Elftes Kapitel
Elftes Kapitel
Logik ist was für Jungs
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Ich mag meine Schule. Es ist eine gute Schule. Die Menschen sind nett – zumindest im Großen und Ganzen. Die Schüler sind nett, die Lehrer sind nett, das Leben ist nett.
Aber nett ist eben auch nicht ohne Grund der kleine Bruder von scheiße.
Aber als sieben fremde Jugendliche (na gut, ganz fremd sind sie nicht – ein paar von ihnen kenne ich schon vom Basketball und von der »Party«) im Klassenraum stehen und sich neugierig umsehen, kommt mir die Schule irgendwie wir ein Sammelplatz für ausgesetzte alte Möbel vor. Wie kann es sein, dass diese Schule einfach so von heute auf Morgen einige Schüler aufnimmt?
Ich habe nichts dagegen, Menschen aufzunehmen. Wirklich, vor allem wir in Deutschland haben die Kapazität, mehr Menschen ein Zuhause und eine Lebensgrundlage zu geben. Aber irgendwie... die Tatsache, dass es Levins Schule ist, über die wir hier sprechen, und die Tatsache, dass es Levin selbst ist, über den wir hier sprechen, stört mich.
Wieso, das weiß ich nicht so genau.
Das einzige, was mich aufheitert, ist die Tatsache, dass die Schottenbrünn-Schule um einiges kleiner ist, als das Heinrich-Heine-Gymnasium, weshalb die Invasion nur sehr wenige betrifft – eben sieben Leute, die jetzt Teil dieser Klasse werden würden. Zumindest für die nächste Zeit.
Herr Schulte kommt mit einem gehetzten Gesichtsausdruck in die Klasse gehechtet. Seine Brille sitzt tief auf der Nase spitze, auf der Stirn tanzen die Schweißperlen einen Tango. Das kann ich sogar aus der dritten Reihe sehen – scheinbar ist es heute besonders stressig.
Wie immer trägt er dieses staubige, schmuddelig aussehende Sakko, das seinen Bierbauch kaum kaschiert, ein kariertes Hemd und schwarze Slipper. Er trägt immer Slipper. Irgendwann entstand in meinem Kopf eine Kollokation zwischen »Slipper« und »Herr Schulte«. Die Vorstellung von meinem Mathelehrer in Nike Airs ist irgendwie aber auch zu komisch.
»Guten Morgen, liebe Schüler!«, sagt er, wie immer übertrieben laut. Er ist einer dieser Menschen, die beim Reden zum Schreien tendieren. Außerdem hat er einen lustigen Dialekt – eine komische Mischung aus Bayrisch und Norddeutsch, die alle Regeln der Geografie austrickst
Herr Schule lässt den Blick über die Neuen gleiten. »Wie ich sehe, haben wir Zuwachs bekommen.« Seinem Tonfall zufolge klingt es, als würde er ein Geschenk auspacken, das glitzernde Papier wegwerfen und darunter einen Haufen Scheißnachrichten bekommen. Na gut, ich kann mir vorstellen, dass es sicher auch andere erfüllende Dinge gibt, als hochpubertären Teenagern die Mathematik zu erklären.
»Ich bitte euch, dass ihr euch kurz vorstellt und dann auf den freien Sitzen Platz nehmt. Ich wurde bereits von eurem Mathematik-Lehrer informiert, in welchen Gebiet ihr euch derzeit aufhaltet.« Herr Schulte wirft ein klägliches Lächeln zu den Neuen. Interessanterweise hat jemand freie Tische ganz hinten in der Klasse aufgestellt. Scheinbar ist diese Nacht-und-Neben-Aktion ernster als ich gedacht habe.
»Übrigens bin ich selbst Herr Schulte und ich unterrichte euch in Mathematik«, schiebt der Lehrer rasch hinterher.
Das blonde Mädchen am Fenster macht schließlich den Anfang. »Mein Name ist Sarah«, räuspert sie sich. So geht das, bis alle sieben sich vorgestellt haben. Ich versuche mir zwar, die Namen zu merken, aber es ist gar nicht so einfach, wie gedacht.
Die sieben Neuankömmlinge nehmen Platz und Schulte ordnet an, dass wir uns den Übungsaufgaben im Buch widmen sollen. Es sind einfach Übungen zum Thema Integral und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Das meiste kann ohnehin der Taschenrechner.
Gerade, als ich mich in eine kniffligere Aufgabe vertiefen will, wird die Türe erneut aufgerissen. Ich ignoriere den Zuspätkommenden, sondern versuche mich zu konzentrieren.
»Sorry«, hechelt jemand.
Mein Kopf schießt in die Höhe.
Ich kenne diese Stimme.
»Ich musste nochmal kurz... ins Sekretariat«, sagt er. Levin. Die Haare zerzaust, steht er da, ganz in schwarz gekleidet.
Bevor er mich entdeckt hat, senke ich rasch wieder den Kopf. Irgendwie fällt mir das Konzentrieren heute so gar nicht leicht. Diese Sache mit Oliver und Merle und dann auch noch die gemischten Gefühle gegenüber Levin...
Ich sehe zur Seite, als er an mir vorbeigeht. Es fühlt sich so an, als würde ich die Wärme, die von ihm ausgeht, spüren — wie ein Urankern, der mit jeder Spaltung stärker und kräftiger wird.
Ja, wenn Levins Aussagen Strom produzieren würden, dann wäre er wahrscheinlich ein weltbekanntes Kraftwerk. Und das ist kein Philosophenscheiß, sondern die Wahrheit, wenn auch etwas zynisch.
»Ich bitte euch, die Aufgaben zu lösen, und zwar dalli!«, schallt Schultes Stimme durch die Reihen. Einige Mädchen haben zu Tuscheln begonnen. Ich ziehe unwillkürlich die Brauen zusammen. Ja, okay, Levin ist nicht gerade hässlich, aber... trotzdem. Diese Mädchen werfen ihm Blicke zu, als wäre er rohes Fleisch und sie hungrige Tiger.
Einige Minuten lang höre ich durch die geschlossenen Fenster den Lärm von der Straße, so still ist es. Dann unterbricht Schulte das Arbeiten.
»So, ihr hattet jetzt genügend Zeit, um die Aufgaben zu bearbeiten. Nach einander rufe ich euch jetzt auf und ihr löst die Aufgaben an der Tafel!«, ruft Schulte und setzt sich an sein Pult. Ich lege den Kuli langsam zur Seite.
Bitte nicht ich, bitte nicht ich, bitte—
»Dann beginnen wir doch gleich mit einer unserer Lieblingsschülerinnen«, sagt Schulte und lächelt gönnerhaft in meine Richtung. Pervers. »Mila! Komm bitte heraus und löse Aufgabe eins.«
Meine Beine wollen mir nicht gehorchen. Mein Verstand will meinem Verstand nicht gehorchen. Und ja, das ist offensichtlich möglich.
Vermutlich ist diese Rache an uns seine Genugtuung, denke ich wenig begeistert.
»Wir haben es hier mit einem einfachen unbestimmten Integral zutun. Es gibt keine Integrationsgrenzen, daher müssen wir eine Funktion berechnen«, sage ich, noch während ich mit meinem Buch nach vorne gehe.
Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken.
Ich ziehe den Pullover enger an mich. Unsicher nehme ich das Kreidestück, ermahne mich dann aber selbst zur Sicherheit.
»Wir integrieren also ganz normal... Ln (x) wird zu eins durch x, e hoch x bleibt gleich...« Ich schreibe die Antwort fein säuberlich an die Tafel.
»Sehr gut gelöst«, lobt mich Schulte. Ich bin etwas überrascht von seiner freundlichen Wortwahl, schiebe es jedoch darauf, dass er vor den Neuen wohl einen guten Eindruck machen will.
»Welche Regeln hast du angewandt?«, fragt Schulte.
»Äh...«
Ich muss zugeben, dass ich nicht weiß, wie die Regeln heißen. Ich habe mir einfach das gedacht, was logisch ist. Wenn eins durch x abgeleitet ln (x) ist, dann ist die Integration die Umkehrung.
In diesem Moment sehe ich, wie Levin in der letzten Reihe lässig den Arm hebt, um sich zu melden.
»Ja bitte ...?«, fragt Schulte.
»Hartmann. Levin Hartmann«, sagt Levin, der wohl etwas zu viel James Bond geschaut hat. Irgendwie muss ich bei dem Gedanken – sehr unpässlich – grinsen.
»Du hast von der partiellen Integration Gebrauch gemacht. Da einer der Faktoren komplex ist, nimmst du das Integral des einen mal der Funktion und subtrahierst das Integral des anderen mal der Ableitung.«
Es ist komisch ruhig geworden.
»Logisch«, sage ich etwas spät.
»Ist das logisch? Ich dachte, Logik ist eher was für Jungs«, stichelt er mit seinem hämischen Grinsen. Ich weiß, dass er nur einen dummen Witz macht, aber ich schnappe nach Luft.
»Wie bitte?!«, zische ich. »Ich bin mir relativ sicher, dass du überhaupt keine Ahnung von Logik hast, sonst wäre es für dich nämlich logisch, dass Logik genderneutral ist«, fauche ist.
»Oh, sorry. Ich wollte die Gefühle deiner Logik nicht verletzen«, stichelt Levin.
Ich will gerade etwas antworten, als Schulte eingreift.
»Leute, Leute! Beruhigen wir uns alle einmal!«, geht er dazwischen.
Ich pfeffere wütend die Kreide in die Halterung und gehe zurück zu meinem Platz – ohne Levin eines weiteren Blickes zu würdigen. Wie er da so lässig in der letzten Reihe lehnt, nervt mich einfach nur. Ich beschließe, zu meiner eigenen psychischen Sicherheit einfach die restliche Stunde mich in meine Gedanken zu vertiefen und die Welt um mich herum sein zu lassen, wie sie ist.
Es klappt eigentlich recht gut. Nur dann klingelt es zu zweiten Stunde, und meine Motivation schrumpft noch weiter. Bio bei Frau Eiber, einer zu Fleisch gewordenen Schlaftablette.
Schon als sie mit den unzähligen Mappen und Ordnern unter ihrem Arm hereinspaziert, weiß ich, was heute ansteht: Gruppenarbeit. Das, was ich mit Abstand am wenigsten leiden kann.
»Nachdem wir einiges an Zuwachs gewonnen haben, dachte ich mir, dass ihr euch durch eine Gruppenarbeit sehr gut kennenlernen könnt. Ich will deswegen nicht gleich mit einer Wiederholung oder einem Test starten. Dafür zählt ihr jetzt alle einmal durch, von eins bis fünf!« Frau Eiber legt mit einem lauten Rums den Stapel auf den Tisch und verschränkt die Arme.
Als Merle neben mir »Drei!« sagt, erwache ich aus der Trance und sage: »Vier.« Ich bin schon gespannt, mit wem ich diesmal in eine Gruppe komme. Habe ich erwähnt, dass ich Gruppenarbeiten nicht leiden kann?
Und so kommt es am Ende, dass ich mit Nash, Chris, Kiki, Alex und Levin in eine Gruppe gelost werde. Und ich könnte schwören, dass Levin den Platz extra gewechselt hat, um in meine Gruppe zu kommen — denn vorhin, als wir noch Mathe gehabt haben, saß er noch so, dass er in Merles Gruppe gewesen wäre.
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