Einundzwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Doppelte Spiele und klare Enden
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Die Zeit, die ich bei Opa verbracht habe, heilt die Wunden und gibt mir die Ruhe, um nachzudenken. Über alles Mögliche.
Flo hat mich schon zweimal von der Schule abgefangen und wollte mich überzeugen, zurück »nach Hause« zu kehren. Aber beide Male habe ich ihm gesagt, dass ich noch Zeit brauche. Meine Wut auf Ma ist verraucht. Zwar bin ich nach wie vor enttäuscht, doch ich kann Ma auch verstehen. Und außerdem weiß ich, dass Papa für sie nie das war, was er für uns war. Er ist mein Vater, ich bin sein Fleisch und Blut. Aber Mama und Papa sind nur zwei Menschen, die einander irgendwann über den Weg gelaufen sind und beschlossen haben, einen Teil der Reise gemeinsam zu erleben.
Ich weiß nicht, ob ich diesen Helmut in meiner Nähe will, aber auf jeden Fall weiß ich, dass ich Mama ihr Glück gönne. Zumindest solange Helmut nicht versucht, irgendeine Art Vaterersatz zu sein. Papa wird immer in meinem Herzen da sein.
Vielleicht lasse ich mich zu sehr von meinen Emotionen leiten, doch Papas Todestag nähert sich rasant, weshalb ich wie jedes Jahr abends lange wach im Bett liege und schnell zu weinen beginne. Aber eigentlich kann Helmut nichts dafür. Mama schon, sie hätte mit ihren Liebeleien wenigstens den 29. Oktober abwarten können. Aber Helmut? Er ist in dieser Familienaffäre unschuldig.
Und dann ist da noch etwas, was mich seit Tagen beschäftigt. Oder besser gesagt: Jemand.
Levin.
Mein Magen macht einen Satz, wenn ich an seinen Gesichtsausdruck zurückdenke. An dieses Blau seiner Augen, dieses Lächeln auf seinen Lippen. Wenn ich daran zurückdenke, als er seine Hand auf meine Lenden gelegt und mich näher gezogen hat. Wie sehr ich doch diese Berührung vermisse, wie sehr ich seine Nähe brauche.
Es fühlt sich an, als wäre ich plötzlich in einem kitschigen Film gefangen, und dann auch noch in der Hauptrolle. Wenn ich etwas sehe, das mich an das saphirblau seiner Augen erinnert, sehe ich nur noch diese Grübchen, das Funkeln in seiner Iris, diese lässige Haltung und höre seine raue Stimme.
Vielleicht hat er einfach zu viel Alkohol getrunken, was eine Erklärung für unseren Kuss wäre. Leute küssen sich schließlich ständig, meistens, wenn sie abends unterwegs sind und einen über den Durst getrunken haben – bedeuten solche Küsse etwas? Wenn man betrunken ist, kommt schließlich das heraus, was man eigentlich am meisten will, oder?
Aber ... ich will nicht, dass es einfach nur »irgendein« Kuss war. Ich will nicht, dass Trunkenheit der Grund ist.
Dieser Kuss war schön, auch wenn er nicht lang oder laut war. Auch wenn es kein intimer Ort war und auch wenn wir kurz davor noch einen Döner gegessen haben. Dieser Kuss war genau das, was ich wollte.
Die folgende Woche ist anstrengend. Es sind noch genau zwei Tage, bis Papas Todestag zum 5. Mal stattfindet. Ich zwinge mich, zur Schule zu gehen.
Mein einziger Lichtblick ist Levins Anwesenheit. Ich warte an unserem üblichen Spot auf Merle, direkt bei den Betonlandschaften, die irgendeine künstlerische Sitzgelegenheit darstellen sollen. Gedankenverloren lasse ich den Blick über die Köpfe wandern. Einige Schüler und Schülerinnen unterhalten sich angeregt, andere warten allein auf den Gong, der die erste Stunde einläutet.
»Gooood Morning Vietnaaaam«, trötet mir in diesem Moment jemand ins Ohr. Ich zucke so stark zusammen, dass ich beinahe vom Platz gefallen wäre.
Merle hüpft lachend auf mich zu und schließt mich eine Umarmung.
»Naa? Wie gehts dir?«, fragt sie und gesellt sich zu mir. Wie kann ein Mensch so früh am Morgen schon so gut gelaunt sein?
»Was ist denn mit dir los?«, frage ich leicht konsterniert. »Bei mir ist ... alles wie immer.«
»Tja...«, macht sie geheimnisvoll, doch ihre Stille wahrt nicht lang. »Ich bin in den Genuss göttlicher Lippen gekommen!« Merle kichert. »Und in den eines ziemlichen Knackarsches ...«
Ich verziehe den Mund. »Eww«, murmle ich. »So genau wollte ich es jetzt auch wieder nicht wissen.«
»Dreimal darfst du raten, wer mich nach dem Treffen nach Hause begleitet hat.«
»Hmm ... das ist ja wirklich ganz schwierig. Könnte es ... Könnte es vielleicht Jules gewesen sein?«, frage ich ironisch, aber Merle ist viel zu glücklich, um meine Ironie falsch aufzufassen. Ich will mich für sie freuen. Ehrlich. Aber momentan ist einfach so viel los, dass ich es kaum kann.
»Oh, schau mal! Da drüben sind die Jungs!« Oliver und Jules stehen lässig beim Eingang und winken uns zu. »Ich gehe mal schnell hallo sagen. Willst du auch mit? Oder passt du schnell auf meine Sachen auf?«
»Ich glaube, ich bleibe hier«, murmle ich. Merle schiebt rasch ihre Jacke und ihr Handy zu mir, dann macht sie sich fröhlich auf den Weg zu den Boys. Ich muss zugeben, dass ich ihre gute Laune auch gern hätte, aber wenn ich daran denke, dass ich dafür Jules küssen müsste, passe ich doch lieber wieder. Nachdenklich betrachte ich das Display von Merles Handy, als in diesem Moment eine neue Nachricht aufploppt.
Sie haben einen neuen Kommentar. @thegossipqueen
Ich zucke zusammen.
Thegossipqueen wie in ...
Oh mein Gott.
Mein Herz macht einen Satz. Und dann spüre ich einen stechenden Schmerz, als wäre es gerade in tausende Einzelteile zersprungen, die sich qualvoll in meine Organe bohren. Natürlich. Wie konnte ich je daran zweifeln? Jetzt macht das alles einen Sinn. Merle war die einzige Person, der ich je von alldem erzählt habe.
Merle ist @thegossipqueen.
Die Realisierung trifft mich so hart wie ein Bus. Ich spüre, wie mir kalt wird. Eiskalt, obwohl es ganz schön warm für einen Herbsttag ist.
Simultan dazu ploppt in diesem Moment eine Nachricht auf meinem eigenen Handy auf.
Levin (7.55): Sorry, dass ich dich am Bahnhof so überfallen habe. Das wollte ich nicht. Oh, Levin. Wenn du nur wüsstest, wie sehr ich dich gerade brauche.
Meine Augen beginnen zu schmerzen, zu brennen, wie immer, wenn mir die Tränen schon aufwarten. Ich tippe rasch eine Antwort.
Mila (7.56): Hast du nicht. Wo bist du? Bitte hilf mir.
Seine Antwort kommt kaum eine Sekunde später.
Levin (7.56): alles okay? bist du in schwierigkeiten? wo bist du?
Mila (7.56): Schule. Bei den Betonsitzen
Levin (7.57): Bgd
Ich sehe nochmal auf Merles Handy. Kann es sein, dass das ein Missverständnis war?
Nein. Eine weitere Push-Benachrichtigung. Ich hebe den Blick. Müde. Träge. Sehe zu Merle. Sie klebt förmlich an Jules Seite und lacht mit Oli und ihm. Das war sie also. Das war unsere Freundschaft. Ich kenne Merle mein halbes Leben lang. Sie ist mit mir durch dick und dünn gegangen. Und jetzt ... jetzt verrät sie mich auf diese Art und Weise.
»Mila«, höre ich jemanden. Levins Stimme ist wie ein kleiner Fels in der Brandung. »Oh mein Gott, Mila, was ist passiert?«
Er sieht aus, als wäre er gerannt. Ein paar Strähnen kleben ihm verschwitzt in der Stirn. Er trägt keine roten Shorts, sondern graue Chinos, ausgeleierte Vans und hat sein Skateboard unter dem Arm.
»Levin«, krächze ich heiser. Meine Augen brennen stärker. Ich stehe auf, doch meine Beine sind wackelig, zu wackelig, um die wenigen Meter zu Levin zu gehen. Glücklicherweise kommt er sofort auf mich zu und schließt mich in eine Umarmung, die mich vom Rest der Welt abschirmt. Ich bin froh, Merle nicht mehr in meinem Blickfeld zu haben.
Als ich seinen Geruch wahrnehme, diese Mischung aus Minze, Rauch und Levin, und seinen Herzschlag spüre, ist es einfach zu viel. Die Tränen brechen aus meinen Augen wie Gewitter, die man nicht vorhersehen kann.
»Merle ... sie ...«, schluchze ich, doch meine Stimme bricht ab. Der Kloß in meinem Hals blockiert meine Stimmbänder.
Levin sagt gar nichts, sondern nimmt mich einfach nur in seinen Arm. Ich verstecke das Gesicht in seiner Halsbeuge, lasse mich von ihm umarmen, bis sich mein Herzschlag ein wenig beruhigt und meine Atmung wieder normaler wird.
»Ich bin da, Mila«, murmelt er irgendwann. »Ich gehe nicht weg.«
Und das zu hören fühlt sich an, als würde er versuchen, diese Scherben meines Lebens langsam aneinander zu kleben.
»Was ist denn los?«, fragt er sanft und lehnt seine Stirn an meine, als sich meine Atmung wieder ein wenig entspannt hat.
»Ich ... ich bin nur hier gesessen ... und Merles Handy ... sie hat eine Nachricht ... sie führt diesen dämlichen Schulblog ... sie ...«
Weiter komme ich nicht, denn Levin ist genauso erschrocken und überrascht, wie ich gerade eben. »Was sagst du? Merle führt diesen Scheißblog?«
Ich nicke zaghaft.
Eine Achterbahn an Emotionen spiegelt sich auf Levins Gesicht wieder, bis er sich schließlich für Wut entscheidet. Doch er kann nichts erwidern, denn eine glockenhelle Stimme unterbricht unsere Umarmung und lässt uns auseinander fahren.
»Ähm, hallooou? Was geht denn hier ab?«, fragt Merle und sieht erst mich, dann Levin mit einer verruchten Neugierde an.
Ich kann nichts sagen. Ich kann ihr nicht in die Augen blicken, aber Levin scheint es anders zu gehen. Er hat seine Fassung um einiges schneller wieder gefunden.
»Was hier abgeht?«, fragt er bedrohlich ruhig. Merle zieht die Brauen zusammen. »Du bist es? Du bist thegossipqueen? Du führst diesen Scheißblog? Du zerstörst freizeitlich das Leben unschuldiger Schüler und Schülerinnen, du mischst dich in das Privatleben fremder Menschen ein und du glaubst, dass es dich auch nur irgendwas angeht, was andere in ihrem Liebesleben machen?« Levin geht einen Schritt auf Merle zu. Ich kann sehen, dass sie überrascht, perplex und vielleicht auch ein wenig eingeschüchtert ist.
»Wo-wovon redest du?«, fragt sie gespielt heiter und sieht mich an. Die Verwirrung ist echt, aber der Grund dafür ein anderer.
»Du weißt genau, wovon ich rede«, fährt Levin dazwischen. Er packt meinen ausgebeulten Schulrucksack, ehe er meine Hand nimmt. Die Stelle, an der er mich berührt, beginnt augenblicklich zu kribbeln, auch wenn es der denkbar schlechteste Zeitpunkt dafür ist.
»Nein«, beharrt Merle.
»Ach ja? Dann erklär mir mal das hier.« Wie durch Zauberhand habe ich meine Stimme wieder gefunden. Ich glaube, wir sind alle drei von der Härte überrascht, mit der ich Merle begegne. Ich halte ihr ihr Handy unter die Nase, und als sie die Push-Mitteilung liest, wird sie blass im Gesicht.
»Merle, ich habe dich echt für jemand anderen gehalten. Ich habe gedacht, wir sind beste Freundinnen. Aber stattdessen spielst du jahrelang ein falsches Spiel. Hast du nur irgendeine Ahnung, wie sich das für mich anfühlt?«, frage ich. Ich bin ruhig, auch wenn ich innerlich brodele.
Merle sagt einen Moment lang nichts, dann erwidert sie: »Oh bitte, Mila, wir sind schon lange keine besten Freundinnen mehr. Du erzählst mir rein gar nichts aus deinem Leben. Alles, was ich über die letzten beiden Monate weiß, habe ich von irgendwelchen Klatschtanten.«
Ich traue meinen Ohren kaum. »Vielleicht erzähle ich nichts, weil ich nichts erzählen will?! Schon mal daran gedacht? Ich muss nicht immer alles erzählen, ich muss mich dir nicht immer sofort anvertrauen. Vielleicht will ich Situationen auch mal selbst einschätzen.«
Merle sieht mich spöttisch an. »Kein Wunder, dass Oliver dich nicht ausstehen kann. Er hat dich die ganze Zeit nur verarscht, weißt du das? Und übrigens, Levin, hat Mila genau dasselbe mit dir getan!«
Wie bitte? Oliver hat mich verarscht?
»Oh, wusstest du das etwa nicht?«, fragt Merle und sieht beinahe bedauernd aus. »Tja, Oli hatte eine Wette mit Jules. Beinahe hätte er dich ins Bett bekommen ... nun ist die Wette wohl doch verloren.«
Ich muss schlucken. Doch in diesem Moment empfinde ich nichts als abgrundtiefe Verachtung. Ich verachte Jules. Und Oliver. Und irgendwie auch Merle.
»Weißt du, Merle«, sagt Levin kalt, »im Gegensatz zu dir hat Mila mit mir immer offen geredet. Sie hat mit offenen Karten gespielt. Ich wusste von Anfang an, was hier Sache ist. Du solltest dich schämen, Merle. Wirklich.« Er klingt bitter. »Du nennst dich eine Freundin von Mila? Du benimmst dich einfach nur zum Kotzen. Vielleicht hat dir das bisher noch niemand gesagt, weil du reich bist und weil du hübsch bist und weil du gescheit bist. Aber ich lasse mich von solchen Dingen nicht trügen, und deswegen höre mir lieber gut zu, wenn ich dir sage: Du bist eine miese, verzogene Göre. Und du hast es nicht verdient, Milas »beste Freundin« zu sein. Du hast keine Ahnung, was sie für ein aufrichtiger, ehrlicher und fühlender Mensch ist. Du hast keine Ahnung, was für ein besonderer Mensch Mila ist.«
Ich sehe von Merle zu Levin und wieder zurück. Merle zieht eine Braue hoch.
»Wie süß. Bonny und Clyde haben sich ja gesucht und gefunden«, sagt sie höhnisch.
»Halt den Mund«, zischt Levin. »Es ist einfach nur traurig, zu sehen, dass du eine Freundschaft für so einen Dreckstypen wie Jules aufgibst. Aber das sagt ohnehin alles über dich aus. Ich glaube, wir sind fertig mit dir.«
Und weil ich nichts dagegen erwidere, nimmt Levin mein Schweigen als Bestätigung und zieht mich von Merle weg.
»Wohin gehen wir?«, stottere ich, als ich ein paar Blocks weiter meine Stimme wieder gefunden habe. Für einen Morgen war das viel zu viel.
»Zu mir«, murmelt Levin. Und dann zieht er mich in eine Seitengasse von Altona und lehnt sich an einen der alten Feuerlöscher, die dekorativ aus dem Boden sprießen. Er umfasst meine kalte Hand, verschränkt unsere Finger und sieht mir tief in die Augen.
»Ich weiß, das ist nicht einfach«, sagt er leise. Als ich in seine blauen Augen blicke, wird mir fast schwindelig.
»Das ist es nie«, erwidere ich genauso leise.
»Du vereinfachst und erschwerst mein Leben zugleich, weißt du das?« Er lacht leise. »Und trotzdem kann ich mir gerade keinen Tag vorstellen, an dem ich nicht an dich denke.«
»Danke, Levin.«
Es sind nur zwei Worte, doch sie sind ehrlicher als alles andere. Und dann küsst er mich. Ein Kuss, der salzig schmeckt, weil sich die Tränen in die Gefühle mischen und sich am Ende alles nur noch dreht.
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