Twenty-Nine
Nialls Reaktion auf die Ankündigung eines weiblichen Besuchers war eher Gleichmut. Er nahm es zur Kenntnis, drückte aber weder Zustimmung noch Ablehnung aus. Für ihn war es viel wichtiger, dass Jonathan heut wieder einmal zum Essen kommen würde. Sein Freund und Arzt hatte sich in letzter Zeit etwas rar gemacht, eine neue Studie und eine Menge Patienten hielten den Doktor ganz schön auf Trapp. Seit dem Beginn der abendlichen Konzerte war er erst einmal erschienen, hatte sich kurz mit Niall unterhalten und noch bevor der Abend zu Ende war, verließ er die Familie wieder. An diesem Abend wollte er bis zum Ende bleiben.
Die Zeit des Abendessens kam näher und das Haus war erfüllt vom Geruch nach gebratenem Hackfleisch, Gemüse und heißen Bananen. Daraus schloss Niall, dass es Jonathans Lieblingsnachtisch geben würde. Überbackene Bananen mit reichlich Honig und Nussstücken.
Nialls Mutter hatte sich immer lustig darüber gemacht, wie ein „gestandenes Mannsbild" - ihre Worte - sich solch einen Süßkram hineinstopfen konnte.
„Jeder Mensch hat ein Laster und ich muss meinen Zuckerhaushalt auf Vordermann bringen!",
war die einfache Antwort gewesen.
Familie Horan hatte gelacht und Niall gleich gefragt, ob er noch etwas für seinen Zuckerhaushalt bekommen könne.
Niall half seiner Mutter, den Tisch zu decken. Er hatte ein untrügliches Gefühl, wie welches Teil arrangiert werden musste und nur sehr selten musste seine Mutter noch einmal Hand anlegen.
Kaum stand das letzte Glas an seinem Platz, schon klingelte es an der Haustür.
„Ich mache schon auf, das ist bestimmt Jonathan."
Noch bevor seine Mutter etwas erwidern konnte, war Niall schon an der Tür und öffnete. Sie hörte die zaghafte Stimme, die sie im Supermarkt kennengelernt hatte.
„Hey, Niall, ich bin Lini."
Es folgte eine Pause.
„Ach ja. Ich hatte... aber egal, komm herein."
„Danke."
„Hast du eine Jacke an, oder so was?"
„Bei dem Wetter?"
„Hast Recht, dumm von mir."
„Nein, es war nett. Entschuldige bitte meine schnippische Frage."
„Sagen wir einfach, wir sind quitt."
„Schön habt ihr es hier."
„Kann sein, es ist schon eine Weile her..."
„Entschuldige... ich und mein Mundwerk."
„Schon okay, ich vergesse es ja auch immer mal wieder?"
„Echt?"
„Ja, wenn ich Gitarre spiele."
„Verstehe!"
„So?"
„Nun, vielleicht nicht ganz und bestimmt nicht so wie du, aber ich habe dich spielen hören und in meinem Kopf wuchsen Bilder heran und Farben, die ich mit offenen Augen niemals gesehen habe."
„Du siehst sie auch?"
„Tut das nicht jeder, der dir zuhört?"
„Weiß nicht, habe noch mit keinem darüber gesprochen. Ich dachte immer, das kann man nur, wenn man nicht sehen kann. Irgendwie, als brauche das Gehirn einen Ersatz, eine Art Notlösung, wenn du verstehst."
„Ich glaube schon. Doch wenn man alles nur Grau sieht, dann ist es, als betrachte man plötzlich eine bunte Landschaft und man vergisst das Grau."
„Oder das Schwarz, wie bei mir."
„Oder das Schwarz. Deswegen bin ich immer wieder gekommen."
„Ein Fan! Hach, ich habe einen Fan! Ich dachte, meine Mutter macht einen Scherz. Das ist toll! Dabei spiele ich eigentlich nur für mich."
„Oh nein, das tust du nicht. Du spielst für eine ganze Menge Leute. Und ich bin mir sicher, so wie mir geht es noch vielen anderen auch."
„Meinst du wirklich?"
„Ich bin mir ganz sicher!"
Wieder ein Schweigen. Mrs Horan, die durch die offene Tür alles mit angehört hatte, war erstaunt. War das noch das schüchterne Mädchen aus dem Supermarkt? Und war das noch ihr Sohn? Sie wusste immer, dass Musik etwas Besonderes für Niall war, doch ihn so reden zu hören, machte sie doch ein wenig nachdenklich.
„Darf ich dich mal ansehen?"
„Aber... ich dachte, du kannst nicht sehen?"
„Nicht mit den Augen, aber ich kann mir ein Bild machen, wenn ich etwas befühle. Wenn dir das aber unangenehm ist..."
„Nein",
sagte sie schnell.
„Ich habe zwar noch nie... ich meine, ich wurde noch nie... aber du darfst gerne."
„Danke schön."
Nialls Mutter hatte es schon oft erlebt und konnte sich ein recht deutliches Bild davon machen, was nun im Flur, wo sich die beiden noch immer aufhielten, vorging.
„Du bist hübsch - soweit ich das sagen kann."
„Danke schön -das hat mir noch niemand gesagt."
„Nicht? Sind die denn alle blind?"
Niall lachte los und Lini setzte mit ein.
Seine Mutter war froh, dass sich die beiden anscheinend gut verstanden. Zwischenzeitlich hatte sie doch arge Bedenken, doch als sie das Lachen vernahm, war sie beruhigt. Sie steckte den Kopf durch die Tür.
„Willst du deinen Gast den ganzen Abend im Flur lassen? Kommt, setzt euch, das Essen ist gleich fertig."
„Aye, aye Ma'am"
erwiderte Niall albern.
„Guten Abend, Mrs Horan, danke noch einmal für die Einladung."
„Oh, sind die für mich?"
Lini hatte einen Strauß Gartenblumen in der Hand.
„Habe ich was übersehen?"
„Hast du, mein Sohn. Wenn Besuch kommt, hat der oft einen Blumenstrauß dabei."
„Es sind nur ein paar aus unserem Garten."
„Aber ein paar sehr schöne. Richte deiner Mutter meinen Dank aus."
„Kann ich tun, aber sie hat sie nicht ausgesucht."
„Oh, dann dir meinen lieben Dank. Deine Eltern waren aber einverstanden, dass du hierher kommst?"
„Grundsätzlich ja, aber ich habe sie noch nicht gesehen. Habe aber einen Zettel dagelassen, falls sie früher heimkommen als ich."
„Sie sind unterwegs? Meinst du wirklich, sie haben nichts dagegen?"
„Da bin ich mir sicher. Außerdem werden sie erst spät wiederkommen."
„Ach? Gerade heute?"
„Sie kommen immer spät von der Arbeit. Sie sind Anwälte und haben furchtbar viel zu tun."
„Und du bist dann immer alleine?"
„Bin ja kein kleines Kind mehr!"
„Da hast du allerdings auch wieder Recht - dennoch!"
„Das ist schon in Ordnung. Dafür haben wir ja ein tolles Haus."
„Na, dann setzt euch mal."
Sie nahm den Blumenstrauß in Empfang und suchte eine passende Vase. Niall und Lini gingen derzeit zum gedeckten Tisch.
„Setz dich einfach dahin, wo Platz ist. Mein Vater wird auch gleich hier sein und außerdem noch ein Freund."
Es klingelte.
„Das wird er sein."
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