Erstes Kapitel
Von Goldmarie und Pechmarie
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Scheiße.
Das ist tatsächlich der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt, als ich seine goldbraunen Locken erblicke, in seine grünen Augen sehe und diese Grübchen erblicke, die sich immer bilden, wenn er herzhaft lacht. Ein Blick und zack, zurück sind das Herzklopfen, die Nervosität und der Drang danach, mich in seiner Nähe aufzuhalten.
Ein Drang, der allerdings nie gestillt werden wird, auch wenn ich es mir sehr wünsche. Er ist eben perfekt. Er ist der ideale Kerl, den man seiner strengen Frau Mama vorstellt, er ist der Typ, mit dem man sonntags in die Kirche geht und er ist genau die Sorte Mann, von der man sich wünscht, es gäbe mehr. Tatsächlich wäre in Sachen Schwiegersohn wohl eher meine Mutter das Problem, die seit einem halben Jahr ihre verlorene Jugend wieder aufrollt und dabei ziemlich durchdreht.
Außerdem wird es nie soweit kommen, dass Oliver Schmidt meine Mutter kennenlernt — jedenfalls nicht als mein Freund. Das liegt einfach daran, dass er zu den coolen Leuten gehört, schlau ist, immer für einen Witz zu haben ist, im Basketballteam spielt und gerne eine Führungsrolle übernimmt — wieso sollte jemand wie er Interesse an jemandem wie mir haben?
Ich kann gar nicht aufzählen, wie oft mich andere Leute als ›komisch‹ betiteln. Ja, vielleicht bin ich komisch, weil ich real bin. Es ist mir egal, was Leute von mir denken, es ist mir egal, was Leute von meinem kratzbürstigen, vielleicht etwas zu morbiden Humor denken, und es ist mir egal, was die Leute um mich herum machen. Ich lebe mein Leben, ich vegetieren, skate ab und zu, aber meistens verkrieche ich mich in meinem Bett, weil ich diesen Lärm der Welt einfach abschalten will.
Keine Ahnung, wie es passieren konnte, dass ich mich in Oliver verknallt habe, aber es hilft mir definitiv nicht, dass ich jetzt hinter ihm sitze und die ganze Zeit seine breiten Schultern und seinen sonnengebräunten Teint vor Augen habe. Vermutlich liegt es einfach daran, dass er genau das ist, was ich gerne wäre. Für die meisten bin ich nämlich die Komische, die immer in der letzten Reihe sitzt und keine Freunde hat.
Eigentlich bin ich zufrieden damit — denn so lässt mich wenigstens jeder in Frieden.
Eigentlich.
Eigentlich ist es höchst verwunderlich, dass Merle und ich beste Freundinnen sind, und das schon seit der Grundschule. Damals hatten wir uns zwar gehasst, aber beginnt nicht jede gute Freundschaft so?
»Fräulein Krause«, reißt mich die zeternde Stimme meines Mathelehrers Herrn Schulte aus den Gedanken. Seitdem ich vor acht Jahren aufs Gymnasium gekommen bin, herrschen gewisse Spannungen zwischen uns. Vielleicht war ich das ein oder andere Mal ein bisschen zu vorlaut und vielleicht gab er mir dafür das ein oder andere Mal eine schlechtere Note. Aber im Großen und Ganzen bin ich gut in Mathe und er ist ein vom Leben müder Mittsechziger, der keine Lust mehr hat, inkompetenten Jugendlichen — tatsächlich nennt er uns so — das Rechnen beizubringen.
Gedankenverloren blicke ich zu dem glatzköpfigen Mann hoch, dessen riesiges, schwarzes Brillengestell seine milchig blauen Augen noch kleiner wirken lässt, als sie es ohnehin schon sind, Auf seiner Glatze tanzen Schweißperlen im Schein des LED-Lichts, das von der Decke strahlt, Walzer.
»Wärst du dann endlich einmal so freundlich, meinem Unterricht zu folgen, oder brauchst du wieder einmal eine Extraeinladung?«, fragt er und verzieht seine Gesichtszüge zu einer säuerlichen Grimasse.
»Wenn Sie schon so fragen...«, setze ich an, doch weil die Ader auf seiner Stirn so stark pocht, dass ich Angst habe, gleich einer Blutdusche zum Opfer zu fallen, zucke ich mit den Schultern. »Natürlich wäre ich so freundlich.«
»Wie zuvorkommend«, zetert Schulte sarkastisch. Seine Stimme hat eine natürliche Neigung zu Geschrei. Früher hatte ich Angst vor ihm, doch mittlerweile ist mein Gehör sowieso schon so geschädigt, dass ich es kaum noch wahrnehme. Die Schädigung liegt allerdings eher daran, dass ich meine Musik zu oft zu laut höre. Und trotzdem kann ich nicht die Welt abschalten, wenn ich nichts mehr von ihr hören will.
»Dann, Fräulein Krause, kannst du mir doch bestimmt verraten, was deine reizende Mitschülerin Kiara gerade gesagt hat«, fährt Schulte fort. Zwar hat er den Rückzug zur Tafel aufgenommen, trotzdem jedoch lässt er mich nicht in Frieden auf meinem Platz in der letzten Reihe vergammeln. Dabei gestikuliert der Lehrer wild mit dem Tafellineal herum, als wäre es sein Zauberstab.
»Oh, Herr Schulte, leider ist mir da ein unpässliches Missgeschick unterlaufen — ich sehe einfach nicht den Sinn darin, Kiaras worte zu wiederholen, immerhin hat sie sich solche Mühe dabei gegeben. Wäre das nicht Urheberrechtsverletzung?«, gebe ich nach kurzem Überlegen zurück.
Ich werfe einen Blick zu Kiki, deren Lipgloss selbst auf eine Entfernung von fünf Metern noch mehr als deutlich glitzert. Die Spiegelung ist so penetrant, dass ich kurz davor bin, meine Sonnenbrille als reinen Selbstschutz herauszukramen.
»Fräulein Krause«, zischt mein Lehrer durch die zusammengebissenen Zähne. »Wenn du dich nicht zusammenreißt, dann fliegst du!«
Ich lasse mich tiefer sinken, sodass ich hinter meiner Festung, alias meinem Rucksack, verschwinde.
»Wie ein Vogel aus dem Fenster«, gebe ich augenrollend zurück, allerdings so leise, dass es nur meine beste Freundin Merle hört, die daraufhin kichert. Schultes Gesicht ist knallrot.
Vielleicht sollte ich öfter meine Fresse halten. Vielleicht sollte ich dem Lehrkörper mehr Respekt entgegenbringen. Aber ich sehe darin keinen Sinn. Ich sehe in vielen Dingen keinen Sinn, ja, manchmal nicht einmal in meiner eigenen Existenz.
* * *
In der Pause sitzen Merle und ich auf der Bank gegenüber vom Sportplatz. Es ist unser Stammplatz, seitdem wir in der Oberstufe sind — und das weiß glücklicherweise auch jeder, wobei sich sowieso keiner in unsere Nähe traut. Möglicherweise liegt es an meinem Kleidungsstil, oder einfach nur an mir. Ich bin ja sowieso angsteinflößend, wenn es nach den meisten Meinungen geht. Gefährlich, wenn man eine eigene Meinung hat und einen Fick auf diese Welt gibt.
»Gott, Schulte und du, ihr werdet wohl auch nicht mehr warm miteinander«, gibt Merle zu bedenken, während sie ihre Pausenbox öffnet. Der köstliche Geruch von frisch gebackenem Nussstrudel strömt uns entgegen, woraufhin mein Magen rebellisch knurrt.
Ich zucke mit den Schultern. »Er ist mir egal. Von mir aus kann er mir gerne eine Fünf geben, das wird auch nichts daran ändern, dass ich sowieso nichts von der Schule und dem Schulsystem halte. Die erziehen uns zu kapitalsüchtigen Robotern, die immer brav ihren Mund halten.«
Vielleicht ist es ein wenig überspitzt dargestellt, aber ich halte wirklich nichts von der Schule. Dass ich im Gymnasium bin und dieses Jahr meinen Abschluss mache, liegt ganz allein an der Tatsache, dass meine Mutter mir verboten hat, ohne einen Schulabschluss oder eine Studienberechtigungsprüfung auszuziehen — und ich habe nicht vor für immer im Hotel Mama zu wohnen.
»Dabei hat doch gerade erst die Schule begonnen.« Merle reicht mir die Box. Den Strudel backt immer ihre Haushälterin, und diese Frau ist mehr als talentiert. Vermutlich geht es auf ihr Konto, dass ich im letzten Jahr ein bisschen zugenommen habe.
»Na und?«, frage ich und beiße in den Strudel. »Man musch sisch ja nischt mit jedem verstehen.«
Daraufhin nickt Merle bloß. »Ich meine ja nur.« Sie wirft einen Blick zum Sportplatz, wo gerade einige Jungs mit einem der schäbigen Bälle Basketball spielen. »Hast du eigentlich Oliver gesehen?«
Auf diese Frage hin verschlucke ich mich an meinem Stück Strudel und huste kräftig, doch weil der Strudel in meiner Luftröhre steckt und keine Anstalten macht, von dort zu verschwinden, sehe ich mich tatsächlich einige Sekunden lang dahinschwinden. Tod an Ersticken durch Nussstrudel wegen Typ, wenn das mal nicht ein Thema für die Tageszeitungen wäre.
Während ich vor mich hin röchle und versuche, den feinen Faden, an dem mein Leben hängt, dichter zu spannen, sieht mich Merle etwas komisch von der Seite an. Ich komme mir fast wie Schneewittchen vor — das Aussehen jedenfalls würde passen — doch leider habe ich keine sieben Zwerge, die mir zu Hilfe eilen.
»Allerdings«, krächze ich, sobald wieder Luft in meine Lunge strömt. Rasch trinke ich einige große Schlucke Wasser, um mich besser zu fühlen. Danach gehts wieder.
»Er sieht wirklich gut aus. Noch besser als vor dem Sommer«, schwärmt Merle verträumt. »Ich glaube, er hat viel trainiert, jedenfalls war er vor dem Sommer noch um einiges schmächtiger. Andererseits... in diesem Alter finden wohl die gröbsten Veränderungen statt, hm?«
Ich ziehe eine Braue hoch. »Du weißt, dass er für dich Sperrgebiet ist. «
Daraufhin rollt Merle ihre blauen Augen. »Jaja«, mault sie, »ich sage ja nur, dass er gut aussieht. Entspann dich, Mila. Ich werde schon nichts machen, was dich verletzt.«
»Oh, ich habe sowieso keine Gefühle«, gebe ich missmutig von mir. Wir wissen beide, dass das eine glatte Lüge ist. Ich hätte gerne keine Gefühle, denn meine Gefühle sind so übermannend, dass ich manchmal glaube, daran ersticken zu müssen, obwohl ich Luft bekomme.
»Natürlich, du Kampfmaschine.« Merles sarkastischer Tonfall ist nicht zu überhören. »Jules ist sowieso viel besser. Ich muss aber sagen... mit der Rabensieben, das wär schon ein Skandal. Du und er...«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Wieso ein Skandal?«
»Naja. Ihr seid sehr unterschiedlich.«
»Na und? Willst du mir damit sagen, dass ich ihn nicht verdiene?« In diesem Thema bin ich reichlich sensibel — was daran liegt, dass ich manchmal selbst das Gefühl habe, ihn nicht zu verdienen.
Lass dir niemals von jemand anderem sagen, was du verdienst und was nicht. Denn das, was du verdienst, wirst du auch bekommen, höre ich in diesem Moment meinen Vater sagen. Er war ein Mann der Weisheiten gewesen. Immer, wenn ich ihn danach fragte, hatte er eine passende Weisheit parat gehabt.
»Jaja, du uns dein Jules«, räume ich mit etwas Verspätung ein. »Der Kerl steht sowieso total auf dich.« Gedanklich füge ich hinzu: Wie eigentlich eh' jeder Typ.
Äußerlich passen Merle und ich nicht zusammen. Sie hat blonde Locken, ich habe dunkelbraune, glatte haare. Sie hat blaue Augen, meine sind braun; und während sie sehr extrovertiert ist, bin ich das Gegenteil.
Ich beiße noch einmal von meinem Strudel ab, der mir durchaus mehr Respekt einflößt, als zuvor. Immerhin ist das meine erste Nah-Tod-Erfahrung, oder wie immer ich es nennen darf.
»Blödsinn.« Merle schüttelt den Kopf.
»Wir wissen beide, dass niemand dir und deinen Goldlocken widerstehen kann.« Ja, wenn man so wollte, war Merle Goldmarie, während ich Pechmarie war. »Spätestens in einem Monat werdet ihr das Traumpaar der Schule sein. Soll ich schonmal Wetten abschließen? Ich biete fünfzig, bietet jemand mehr?« Ich werfe einen Blick um uns. »Nein?«
Dass ich nur einen blöden Scherz mache, weiß Merle natürlich, doch trotzdem verwandelt sich ihr Gesichtsausdruck von zweifelnd zu träumerisch.
»Nicht, dass das je passiert wird, aber... er sieht so gut aus! Und so süß! Dieser Körperbau...« Sie seufzt schmachtend. Ich dagegen muss wirklich eine Strategie entwickeln, um Oliver irgendwie auf mich aufmerksam zu machen.
Dass ich existiere, weiß er zwar — immerhin habe ich ihm letzten November unabsichtlich beim Martinsfest der Unterstufen meine gezinkte Bowle über das Polo-Shirt geleert — aber ich bezweifle, dass er in mir mehr sieht, als die meisten. Mehr als nur die Komische, die eben immer dabei war. Die eine mit der krassen Vergangenheit, über die niemand redet.
Abgesehen davon weiß ich auch, dass ich schnell handeln muss, immerhin bin ich nicht die Einzige, die auf Olis neuartigen Körperbau aufmerksam geworden war.
»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«
Merle schnippt fassungslos vor meinem Gesicht herum.
»Was?«
Ich blicke schwammig meine beste Freundin an, die daraufhin einen tiefen Seufzer ausstößt.
»In deiner rosaroten Plüschwelt existiert auch nichts außer Oliver, oder?«
»Was für- Ich lebe weder in einer rosaroten Plüschwelt, noch existiert für mich nur Oli! Zum Beispiel...« Ich sehe mich nach einer geeigneten Person um, die ich für in meinem Bewusstsein existent erklären könnte. »Zum Beispiel existiert für mich auch Nussstrudel, oder Hannah Vogel. Und mein Bruder, meine Ma, Jules, Kiki,—«
»Jaja, ein paar Leute aufzählen kann ich auch«, erwidert Merle wenig begeistert, woraufhin ich die Nase rümpfe. Gerade, als ich etwas Pfiffiges erwidern will, unterbricht uns das Läuten der Schulglocke.
»Auf zu Bio«, knurrt Merle. Biologie ist das Fach, das sie am meisten hasst; ich finde es aber nicht ganz so schlimm.
Vermutlich weil bislang Oliver vor dir saß und du ihn angeschmachtet hast, anstatt dich auf Frau Eiber zu konzentrieren.
Tatsächlich kann das ein Grund sein. Himmel, ich brauche wirklich einen Plan.
Während ich die nächsten fünfzig Minuten meiner Zeit der Biologielehrerin schenke, kommt mir ein Gedanke. Wenn ich Oliver nämlich für mich gewinnen könnte, würde ich gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits wäre ich persönlich glücklich, andererseits würden endlich alle aufhören, mich für komisch zu halten. Abgesehen davon würden die anderen Mädchen ziemlich blöd aus der Wäsche schauen, wenn Oliver vor ihren Augen vom Markt geschnappt wird. Ehrlich gesagt will ich mir diese Blicke nicht entgehen lassen, schließlich traut mir sowieso niemand zu, tatsächlich mal einen Kerl von mir zu überzeugen.
Ich fixiere den Blick auf Olivers Nacken, während Frau Eiber langatmig von Gehirnzellen erzählt.
»Ist was?«
Oh Gott. Erst jetzt bemerke ich, dass ich Oliver wohl ziemlich angestarrt habe, denn er hat sich zu mir umgedreht und mustert mich jetzt aus seinen hübschen, grünen Augen. Das Goldbraun seiner Haare schimmert in der hereinfallenden Sonne. Ich blinzle ein paar Mal.
»Ich- äh-... Warum fragst du?«, stottere ich unsicher.
Tatsächlich bin ich es nicht gewohnt, zu stottern. Normalerweise ist es mir egal, was andere Leute glauben, und wenn ich dann eben beim Starren erwischt werde, ist auch das mir egal.
Nur bei Oliver ist es mir nicht egal.
»Wieso starrst du mich so an?«, fragt er mit seiner samtigen Stimme. Sie ist gleichzeitig tief und sanft, ein Widerspruch, den Oliver in sich vereint. Er ist kein Macho, auch nicht arrogant — und das, obwohl er weiß, dass er gut aussieht.
»Ich starre dich nicht an«, fauche ich, um meine Nervosität zu verstecken.
Mist, jetzt bin ich bei ihm vermutlich für die nächste Zeit unten durch. Oliver hebt fragend eine Augenbraue, selbst diese minimale Geste sieht gut an ihm aus.
»Na, wenn du meinst«, murmelt er nur schulterzuckend und dreht sich wieder um. Ich will gerade etwas Versöhnliches erwidern, als Frau Eiber mich streng ansieht.
»Krause, auch für dich gilt die Regel: Wer nicht gefragt ist, hält im Unterricht den Mund!« — Ich nicke nur. Ich bin zu müde für einen Protest, weshalb ich mich tiefer in den Stuhl sinken lasse und wirre Kringel auf meinen Block male.
Als ich nachmittags zuhause ankomme, führt mich mein erster Weg sofort zum Gefrierfach. Ich hole die große Packung Eis heraus — veganes Eis. Wenn ich nämlich keine Darmsprengung vom Feinsten miterleben will, dann muss ich auf Kuhmilch verzichten. Nüchtern betrachtet ist Kuhmilch sowieso ziemlich ekelhaft, denn es ist, als würden wir unser Leben lang Muttermilch trinken.
Mit dem Eis mache ich es mir auf meinem Bett bequem. Um diese Zeit, mittags, ist es draußen kaum erträglich. Obwohl September ist und wir uns im hohen Norden Deutschlands befinden, ist es immer noch so heiß, dass man es kaum aushält.
Mein Laptop, den ich ich gleich einschalte, ist ein ziemlich altes Modell, das Ma irgendwann aus der Arbeit mitgenommen hat. Obwohl der Arbeitsspeicher und der Prozessortakt ernüchternd sind, mag ich den Laptop, denn er funktioniert noch immer einwandfrei.
Ich klicke mich gelangweilt durch den Newsletter unserer Schule. Wir gratulieren alle dem Herrn Sowieso zu Rente, blablabla... Schließlich klicke ich auf den Schulblog. Während andere Gymnasien auf Schülerzeitungen setzen, können die Schüler des Heinrich Heine Gymnasiums in Hamburg stolz von sich behaupten, dass es in ihrer Schule einen Gossip-Blog gibt.
Obwohl ich kein Fan von solchen öffentlichen Anprangerungen bin, werfe ich einen Blick auf die neuen Beiträge. Der letzte Post stammt von gestern dem 9. September.
Hallöchen meine Lieben!
Ich melde mich wieder im neuen Schuljahr zurück. Die Ferien waren wirklich wichtig — ich habe eine Detoxkur gemacht, denn all die toxischen Menschen in dieser Schule lassen ja nichts anderes zu. *Seufz*.
Kommen wir aber mal zu den wirklich wichtigen Themen: Herzlichen Glückwunsch an alle, die eine Klasse aufgestiegen sind — und an alle, die durchgefallen sind: I'm sorry, aber vielleicht solltet ihr etwas mehr Effort in das Ganze stecken, ihr Loser.
Da bleibt mir doch glatt die Spucke weg. Niemand hat es verdient, dass irgendwer so über ihn schreibt — wo wir gleich beim nächsten Thema sind: Niemand weiß, wer diesen Blog leitet. Fakt ist, dass irgendwer zu viel Gossip Girl geschaut hat und dementsprechend ein eigenes, schikanierendes Projekt ins Leben gerufen hat.
Habt ihr unseren Schülerliebling gesehen? Oliver sieht nach der wohlverdienten Ferienpause noch besser aus, als davor — kaum zu glauben, aber wahr! Genau wie sein bester Freund Jules. Der hat übrigens über die Ferien eine kleine Liebschaft mit Tammy geführt — ganz genau, Tammy, die bis vor Kurzem noch mit Chris zusammen war. Eine tragische Trennung, aber bitte Chris, sei nicht traurig. Tammy war einfach nicht deine Liga. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Fronten sich klären. An alle, die traurig sind, dass »Tamris« vorbei ist — Kopf hoch. Irgendwo da draußen wartet auch auf euch euer Traumprinz.
XOXO.
Cynthia
Ich schlucke und scrolle ein wenig weiter. Eigentlich kann mir der Blog herzlich egal sein, immerhin ist es mir wirklich egal, wer mit wem zusammen ist. Liebe ist sowieso nur eine Konstruktion, die durch unsere moderne Gesellschaft entartet ist. Kann mir irgendwer erzählen, dass Liebe existiert? Vielleicht. Aber ich glaube trotzdem nicht daran.
Cynthia ist die fiktionale Person, der der Blog gehört. Wer wirklich hinter diesem Pseudonym steckt, weiß keiner. Wenn jemand etwas öffentlich publik machen will, sollte er sich bei ihrer Emailadresse melden und ehe man es sich versieht, weiß jeder die Neuigkeiten. Trotz der Grausamkeit Cynthias lesen nämlich nicht nur die Schüler des betreffenden Gymnasiums, nämlich das Heinrich-Heine-Gymnasium in Hamburg, sondern auch ziemlich viele andere den Blog.
Ich scrolle, bis ich bei einem Artikel ankomme, dessen Titel meine Aufmerksamkeit erregt.
Wie erobere ich meinen Ex zurück? Mitten diesen drei Tipps ist er schneller zurück als du denkst!
Es ist ja nicht so, als wäre Oliver mein Ex, aber vielleicht verbirgt sich hinter diesem ganzen Gossip-Dreck ja ein Rohdiamant.
6. September
Hallöchen meine Lieben!
Bevor die Schule wieder anfängt, habe ich einen interessanten Artikel für euch. Wie es im Sommer so üblich ist, sind auch dieses ja viele langjährige Beziehungen zerbrochen. An dieser Stelle noch einmal: Sorry, Tamris. Aber das stand sowieso unter keinem guten Stern... Um deinen Kavalier zurück zu gewinnen, gibt es drei einfache Tipps.
1. Er soll wissen, woran er war.
Meistens beginnt man erst zu schätzen, was man hat, wenn man es nicht mehr hat. Dementsprechend tänzle vor seinen Augen, erlebe dein Glow-up — Maniküre, Pediküre, Waxing, Friseur, neue Garderobe; eben alles, was dazu gehört — und zeig ihm, was er verpasst.
2. Mach ihn eifersüchtig.
Ein weiterer Tipp meinerseits: Eifersucht ist die Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Flirte, was das Zeug hält; am besten mit Typen, die dein Ex kennt oder mag. Er soll schließlich keinesfalls glauben, dass du zuhause dein Ben & Jerry's Eis futterst, dir eine Liebesschnulze nach der nächsten reinziehst und dabei Taschentuch um Taschentuch vollheulst.
Mir wird schlecht, wenn ich das nur lese. Eifersucht ist ein starkes Gefühl, das Beziehungen zerstören kann. Wie zum Teufel soll Eifersucht also eine Beziehung herbeiführen?
3. Mach's ihm nicht zu leicht — das weckt den ›Jagdinstinkt‹.
Verklickere deinem Ex, dass seine Mutter nicht die Einzige mit einem schönen Sohn ist. Er kann ruhig ein wenig warten.
Unter dem Beitrag sind noch zahlreiche Kommentare eingeblendet, die das ganze Spektrum abdecken. Von Empörung bis hin zu Dankbarkeit hat hier wirklich jede Emotion einen Platz gefunden. Ich schließe schließlich den Blog und schüttle den Kopf über mich selbst. So einen großen Bullshit habe ich schon lange nicht mehr gelesen.
Bin ich nun wirklich schon so verzweifelt, dass ich dieser Cynthia Glauben schenken will? Soweit kommt's noch. Doch andererseits... hat sie recht? Ist Eifersucht ein gutes Mittel zum Zweck?
Im Grunde genommen habe ich keine Ahnung — und genauso wenig zu verlieren. Nach diesem Malheur im Biounterricht von heute Morgen denkt Oliver vermutlich sowieso schon das Schlechteste von mir. Abgesehen davon würde es mich wundern, wenn er von sich aus auf mich zugeht.
Ich muss unbedingt mit Merle sprechen und sie fragen, was sie von dieser Idee hält. Doch andererseits... Sie wird mich bestimmt von meinem Vorhaben abbringen wollen, schließlich glaubt sie zu hundert Prozent an die wahre Liebe.
Manchmal frage ich mich, wie das passieren konnte, dass wir beste Freundinnen wurden, denn wir sind so unglaublich verschieden. Merle hält bestimmt nichts von meinem Plan, Oliver eifersüchtig zu machen. Zugegeben, sich an einer so toxischen Emotion zu bedienen, um das zu bekommen, was ich will, ist nicht unbedingt die feine, französische Art.
Doch das ist mein Spiel.
Es ist immer nur ein Spiel — am Ende gibt es zwei Auswege: Schmerz oder Glück. Keine Ahnung, was mein Schicksal für mich bereithält, doch das ist das letzte Jahr in der Schule, mein letztes Jahr am Heinrich-Heine-Gymnasium.
Zeit, die Karten neu zu mischen.
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