass es mir fast lieber wäre, er würde mir das Blaue vom Himmel erzählen. Oder mich wenigstens vor seinen intelligenten Aussagen warnen, damit ich mich emotional wappnen konnte.
»Wofür war das bitte?«, ruft Levin und rappelt sich hoch.
»Sei leise. Wenn das funktionieren soll, dann solltest du ein bisschen netter zu mir sein!« Ich fauche ihn so wütend an, dass ein vorbeigehendes Pärchen interessiert zu uns sieht. Der Mann und die Frau sind schon ziemlich alt und verhutzelt, aber trotzdem schauen sie so gespannt zu uns, als wären wir noch besser als das Kasperltheater.
Was wir wahrscheinlich auch sind.
»Und du solltest mich vielleicht nicht so behandeln, als würdest du mich liebend gerne in den nächsten Straßengraben schubsen«, antwortet Levin so entspannt, dass ich ihm einen komischen Blick zuwerfe. Kann es sein, dass er irgendwie Stimmungsschwankungen oder so hat? Auf einmal ist er nämlich nicht mehr genervt, sondern fast schon macho-haft. Er lehnt sich ein bisschen lässiger zurück, und -
oh Gott, streicht er gerade wirklich über mein Bein?
Seine Lippen verziehen sich zu einem sanften Lächeln, sodass diese unverkennbar süßen Grübchen zum Vorschein kommen, die trotz aller Wut ein kleines Feuerwerk in meinem Bauch auslösen.
»Spiel mit«, zischt er gerade noch so durch sein Zahngehege, dann erkenne ich, warum er sich so komisch benimmt.
Eine Gruppe Jugendlicher steigt aus dem Bus am Mozartplatz. Die Türen schließen sich gerade, während die Mädchen ihre Regenschirme aufspannen und untermalt von wildem Gekicher durch den Park spazieren. Wahrscheinlich deswegen, weil man auf der anderen Seite des Parks gut in die Innenstadt kommt, ohne mit einer Kolonne Touristen rechnen zu müssen.
»Oh«, ist das einzige, was meinem Mund entweicht. Ein ziemlich schwaches Oh der späten Erkenntnis. Ich kenne diese Mädchen. Sie gehen auf meine Schule. Ist das nicht sogar... Ja, doch, das ist doch Kiki!
Intuitiv legt Levin seinen Arm um meine Schulter, sodass ich auf einmal seinen Atem ganz nahe an meinem Hals spüre. Heißer Atem, der ganz komische Gefühle in mir hervor bringt.
Die Mädchen kommen immer näher - und langsam verstehe ich Levins Vorhaben. Denn wer kann ein Gerücht besser verbreiten, als eine Gruppe quakender Händeln, die nur darauf warteten, mit dem besten Klatsch und Tratsch den tollsten Hahn zu bezirzen?
»Schau vielleicht noch ein bisschen entgeisterter drein, das macht die Sache nur glaubwürdiger«, schnurrt Levin so sarkastisch in mein Ohr, dass ich die Augen rollen muss. Es schafft auch nur er, nach außen hin so auszusehen, als würde er mir gerade irgendwelche schmutzigen Sachen ins Ohr flüstern, dabei weist er mich eigentlich nur zurecht.
»Lustig bist du«, murmle ich.
»Lustig, lustig, tralalalaaa«, singt Levin leise vor sich hin, und bei jedem ›la‹ kommt er mir ein bisschen näher, bis er einen Kuss auf meine Wange haucht. Mir wird warm im Gesicht. Mittlerweile sind die Mädchen so nahe an uns, dass ich jedes Wort verstehen kann - und zweifelsfrei reden sie über uns. Genau das, was Levin wollte.
»Die sind zusammen?!«, fragt ein Mädchen entgeistert. Ich kenne ihren Namen nicht, weil sie unter mir in der Stufe ist, aber ich glaube, es ist irgendwas in Richtung Anne. Oder so.
»Wusste ich auch nicht«, flüstert Kiki so laut zurück, dass es sich wie Zimmerlautstärke anhört. Dabei muss man dazu sagen, dass wirklich alle Mädchen Levin mit so anzüglichen Blicken mustern, dass ich intuitiv eine Bein über seines schlage und meine Hand in seinen Nacken lege.
Ja, gut, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber es soll ja glaubwürdig sein, nicht wahr?
Tatsächlich zieht Levin kurz erstaunt eine Braue hoch, doch der Kerl ist selbstsicher wie eh und je. Seine Rolle beherrscht er so perfekt, dass ich es ihm glatt abgekauft hätte, wenn ich es nicht besser wüsste.
Kikis Augen weiten sich sichtlich, woraufhin ich sie kampflustig angrinse. Tja, denke ich schelmisch, da hat sie wohl keine Chance mehr bei Levin.
»Ach, ich habe noch etwas vergessen«, werfe ich ein, als der Girls-Club vorbeigezogen ist. Als hätte ich mich verbrannt, nehme ich meine Pfoten von Levin und rutsche ein paar Zentimeter nach links, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen.
Er zieht nur fragend eine Braue hoch.
»Kannst du in der Zeit, in der wir so tun, als wäre da was, keine anderen Mädchen sehen?«, frage ich hoffnungsvoll, schiebe aber erklärend hinterher: »Nur, damit es auch wirklich glaubwürdig ist!«
Er zuckt mit den Schultern. »Mhm«, macht er bloß und schaut in die Ferne. Dann scheint ihm irgendwas einzufallen, denn er steht so eilig von der Bank auf, dass erneut zusammenzucke. Levin nimmt sein Skateboard und geht einfach, aber auf halbem Weg scheint ihm dann doch aufzufallen, dass er was vergessen hat (zum Beispiel, sich zu verabschieden).
Doch er kommt nicht für die Verabschiedung zurück. Stattdessen sagt er: »Ich verstehe nicht, was alle an diesem Oliver finden. Der Typ hat einen größeren Stock im Arsch, als mein Mathelehrer, und das heißt was.«
Mit diesen Worten dreht er sich um und geht. Verwirrt bleibe ich zurück und sehe ihm nach, bis der dunkle Haarschopf irgendwann in der Menge verschwimmt und ich nur noch die Leere anstarre.
Irgendwas prickelt noch immer auf meiner Wange. Rasch wische ich mir mit der Handfläche über die Wange, als könnte ich das Gefühl von Levins Lippen auf meiner Haut damit beseitigen.
* * *
Ich lasse den Geschmack vom Kaffee auf meiner Zunge einwirken, ehe ich ihn herunterschlucke und mich den Sonnenstrahlen zuwende, die sich in den letzten fünf Minuten gezeigt haben.
Merle und ich kampieren auf dem Schulhof, direkt auf unserer Mauer, und halten eine Pause ab. Sie, weil sie eine freie Stunde hat, und ich, weil ich keine Lust auf Biologie habe.
»In einer Woche hast du Geburtstag«, stellt Merle fest, während sie ihren Multivitaminsaft mit Zitronenscheiben hörbar schlürft. Merle ist immer schon das Mädchen mit der coolsten, leckersten Jause gewesen, weil ihr Kindermädchen nach wie vor dafür zuständig ist.
»Mhm«, stoße ich aus. Darüber habe ich in den vergangenen Tagen auch schon nachgedacht. Wegen des Ereignisses von vor drei Tagen jedoch, als Levin und ich auf der Bank saßen, habe ich nun weniger Gedanken daran verschwendet. Die freie Gedankenzeit habe ich stattdessen Levin gewidmet, sehr zu meinem Missfallen, doch ich komme nicht umher, darüber nachzudenken, wieso er sich so komisch benommen hat.
Ich will es Merle erzählen, aber noch nicht jetzt. Merle ist eine der größten Klatschtanten, die ich kenne. Wenn sie irgendwas hört, erzählt sie es sofort weiter. Das spräche eindeutig gegen meinen Plan. Zu meiner Überraschung hat sie mich noch gar nicht auf diese Sache zwischen Levin und mir angesprochen (worüber ich ganz froh bin, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich ihr ins Gesicht lügen kann - und will). Und das, obwohl so ziemlich jeder davon weiß. Kiki hat ganz schöne Arbeit mit ihren Mädchen geleistet, das muss man ihr lassen.
»Ein Jahr älter. Keine besonders verlockende Aussicht«, sage ich schulterzuckend.
»Mit achtzehn kannst du Alkohol kaufen.« Sie schlürft an ihrem alkoholfreien ›Cocktail‹, wie sie den Saft nennt. »Den harten Alkohol«, fügt sie vielsagend dazu.
»Brauch ich nicht. Solange ich Kaffee habe und ein gutes Buch, ist alles gut. Dafür braucht man kein Mindestalter.« Ich nehme noch einen Schluck.
»Jaja. Ich verstehe schon. Soll ich dir vielleicht das Strickset schenken, das ich meiner Oma letztens mitgebracht habe?« Sie rollt die Augen. »Und du willst wirklich keine Party schmeißen? Nichts? Nicht mal im...«, sie hebt die Hände und malt Redezeichen in die Luft, »kleinen Kreis?«
Ich werfe ihr einen Blick zu, der wohl alles ausdrückt, was ich denke.
Im kleinen Kreis - keine Ahnung, was Merle sich darunter vorstellt. Bei ihr zu Hause ist alles eine Dimension größer, da wäre schon eine normale Party mit einer normalen Gästeanzahl eine kleine Party.
»Wie ging es dir eigentlich nach der Party? Ich habe dich gar nicht mehr gesehen, nachdem ihr alle raus seid!« Merle reißt mich aus den Gedanken.
Ich schnaube verächtlich auf. »Ja, du hattest ja auch nur Augen für deinen Jules.« Aber dann halte ich mich zurück, weil ich genau weiß, dass ich es wohl nicht anders getan hätte, wenn Oliver und ich an ihrer Stelle gewesen wären. »Es war okay. Ich bin heim.«
»Mhm«, stößt Merle wenig zufrieden aus.
»Ähm, du, Merle...«, beginne ich aus einem plötzlichen Andrang heraus, mich ihr anzuvertrauen.
»Ja?«, fragt sie neugierig und sieht mich schief an. »Was denn?«
»Du weißt ja, dass ich Oliver... naja, ganz gerne mag«, druckse ich ein bisschen unsicher herum.
Merle nickt. »Das hast du mir in den letzten vier Jahren ungefähr dreißig Mal am Tag gesagt. Schau nur wie schön sein goldenes Haar ist«, äfft sie mich nach. Ich verdrehe die Augen und knuffe sie in die Seite, woraufhin Merle kichert.
Oh Mann. Vielleicht war es eine doofe Idee, mich ihr anzuvertrauen.
»Na, jedenfalls habe ich letztens in einem Artikel gelesen, dass man Typen gut eifersüchtig machen kann. Und dann habe ich Levin kennengelernt, und naja, er hat eingewilligt, mir zu helfen, Oliver eifersüchtig zu machen und jetzt-«
»Jetzt steckst du ganz schön in der Scheiße, weil die halbe Schule denkt, dass du und der Schottenbrünn-Schönling etwas am Laufenden habt und die andere halbe Schule hasst dich, weil du etwas mit Levin am Laufenden hast. Dabei soll das alles nur eine Lüge sein?«, fragt sie so ungläubig, dass mir fast übel wird.
Ups. Vielleicht hätte ich ihr früher davon erzählen sollen.
»Äh, ja, so in der Art«, murmle ich.
»Wow«, sagt Merle anerkennend. »Reife Leistung. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Typ wie Levin Hartmann sowas mit sich machen lässt.«
»Kennst du ihn etwa gut?« Unsicher sehe ich sie an.
Sie zuckt mit den Schultern. »Ach, was man so hört. Paar Drogenstories hier, paar Mädchenstories dort... Hauptsächlich habe ich meine Quellen von Cynthia. Er lebt ja noch nicht lange hier. Ein Jahr oder so. Dafür ist er schon ziemlich berüchtigt.«
Drogenstories. Mädchenstories. Das klingt gar nicht so wie der Levin, den ich kenne.
»Du willst mir also weismachen, dass ich mich auf irgendeinen Macho eingelassen habe, der in seiner Freizeit Öfen baut und Speck zieht?«, frage ich nach.
Merle nickt. »Also, ich glaube nicht, dass er synthetische Drogen nimmt. Probiert hat er's sicher mal, aber du weißt ja, wie das mit der Chemie ist. Macht dumm und schirch.«
Ha, keine Eigenschaft, die er hat.
»Einige Mädchen vom Heine-Gym haben sich eh schon an ihn rangemacht, aber sonderlich offen für mehr als nur eine Nacht in Manila war er nie. Deswegen wundert es mich, dass er nun scheinbar so tief in die Tasche greift.«
»Vielleicht hat er selbst noch eine Rechnung mit Oli offen?«, überlege ich.
Merle zuckt mit den Schultern: »Das klingt plausibel, ja, vielleicht. Die Gerüchteküche brodelt jedenfalls, das weißt du ja, oder?«
Ich nicke. »Kiki hat uns gesehen.«
Merle hebt vielsagend eine Braue. »Bei was?«
»Nichts. Wir saßen nur nebeneinander auf der Bank. Sie hat sich den Rest selbst zusammengereimt.« Ich zucke mit den Schultern. Darüber, dass Kiki über eine solch blühende Fantasie verfügt, bin ich gar nicht so traurig. Immerhin hat sie vermutlich schon ziemliche Arbeit geleistet, was das Gerücht zu verbreiten anging, und das ist schließlich eine der tragenden Säulen meines Plans.
»Du spinnst doch, Mila«, sagt Merle grinsend und schüttelt den Kopf.
»Wieso denn?«
»Ich verstehe echt nicht, warum du es Oliver nicht einfach sagst!«, ruft sie.
Vielleicht etwas zu laut, denn wie aufs Kommando taucht jemand hinter uns auf - es ist Jules! Was macht der denn hier?
»Solltest du nicht im Unterricht sitzen?«, frage ich erstaunt und runzle die Stirn. Jules ist wirklich nicht der Typ, der oft schwänzt - vor allem, weil er es sich mit seinen miesen Noten eigentlich gar nicht erlauben kann. Nicht, dass es mit guten Noten legitim wäre, aber ich zum Beispiel stehe in Bio auf einer glatten zwei, und er kämpft um seine vier.
Er zuckt mit den Schultern. Merles Gesicht glüht richtig, als sie ihn sieht. »Genau wie du, schätze ich.«
Das lasse ich unkommentiert, sondern betrachte stattdessen die Verwandlung von meiner besten Freundin in eine ferngesteuerte Puppe, deren Augen beinahe zu Herzchen mutieren. Oh Gott. Hoffentlich sehe ich nicht so aus, wenn ich Oli ansehe...
»Also, was wollt ihr Oli erzählen?«, fragt Jules neugierig und setzt sich zu uns.
»Äh... Mila feiert ihren achtzehnten Geburtstag!«, platzt es aus Merle heraus.
Oh mein Gott.
Mein erster Wunsch ist es, Merle den Hals umzudrehen. Aber Merle denkt gar nicht daran, ihre Klappe zu halten, stattdessen setzt sie hinterher: »Also. Diesen Freitag, bei mir zuhause. Das wird die Fete des Jahres! Wenn nicht des Jahrzehnts!« Sie kichert affig und wirft ihr blondes Haar in den Nacken.
Meine Lippen verwandeln sich in einen schmalen Strich. Ich habe das Gefühl, dass all mein Blut aus meinem Körper weicht, und plötzlich ergreift mich ein seltsames Schwindelgefühl.
»Merle...«, murmle ich leise, aber Merle hört immer noch nicht auf, zu reden. Dafür hört sie mit jedem Wort, das ihren Mund verlässt, mehr auf zu denken.
»Ja, ein richtiges Fest wird das! Wir wollten Oli auch noch dazu einladen, und nimm deine Freunde vom Basketball gerne mit! Und die Schottenbrünn-Jungs, das Haus ist riesig! Das wird so cool!« Sie quiekt leise.
»Merle...«, fauche ich wieder, diesmal etwas bestimmter.
Aber Merle ist so fasziniert von Jules' sonnigem Lächeln, dass sie mich komplett ignoriert. Ich seufze und will gerade aufstehen, als die Schulglocke läutet.
* * *
Etwas später als der Hauptstrom verlasse auch ich das Schulgebäude. Ich habe mich zwar von Merle verabschiedet, aber die war so in ihren Jules verknallt, dass sie es wahrscheinlich gar nicht richtig mitbekommen hat und ihn vermutlich nach wie vor mit ihrem Bambi-Blick mustert.
Um den Alltagsgeräuschen und den Gesprächen meiner Mitschüler zu entweichen, stöpsle ich demonstrativ meine Kopfhörer in die Ohren und schalte Daughtry so laut, dass mein Handy vor Dezibelbelastung fiept. Aber das ist mir egal. Ich habe keine Lust.
Was zum Teufel ist das gewesen?
Ich habe Merle klar und deutlich gesagt, dass ich meinen Geburtstag nicht groß feiern will. Einfach allein schon deswegen, weil ich es hasse, Geburtstage zu feiern. Wofür wird man überhaupt gefeiert? Für die Geburt wohl nicht, da macht schließlich die Mutter mit der Unterstützung der Hebamme die ganze Arbeit. Und ein weiteres Jahr auf diesem Planeten auszuhalten, ist jawohl keine wahnsinnige Meisterleistung.
Schlecht gelaunt mache ich mich auf den Weg zu den Fahrradständern. Ich bin über jeden Tag, an dem ich nicht mit dem Bus fahren muss, dankbar, weil mir der Intimitätsaustausch bei einem aufgewärmten Sitz eindeutig zu viel ist. Man hat das Gefühl, dass einem jeder in den Nacken atmet und schnauft und irgendwo stinkts immer.
Lieber fahre ich zehn Minuten länger mit dem Fahrrad und strample mir den Arsch ab.
Dermaßen schlecht gelaunt bin ich schon lange nicht mehr gewesen, aber Merle hat mich wirklich enttäuscht. Vor allem, weil sie genau weiß, dass ich Geburtstage hasse und definitiv die Letzte bin, die da aufkreuzt.
Noch während ich zu den Fahrradständern gehe, merke ich, dass etwas anders ist. Irgendwas liegt in der Luft, das den Tag anders macht.
... Und als ich dann bei meinem dunkelroten Fahrrad ankomme, weiß ich auch, was anders ist: Da steht jemand. Lässig hat er die Arme verschränkt. Ihm fallen ein paar seiner kakerlakenschwarzen Haarsträhnen in die Stirn. Er blickt sich seelenruhig um, als würde er auf jemanden warten. Und er trägt wieder diese komischen roten Shorts.
»Scheiße«, murmle ich gerade noch vor mich hin. Einen Moment lang überlege ich, einfach die Kapuze über den Kopf zu stülpen und zu gehen, doch gerade, als ich den Gedanken zu Ende gedacht habe, treffen sich unsere Blicke. Es fühlt sich so an, als würde ein Lichtblitz durch die Luft gleiten.
Levin. Was zum Teufel hatte er hier zu suchen? Er war so ziemlich der letzte, mit dem ich mich gerade unterhalten wollte.
»Was willst du hier?«, fahre ich ihn schlecht gelaunt an, als ich bei meinem Fahrrad ankomme. Den Abgang von letztens durfte er mir eindeutig noch erklären.
»Ich dachte, ich überrasche meine Freundin mal, indem ich sie von der Schule abhole«, sagt er schulterzuckend und stößt sich von dem Metallständer ab, gegen den er sich bis dato gelehnt hat. Er trägt Converse, die von oben bis unten mit Edding bemalt sind.
»Überraschung gelungen und jetzt bitte verzieh dich«, knurre ich, während ich in die Hocke gehe, um mein Fahrradschloss zu entsperren. Levin baut sich so demonstrativ vor mir auf, dass ich sogar seinen Geruch wahrnehme, obwohl uns immer noch ein Meter trennt. Dieser Geruch geht mich durchs ganze Mark.
»Oh bitte, fahr die Krallen ein, Tiger«, schnaubt Levin. »Du könntest wenigstens danke sagen, dafür, dass ich mir den ganzen Scheiß hier antue.«
Missmutig knalle ich das Fahrradschloss in den Korb.
»Danke, okay?!«, fauche ich. »Danke vielmals.«
»Also, mit der Schnute glaubt dir keiner, dass wir was am Laufenden haben«, teilt mir Levin auf seine gewohnt kühne Art und Weise mit.
Ich rolle die Augen. »Soll ich dir um den Hals fallen und dir jetzt eine Striptease abliefern, oder was?«
Levin scheint einen Moment lang wirklich überlegen, sodass ich ihn gegen die Schulter boxe. »Igitt, du Mistkerl!«
Zu meiner Verwunderung jedoch fängt er galant meine Faust auf und umschließt sie mit seiner Hand. Sie ist warm und ein bisschen rau, aber nichts davon hält mein Herz davon ab, einen überraschten Satz zu machen.
Noch während Levin mich näher zu sich zieht, murmelt er in mein Ohr: »Oli sieht gerade her.«
Ich versteife mich kurz, dann lasse ich diese zugegeben ganz schön enge Umarmung doch zu. Was tut man nicht alles für seinen Crush, hm?
»Er kommt auf uns zu«, sagt Levin. Höre ich da etwa einen leicht panischen Unterton in seiner Stimme?
Ich schlucke und drücke Levin einen Kuss auf das Kiefer, weil das de facto das einzige ist, was ich in dieser engen Klammerumarmung sehe, und weil ich glaube, dass man das als Pärchen so macht. Stimmt doch, oder?
Gott, ich habe keine Ahnung von dem ganzen Scheiß, aber Levin lacht leise.
»Na, ihr?«, höre ich Olis Stimme hinter mir. Ich löse mich langsam von Levin, aber er lässt nicht zu, dass ich mich gänzlich entferne. Stattdessen lässt er einen Arm um meine Taille, sodass zwischen uns nur noch mein Fahrrad steht.
»Hey«, sage ich etwas außer Atem.
»Ich wusste gar nicht, dass ihr zusammen seid«, platzt es aus Oli raus.
Überrascht hebe ich die Brauen. Das ging ja schneller als gedacht.
Levin zuckt mit den Schultern. »Das Herz will, was es will, nicht war, meine Schmusebuse?«
Nur mit Mühe kann ich einer pikierten Gesichtsmimik widerstehen. »Ähm... Genau...«, murmle ich etwas verspätet. »Meine kleine Intelligenzbestie.«
Oli verzieht keine Miene.
»Das ging ja schnell. Vor einer Woche kanntet ihr euch doch nicht einmal, oder?«, fragt er argwöhnisch nach.
Ich widerstehe nur schwer dem Drang, meine Augen zu verdrehen. Na und? None of your business, will ich knurren, aber das wäre etwas vorbei am Ziel dieser Mission.
»Oh... Doch, doch, wir sind alte Freunde. Wir kennen uns schon ewig!«, sage ich etwas nervöser als zuvor.
Oli zieht eine Augenbraue erneut hoch. »Aha.« Er kratzt sich im Nacken, dann murmelt er: »Hast du morgen schon etwas vor, Mila?«
Levin zieht mich näher an sich. »Sorry, aber da sind wir auf einem Date.«
»Und übermorgen?«, versucht es Oli weiter.
»Da auch!«, wirft Levin ein, bevor ich etwas sagen kann. Stattdessen lächle ich wie eine bescheuerte Wachsfigur aus Madame Tussauds.
»Schade.« Oli zuckt mit den Schultern und wirft mir einen langen Blick zu. »Aber probieren kann man es ja mal. Übrigens, ich freue mich schon auf die Party am Freitag. Wird bestimmt lustig.« Er lächelt mich so warm an, dass mein Herz droht, zu flüssigem Karamell zu werden.
»Mmmh«, mache ich nur, weil ich nichts anderes herausbringe.
Erst, als Oli verschwunden ist, bringe ich wieder den nötigen Sicherheitsabstand zwischen Levin und mich.
»Oh Gott, dieser Typ ist echt so eine Schleimkröte«, regt sich Levin sofort auf.
Ich ziehe die Brauen zusammen. »Boah, bitte sei einfach leise.«
Ich zerre mein Fahrrad aus der Halterung und lasse Levin einfach stehen, aber der versteht natürlich sofort, was ich vorhabe, und läuft mir hinterher.
»Krieg ich noch einen Abschiedskuss?«, ruft er. Ich kann das schelmische Grinsen beinahe hören, so sehr trieft seine Stimme davon. Ich höre den Sarkasmus so deutlich, dass ich ihm einfach nur den Mittelfinger zeige. Subtil, sodass nur er es sieht. Das Grinsen auf seinen Lippen vertieft sich, sodass nun seine Grübchen wirklich zum Vorschein kommen. Ein wohliger Schauer durchläuft meinen Magen, als ich sehe, wie viel Lebensenergie in seinen Augen sprudelt.
»Wir sehen uns, Tiger«, ruft er mir nach.
»Worauf du Gift nehmen kannst, Intelligenzbestie.«
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