Neunzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Fäkalienverseuchte Löcher und am Scheiße abladen
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Es hat sich herausgestellt, dass Kaya beim Laufen von einem Auto angefahren wurde, das sie nicht gesehen hat, weil sie ohne Leuchtplaketten unterwegs war.
Ein Autounfall.
Angefahren.
Es erinnert mich an den Tod meines Vaters, doch Kaya wurde reanimiert und hat vorerst zumindest den Kampf gegen das Ungewisse gewonnen. Einige Wochen wird sie wohl noch im Rollstuhl verbringen müssen, weil ihr linkes Bein völlig deformiert und mit Frakturen übersät ist, doch immerhin lebt sie. Sie atmet eigenständig und sie kann auch wieder essen.
Es sind einige Tage vergangen, doch ich bin mir immer noch nicht sicher, wie ich auf dieses Etwas, das zwischen Levin und mir ist, reagieren soll. Immerhin weiß ich jetzt, dass da nicht nichts ist. Ich weiß, dass da etwas ist, das ich bisher mit niemandem anderen hatte - nicht einmal mit Oliver. Etwas, das uns verbindet, das mir ein Lächeln ins Gesicht und ein wohliges Gefühl in den Bauch zaubert.
Am Freitagnachmittag ist das Erntedankfest der Gemeinde Altona, das jedes Jahr besonders gern und groß gefeiert wird. Es ist so wie das Oktoberfest in München, bloß eben auf Hamburg projiziert, und da Merle eine absolute Schwäche für solche Auftritte hat, will sie unbedingt, dass wir gemeinsam hingehen.
Eigentlich habe ich auch Lust, wieder unter Menschen zu treten. Einige bekannte Gesichter sehen.
»Oliver wird auch da sein!«, ist Merles schlagfertigstes Argument, mit dem sie mir ständig in den Ohren liegt. War das früher auch so? Ist es mir damals nur einfach nicht aufgefallen?
Merle weiß schließlich gar nichts über Levin und mich und darüber, dass ich Levin mag. Und dass ich Oliver nicht mehr so gerne mag, wie zuvor. Dass Levin so viel weiser ist, als sie alle zusammen, und dass das Leben mit ihm irgendwie ... erträglicher ist. Leichter. Angenehmer.
Im Gegensatz zu meinem verhaltenen Enthusiasmus ist Merle Feuer und Flamme für dieses Erntedankfest. Der Clou davon ist, dass wir die Promenade entlang spazieren und von Stand zu Stand touren - die Geschäfte haben länger offen, an jeder Ecke gibts etwas zu trinken und zu essen und es herrscht ausgelassene Laune. Dabei wird Geld zur Erhaltung der Gemeinde Altona gesammelt - was aber mittlerweile eher einem Parteirepräsentationsfest gleicht, als einem wirklichen Fest, bei dem es um den Dank für die Ernte geht.
Merle und ich verabreden uns für achtzehn Uhr am alten Hafengelände. Ich will ihr noch eine Chance geben. Das will ich wirklich! So lange sind wir befreundet gewesen, da kann man doch über ein, zwei Dinge hinwegsehen, oder?
Am alten Hafengelände beginnt der Promenadenmarsch, der an zahlreichen Ständen, wo man Essen, Trinken und sonstiges Zeugs kaufen kann, vorbeiführt. Der große Jubiläumsplatz einige hundert Meter weiter nördlich ist das Ziel, wo es auch eine Rede vom Bürgermeister gibt.
Als ich pünktlich um kurz vor sechs auftauche, ist Merle bereits da.
»Hey!«, ruft sie enthusiastisch und umarmt mich so fest, dass ich nach Luft japse. Merle ist, wie eigentlich immer, schick gekleidet und sieht nahezu perfekt aus. Ihr Porzellanteint kommt durch die herbstliche Sonne gut zur Geltung, wodurch man sie glatt für einen Filmstar halten könnte.
»Hallo«, erwidere ich und lasse den Blick über die Promenade gleiten. »Kommt noch wer dazu?«
Merle und ich haben uns entfernt.
Von einander. Seelisch. Ist das ein Teil des Erwachsenwerdens? Der Start ist derselbe, doch jeder geht seinen eigenen Weg?
Natürlich weiß ich, dass diese innere Entfernung nicht zuletzt auch an mir liegt - ich habe ihr überhaupt nichts von Levin erzählt. Einfach, weil ich selbst keine Worte dafür finde und weil ich ihr keine Worte geben will, weil ich genau weiß, dass sie mich ausquetschen würde und dass sie alles haarklein wissen wollen würde.
»Ja, ich habe die Jungs auch zu uns bestellt«, erklärt Merle mit einem wissenden Grinsen. »Ich werde Jules um den Finger wickeln und du hast Oli ganz für dich allein!«
Meine Lippen verwandeln sich zu dem besten falschen Lächeln, das ich nur irgendwie zusammenbekomme. Wäre das ein guter Zeitpunkt, um zu sagen, dass ich irgendwie gar nicht mehr so sehr Interesse an Oli habe?
Es ist komisch. Bevor ich Levin kennengelernt habe, dachte ich, dass Oliver der perfekte Partner für mich sei. Ich meine - er sieht gut aus, ist nett, hat gute Noten, gute Zukunftspläne, eine gute Familie, einen guten Geschmack, aber ...
Levin hat passable Noten, keine Zukunftspläne, keine funktionierende Familie, einen fraglichen Geschmack und sieht ein bisschen mitgenommen aus. Naja, seine Kleidung zumindest. Aber er ist nett und er hat Charakter. Er kennt das Leben und baumelt mit den Beinen am Abgrund. Vielleicht, weil die Angst ihn zum Leben zwingt.
»Da sind sie ja!«, reißt mich Merle aus den Gedanken und winkt übertrieben auffällig irgendwem in der Menge zu. Ich folge ihrem Blick und entdecke eine Gruppe Jungs. Es sind einige der Raben, doch auch ein paar der Schottenbrünn Jungs sind dabei.
Ganz vorne gehen Oliver und Jules, dahinter Levin, Valentin und Leo, abseits Francesco und ein Mädchen, mit dem er sich unterhält, und noch ein Typ, den ich nicht kenne.
Na wunderbar. Dann ist das Chaos ja jetzt vorprogrammiert. Dass Levin Oliver nicht sonderlich ausstehen kann, weiß ich nämlich genau.
»Hey!«, quiekt Merle langgezogen und zieht Jules in eine innige Umarmung.
Die Jungs tauschen Begrüßungsfloskeln mit uns aus, wobei ich eher abseits stehe und sie dabei beobachte. Oli nickt mir kurz zu, ein breites, sonniges Lächeln auf den Lippen, während Levin und Valentin sich unterhalten. Levin schenkt mir keinen einzigen Blick, was mich ehrlich gesagt ein bisschen verletzt.
»Mila?«, höre ich Merles Stimme. Ich sehe auf.
»Hm?«
»Ich gehe ein wenig mit Jules spazieren. Du ...« Sie kommt näher und flüstert: »Du könntest ja auch was mit Oli machen!« Dabei schielt sich zu besagtem Herren und lächelt breit. Ich ziehe die Brauen zusammen.
Gerne hätte ich gesagt, dass das nicht geht, aber dann hätte sie gefragt, warum das nicht geht, und darauf hätte ich keine Antwort gehabt. Weil ich ihn nicht mehr mag? Weil er mir schnurzegal ist? Weil deine materialistische Perfektionssucht nichts für mich ist?
Aber bevor sie in irgendwelche unerforschten Gebiete meiner Seele vordringen kann, halte ich lieber die Klappe und spiele mit.
»Klar«, sage ich und hüstle vor mich hin. »Nichts lieber als das ...«
»Super, dann hätten wir das ja geklärt!« Sie klatscht fröhlich in die Hände und hakt sich bei Jules ein, mit dem sie kurz darauf verschwindet. Zurück bleiben Oliver, Valentin, Levin und ich. Francesco ist irgendwie abhanden gekommen, aber ich weiß nicht, wie oder warum. Levin und Val halten je ein Holsten in den Händen.
Ich stehe unwirsch wie ein unauffälliger Baum zwischen den Jungs. Irgendwie ist das gerade sehr komisch. Vor allem, weil Levin und ich die letzten Tage, seit Kayas Unfall, kaum mit einander gesprochen habe. Was genau passiert ist, habe ich schließlich durch Flo erfahren.
Nervös knete ich meine Finger. Valentin sieht in der Gegend herum, als würde er irgendwen suchen, während Levin auf sein Bier starrt und Oliver mich anstarrt. Mir wird warm im Gesicht, weil mir sein prüfender Blick unangenehm ist.
Habe ich irgendwas im Gesicht kleben, oder wieso sieht er mich so eindringlich an?
»Okay, also ...«, murmle ich gedehnt, weil ich diese merkwürdige Stille, erzeugt von Menschen, die sich zu viel zu sagen haben, nicht mehr aushalte. »Wir könnten ... ähm, wir könnten zum Paulibrückenplatz spazieren«, schlage ich schließlich vor.
Oli zuckt mit den Schultern. »Klar, wieso nicht? Klingt nett.«
Valentin hat sich nun endgültig verabschiedet, indem er mit einem blonden Mädchen abdampft. Zurück bleiben also nur noch Levin, Oliver und ich, die ich gerade lieber mir den Weg durch die Erde, am Erdkern vorbei und bis nach China buddeln würde.
Levin kann Oliver nicht besonders leiden und ich glaube, das wissen wir alle drei. Vermutlich beruht diese Antipathie aber sowieso auf Gegenseitigkeit, was unseren Abendspaziergang noch komischer macht.
Zögerlich setzt sich die Truppe schließlich in Bewegung, Oliver geht links neben mir, Levin etwas abseits dahinter, als wolle er nicht zu uns gehören. Ich hätte es irgendwie schön gefunden, wenn er neben mir ginge, aber sagen will ich auch nichts.
»Warum seid ihr eigentlich hier?«, frage ich schließlich, um die Kommunikation irgendwie zu fördern. Dieses wortlose Beinandergehen ist mir mehr als unangenehm.
»Wegen Jules«, erklärt Oli sofort, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich einen Mucks von mir gebe. »Er musste unbedingt wegen der Blonden her. Wenn du mich fragst - der Junge ist bis über beide Ohren in die Kleine verknallt.« Er zuckt mit den Schultern und lacht, aber ich ziehe die Brauen zusammen.
»Die Kleine hat einen Namen und heißt Merle, und nenn sie nicht ›Kleine‹«, fauche ich. Solche geschlechterspezifischen Verminderungsausdrücke kann ich noch weniger leiden als unehrliche Freunde.
»Sorry«, murmelt Oli und hebt abwehrend die Hände.
Wir schlängeln uns durch das Gewühle an der Hafenpromenade und folgen schließlich einer ruhigeren Gasse abseits, die mit wunderschönen, kleinen Boutiquen gefüllt ist. Die Markisen sind ausgerollt, obwohl es schon abends ist, und irgendwie erinnert mich diese Gasse mit ihren gotischen Gebäuden eher an Paris als an Hamburg.
Als wir an einem kleinen, alt aussehenden Buchgeschäft mit Antiquitäten vorbeikommen, kann ich mich nicht davon abhalten, kurz innezuhalten und einen neugierigen Blick auf das große Sortiment der alten Bücher zu werfen. Titel wie »Gulliver's Reisen« und »In Achtzig Tagen um die Welt« stechen mir ins Auge. Gedankenverloren lächle ich und streiche über einen alten Ledereinband.
Lesen ist Zeit meines Lebens ein wichtiger Teil meines Alltags gewesen, und immer, wenn ich an solchen kleinen, biederen Geschäften vorbeikomme, muss ich einen näheren Blick auf die Auslage werfen oder vielleicht sogar tiefer in das Portemonnaie greifen.
»Können wir nicht weitergehen?«, dröhnt Olivers Stimme wie durch Watte zu mir hindurch und löst den zauberhaften Bann der Bücher.
Ich sage nichts, sondern lasse das Buch, das ich gerade noch in den Händen hatte, wieder an seinen Platz zurück gleiten.
»Du siehst doch, dass sie sich die Bücher ansieht. Wenn du unbedingt weiter gehen willst, dann mach doch«, höre ich allerdings in diesem Moment Levins Stimme.
Überrascht sehe ich auf. Levin sieht weg, beobachtet eine plattgetretene Dose am Kopfsteinpflaster, und ich starre ihn an.
Oliver lacht abwertend auf. »Bist du etwa auch so ein Typ, der sich für uralte Bücher und vergilbte Seiten interessiert? Liest du nachts unter der Decke Charlotte Brontë oder was? Dann bist du definitiv nicht der Kerl, für den ich dich gehalten habe.«
»Anders, als es bei dir der Fall zu seien scheint, hat mein Gehirn neben dem Sport und der Schule noch Kapazität, zusätzliche Informationen, wie beispielsweise jene aus Büchern, aufzunehmen. Aber sowas kann man natürlich nicht von jedem erwarten, also krieche lieber in das fäkalienverseuchte Loch zurück, aus dem du gekrochen bist, anstatt hier die Scheiße abzuladen.«
Ich starre ihn genauso sprachlos wie Oliver an.
Das alles sagt Levin ganz entspannt, fast beiläufig, als unterhielte er sich über das Wetter und die Tageszeitungen.
Oliver hingegen bleibt lange nicht so ruhig, wie Levin. Er schnellt vor und packt den Jungen am Kragen, woraufhin er ihm irgendwas ins Ohr raunt. Das Ganze geht so schnell, dass ich kaum intervenieren kann.
»Willst du mir etwa Angst machen? Glaub mir, Mr. Ich-bin-so-geil, vor dir habe ich keine Angst.«
Levin lacht trocken auf, woraufhin Oliver ihn wieder loslässt und auf Distanz geht. Ich sehe Levin immer noch an, aber er ignoriert meinen forschen Blick. Ich will nicht, dass er meine Kämpfe austragt, doch das scheint sein ganz eigener Kampf zu sein.
Oli lächelt mich stattdessen an, als wäre nichts gewesen. Dieses schmierige Kotzgrinsen löst in mir wirklich nichts als Ekel aus, zumal ich nun gesehen habe, was sein wahres Gesicht ist. Hinter der visuellen Perfektion steckt so viel beschissene Verlogenheit.
»Okay, gehen wir, bevor das noch weiter eskaliert«, murmle ich und drehe mich zu den Jungs. Oli hat sich eine Kippe angezündet, während Levin sein Bier leert. Danach stellt er es auf den Boden, tritt die Hülse flach und wirft das Metall in den Mülleimer neben uns.
Unser nächster Halt ist eine ranzige, kleine Trafik, in der sich Oliver Zigaretten und Kaugummis kaufen will. Ehrlich gesagt wundert es mich ein bisschen, dass einer wie Oliver raucht, aber wenn es ihn erfüllt, soll es so sein. Ich habe nichts gegen Zigaretten, aber ich rauche selbst nicht.
Während Oli in der Trafik sein Unwesen treibt, warten Levin und ich draußen. Levin hat die Hände in seine ausgeleierte, dunkelblaue Jacke gesteckt und starrt in die Luft. Ich mustere ihn, sein seitliches Profil, und stelle fest, dass seine etwas zu lange Nase und die markanten Brauen, das runde Kinn und die starke Stirn ihm passen. Er sieht gut aus. Seine Haare hat er heute in einen Man-Bun zusammengesteckt, was ich noch nie bei ihm gesehen habe, und darüber trägt er ein graues Bandana. Es sieht verdammt gut aus.
Schließlich seufzt er und kommt auf mich zu.
»Was ist?«, frage ich.
»Ich wollte nochmal sagen, dass es mir leid tut, dass ich unangekündigt in deine Sitzung geplatzt bin«, sagt er mit roten Wangen.
»Schwamm drüber«, murmle ich. Je mehr wir darüber sprechen, umso unangenehmer wird es, also will ich das Thema möglichst schnell stilllegen. »Wie geht es Kaya?«
»Nicht gut«, murmelt Levin. »Ich hoffe, sie wird sie erholen.«
Ich schlucke hart. »Was ... was ist denn genau passiert?«
»Sie war Joggen und wurde von einem Auto angefahren, obwohl sie ihre Leuchtmarkierungen getragen hat. Das muss grob fahrlässig gewesen sein. Jedenfalls wurde sie reanimiert und ins Krankenhaus gebracht ... sie scheint schwere Schädel-Hirn-Frakturen zu haben und hat sich den Ober- und Unterschenkel gebrochen.«
Ich schlucke. Ich bin zwar kein Arzt, aber selbst für mich klingt das schrecklich.
»Das ... es tut mir leid«, sage ich leise und nehme aus einem inneren Impuls heraus Levins Hand. Als ich seine warme Haut spüre, jagen lauter kleine Nadelstiche über meinen Rücken. Auf einmal fühlen sich diese Gesten anders an.
»Es ... ist okay.« Er sieht mich nicht an. Seine blauen Augen sind umrahmt von tiefen Augenringen, wodurch die Sorge unweigerlich in mir hoch kocht.
»Wenn du reden willst, weißt du ...« Ich lasse den Satz unbeendet in der Luft hängen.
Ich muss ihn nicht beenden, denn er versteht, was ich sage.
»Ich bin froh, dass wir uns über den Weg gelaufen sind, Mila«, sagt Levin leise. Mein Blick heftet sich wie von selbst auf seine Lippen, für den Bruchteil einer Sekunde denke ich daran, wie es wohl wäre, sie zu küssen, doch dann werde ich zurück in die Realität katapultiert.
»Hab alles«, ertönt Olis Stimme hinter mir, sodass ich zusammenzucke und rasch Abstand zwischen Levin und mich bringe. Oli sieht neugierig aus, sagt aber nichts.
Ich sehe auf meine Hand, sehe zu Levin, und dann sehe ich weg.
Ich bin auch froh, dass wir uns über den Weg gelaufen sind, Levin.
Denn während ich längst dachte, nur noch eine leere Hülle ohne Gefühle und ohne Lebenswille zu sein, hat er mir das Gegenteil bewiesen.
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