Thirty-Six

Niall lauschte dem Klang des Radios. Die Musik, die daraus erklang, war anders als seine, doch sie war gut. Sehr gut sogar. Text und Melodie bildeten eine Einheit, das war wichtig, denn ansonsten klang alles nur leer und hohl. Auch in seinen Liedern musste das so sein, ein Anspruch, den er sich selbst stellte. Die Melodie musste die Worte unterstreichen, die Worte mussten die Melodie tragen. Zwei Formen, derselbe Ausdruck, dieselben Gefühle, derselbe Sinn. Nur so war ein Lied wirklich ein Lied.

Niall überlegte nebenbei, welche Töne er verwenden konnte, um seinen neuen Text zu untermalen, doch er musste vorsichtig sein. Erstens hörte er gerade eine Melodie und es konnte sein, dass sich Tonfolgen aus dieser in sein eigenes Lied schlichen, ganz unbemerkt, heimlich still und leise.

Das zweite Problem war, dass der Text sowohl traurig war, als auch hoffnungsschwanger. Melancholie mischte sich mit der Hoffnung einer Zweisamkeit. Sehnsüchte mischten sich unter etwas anderes, was er nicht zu greifen vermochte. Etwas Neues, etwas Unbekanntes, etwas, nach dem er sich sehnte und gleichzeitig Angst davor hatte. Er war verwirrt, aufgewühlt und beunruhigt. Wie konnte er sich nach Angst sehnen, oder wie konnte sein Sehnen ihm Angst machen. Was war der Ausgangspunkt, was das Resultat?
Warum war das Leben so kompliziert? Konnte es nicht einfach, einfach sein? Niall grinste.

In seinen Texten würde er sich nie trauen, solch eine Satzstellung zu benutzen, doch seine Gedanken waren keine Liedtexte, waren kein Gedicht. Sie waren nicht so klar und durchsichtig, wie er seine Lieder gestaltete. Sie waren verworren und verwirrend, sie waren kompliziert und führten ihn oft in eine Sackgasse, aus der er nicht mehr herausfand.

Manchmal wünschte er sich eine Gebrauchsanweisung für sein Leben. Es würde so einfach sein: Symptom? Fehlerbehebung wie folgt. Drücken sie Knopf A und wenn das alles nichts nutzt, dann den Resetknopf drücken und das Gerät in den Auslieferzustand bringen.

Doch das Leben war nicht so einfach, wie ein Gerät und es gab nichts, wo man nachschlagen konnte, wie es funktioniert. Oder vielleicht doch?
Er stand auf und ging in Richtung Küche, wo er seine Mutter vermutete. Seine Vermutung wurde schnell bestätigt, denn er hörte sie mit allerlei Geschirr hantieren.

„Niall, mein Schatz, brauchst du was, oder willst du mir nur etwas Gesellschaft leisten?“

„Ein Glas Milch wäre prima, aber das kann ich mir auch selbst holen.“

„Lass nur, ich bringe es dir gerne.“

Niall wusste, dass seine Mutter dies nicht tat, weil sie meinte, er könne es nicht, sondern weil sie ihn ein bisschen verwöhnen wollte.

Eigentlich wollte er gar keine Milch haben, doch das verschaffte ihm ein paar zusätzliche Sekunden, in denen er seine Gedanken ordnen konnte, soweit das ging.

„Also, mein Sohn, was hast du auf dem Herzen?“

„Dir bleibt nichts verborgen, oder?“

„Ich kann nur eins und eins zusammenzählen. Du verlässt dein Radio und möchtest ein Glas Milch. Beides bringt mich zu dem Schluss, dass du ein Problem hast.“

„Problem ist nicht das richtige Wort. Ich wollte dir nur meinen neuen Text sagen und deine Meinung hören.“

Mrs Horan kannte ihren Sohn besser und wusste, dass mehr dahintersteckte. Sie legte kurz ihre Stirn in Falten – was Niall zum Glück nicht sah. Dann setzte sie sich zu ihm.

„Dann lass mal hören.“

Nialls Mutter hörte still zu, wie immer, wenn ihr Sohn einen neuen Text verfasst hatte. Die Strophen gingen ineinander über und verschlungen sich zu einem einzigen Gebilde. Das Lied erzählte eine Geschichte, traurig schön, doch es klang noch etwas anderes mit, etwas, das zwischen den Zeilen durchschimmerte, wie ein Schatten des Textes selbst, und doch etwas Eigenes, Neues, Unbekanntes. Man musste genau lauschen, doch dann sah man das Bild klar und deutlich vor sich. Wie in diesen Bildern aus denen eine 3D Figur hervor kam, wenn man die Augen in die Ferne schweifen ließ. Und genauso schnell, wie das Bild aufgetaucht war, so schnell verblasste es wieder. Es ließ eine Lücke zurück, etwas das man vermisste. Wie ein Traum, den man beim Erwachen greifen möchte und der im Nichts verschwindet. Eben noch klar vor Augen und im nächsten Moment weg, wie eine Nebelschwade im Wind. Man wusste genau, der Traum war schön und man wollte ihn behalten, doch man sah ihn nicht wieder und, wenn man Pech hatte, kam er auch niemals wieder.

Mrs Horan seufzte. Sie wollte es nicht, doch sie konnte es nicht unterdrücken.

„Niall, das war wunderschön. Kennst du schon die Melodie für dieses Lied?“

„Das ist das Problem, Mom. Ich weiß es nicht. Der Text kommt mir so komisch vor, so dass ich ihn nicht greifen kann. Ist er eher traurig, oder eher fröhlich. Immer wenn ich mich auf ein Gefühl einlassen will, drängt sich das andere vor. Will ich es traurig machen, muss ich lächeln, will ich lächeln werde ich traurig. Es ist so unwirklich. Mir gefällt der Text auch, doch dann habe ich plötzlich Angst davor. Doch kaum habe ich Angst, ist es, als tröste mich jemand.

Weißt du noch, als ich klein war? Da hatte ich Angst vor der Dunkelheit. Und dennoch sehnte ich mich nach dem Abend, denn ich wusste, dann bist du da und tröstest mich, schaltest das Licht ein, erzählst mir eine Geschichte. Da war die Angst weg, doch ich wusste genau, sie durfte nicht verschwinden, sonst würdest du mich nicht mehr trösten. Das ist verrückt, nicht?“

Seine Mutter sah ihn einen Moment lang an.

„Nein, das ist nicht verrückt! Das ist, denke ich, ganz normal. Es gibt immer Dinge, die einem Angst machen und man sehnt sich dennoch danach, denn man weiß, es ist jemand da, der einen rettet. Ich weiß nicht genau, wie man das nennt, aber ich weiß, dass dies viele Menschen haben und bei kleinen Jungs ist es ganz normal.“

„Aber, ich bin kein kleiner Junge mehr. Ich weiß nicht genau, was ich bin, aber kein kleiner Junge, da bin ich mir sicher. Und ich habe diese Gefühle dennoch. Sehnsucht nach etwas, was mir Angst macht. Und am schlimmsten ist, dass ich nicht einmal weiß, was es ist. Ich glaube nicht, dass ich wirklich dieses Konzert geben sollte. Jetzt nicht mehr, denn ich glaube, es hängt damit zusammen.“

„Es ist deine Entscheidung, aber ich glaube nicht, dass es das Konzert ist, was dich beunruhigt.“

„Aber, das ist das einzig Neue in meinem Leben. Und kaum bekomme ich das Angebot, bin ich durcheinander, wie meine Schublade.“

Mrs Horan lachte auf. Diesen Ausdruck hatte sie mal gebraucht, weil Nialls Ordnung etwas eigenwillig war und noch immer ist.

„Bist du dir sicher, dass es das einzig Neue ist in deinem Leben.“

„Klar! Was soll es denn sonst sein?“

„Mir fiele da schon noch etwas ein!“

Er sah seine Mutter verwirrt an.

„Was soll das sein?“

„Männer! Genau wie dein Vater vor langer Zeit. Sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.“

„Bäume? Ich verstehe nur Bahnhof!“

„Sage ich doch! Genau wie dein Vater. Wer war denn gestern noch neu in dein Leben getreten?“

„Mr Payne. Aber...“

„Nicht der, wer noch?“

„Du meinst...?“

„Oh ja, ich meine. Es hätte deiner Worte nicht bedurft, um festzustellen, dass du kein kleiner Junge mehr bist. Mein kleiner Niall ist verliebt und das bringt ihn durcheinander.“

„Mom!“

„Sieh es ein, Niall. Nur so wirst du mit deinen Gedanken fertig, mit deinen Gefühlen und mit der Melodie – mach eine traurig schöne Ballade draus und du triffst es haargenau.“

Darauf wusste Niall nichts mehr zu sagen, doch ein Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit.
Seine Mutter hingegen seufzte, diesmal aber leise. Manche Zeiten gingen viel zu schnell vorüber.

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