Kapitel 2

„Darf ich euch eure neue Mitschülerin vorstellen?", rief Ms. Amaryllis enthusiastisch und wandte sich mit diesen Worten an die Klasse.

Sie machte auf mich keinen sehr autoritären Eindruck und wirkte ziemlich überdreht. Sie hatte braune, wilde Locken und gelblich funkelnde, wache Augen, die auf mich gerichtet waren. Ich gab mir alle Mühe nicht zu lange in ihre ungewöhnlichen Augen zu starren.

Dann erkannte ich, dass alle Augen nun auf mich gerichtet waren.

Meine Nervosität nahm ungeahnte Ausmaße an. Ich hasste es angestarrt zu werden, doch von übernatürlichen, vermutlich gefährlichen Wesen...Übermenschen, oder wie man sie auch nennen mag, angestarrt zu werden. Ja, ich erreichte ein neues Level an Nervosität das sich so schnell wohl nicht mehr überbieten ließ.

Atme tief durch! Diesmal bist du einfach nur die Neue, ermahnte ich mich. Ich bemerkte, dass Ms. Amaryllis darauf wartete, dass ich mich vorstellte und nicht tatsächlich sie. Am liebsten hätte ich aufgestöhnt. Oder geschrien.

„Mein Name ist Luna Moriel.", antwortete ich mit zittriger Stimme. Gut so Luna. Zeig ihnen das du ein schwacher, kleiner Feigling bist., schalt ich mich. Sie sah mich weiterhin erwartungsvoll an.

„Ich komme aus einer kleinen Stadt in Maine." Diesmal klang meine Stimme etwas kräftiger. Sie wartete noch immer darauf, dass ich weitersprach und ich spürte die neugierigen Blicke der ganzen Klasse auf mir ruhen.

Als ich nichts mehr sagte ergriff Ms. Amaryllis wieder das Wort.

„Und wie alt bist du, Liebes?" Sie lächelte und ich schämte mich ein wenig, dass ich vergessen hatte das zu erwähnen.

„Ich bin 18." Ich versuchte freundlich zu gucken und ein Lächeln beizubehalten, - aber die ganzen durchdringenden Blicke gaben mir das Gefühl nackt zu sein.

„So, nur noch eine Frage Liebes, die uns sicher alle hier brennend interessiert... Was bist du?" Sie stellte diese Frage mit einer so kindlichen Neugier in den Augen, dass mir das Lächeln etwas leichter fiel. Sie fragte sie so beiläufig...als wäre es die normalste Frage der Welt. Als wäre es völlig einfach mein größtes Geheimnis so einfach laut auszusprechen. Das Wort, das mir nie hatte über die Lippen rutschen dürfen.

„Ich...bin ein Nephilim" Es so offen und laut auszusprechen fühlte sich nicht richtig an. Das Wort hinterließ einen bitteren Nachgeschmack.

Die Klasse begann zu flüstern und als ich mich mal genauer in ihren Reihen umsah, erkannte ich bereits ein bekanntes Gesicht. Kein Gesicht, auf das ich erpicht war, es wiederzusehen.

Daniel, der Werwolf, saß ganz hinten in der letzten Reihe. Alleine. Seine Miene war absolut ausdruckslos und gelangweilt.

Als gäbe es nichts Uninteressanteres als eine neue Schülerin an dieser Schule. Insbesondere ein Nephilim. Sein Gesichtsausdruck war ein völliger Widerspruch zu der Reaktion der Anderen.

Ich bekam schon leichte Panik als mir klar wurde, dass der Platz neben ihm wohl meiner sein müsste, ehe ich bemerkte, dass dieser nicht der einzige Freie war.

„Sehr schön, du bist erst der zweite Nephilim an der Schule, wir freuen uns alle sehr, dass du hier bist." Ich hörte, wie jemand ein Prusten unterdrückte, wandte jedoch den Kopf nicht schnell genug, um zu sehen von wem es kam.

„Schön, schön, such dir doch einen freien Platz."

Ich ging eilig zu dem anderen Platz. Dort saß ein Mädchen mit langen pechschwarzen Haaren, die sie zu einem strengen Zopf geflochten hatte und dazu passenden schwarzen Augen. Ihre Augen waren so dunkel, dass man die Iris kaum von der Pupille unterscheiden konnte.

Die Psionik Lehrerin begann ihren Unterricht vorzustellen: „Psionik befasst sich mit außersinnlicher Wahrnehmung wie zum Beispiel Psychokinese, oder auch Telekinese. Es sind magische Phänomene. Das Ergebnis mentaler Kräfte, die manchmal bei Menschen, aber meist bei Hexen und anderen magischen Wesen vorkommen..." Während sie weiter erklärte begann das Mädchen neben mir zu flüstern.

„Hey, Ich bin Tenebris Gremory" Sie hielt mir lächelnd ihre Hand hin. Ich ergriff sie vorsichtig und erwiderte ihr Lächeln.

„Hey, freut mich." Ich nahm an, dass es überflüssig war meinen Namen nochmal zu erwähnen.

Nach einer kurzen Pause flüsterte sie wieder.

„Kann ich dich was Direktes fragen?" Ein wenig besorgt, wegen dem was folgen könnte, nickte ich bedächtig.

„...Sicher"

„Wieso versteckst du dich?"

Ich blinzelte.

„Verstecken? Ich weiß nicht was du meinst...?" Etwas unbehaglich rutschte ich mit meinem Stuhl nach vorne. Ich hatte dieses Geheimnis so lange um jeden Preis bewahrt. Es so offen zu präsentieren fühlte sich vollkommen falsch an.

Ihr fiel es auf.

„Ich will dir nicht zu nahetreten, tut mir leid."

„Nein, alles gut... du meinst... du meinst die Flügel?" Sie nickte und lächelte. „Naja sieht bestimmt besser aus, wenn du sie nicht unters Shirt quetschst. Zudem frage ich mich wie es überhaupt möglich ist sie so...klein zu halten." Nachdenklich fuhr ihr Blick über den abstoßenden Buckel auf meinem Rücken. Ich hasste diesen Buckel, doch ich hatte mich an ihn gewöhnt. Meine Mutter meinte er wäre mein Kreuz, das ich zu tragen hatte. Der Preis für meine Sicherheit und mein normales Leben. Wenn man ein Leben voller Tyrannei und grausamer Teenager als normal bezeichnen wollte...

„Ist natürlich deine Sache, aber du brauchst sie nicht länger zu verstecken." Sie zuckte die Schultern.

„Du würdest ganz schön Eindruck mit denen schinden. Wir haben nicht besonders viele Flieger. Drei von ihnen müssen ihre komplette Gestalt ändern, um ihre Flügel sichtbar zu machen. Bei dem einen willst du das lieber nicht." Sie lachte wieder, doch in diesem Lachen lag ein bitterer Unterton. „Und naja einer ist wie du. Er trägt sie sichtbar, aber bindet sie meist zusammen. Allerdings sind sie riesig...schleifen beinahe über dem Boden. Deswegen verstehe ich nicht wie..." Ich versuchte zu verbergen wie aufgeregt ich darüber war, dass noch einer, der wie ich war hier zur Schule ging. Doch das Aufleuchten meiner Augen ließ sie einen Moment innehalten. War es ihm vor dieser Schule wie mir ergangen?

„Ich bin noch nie jemandem wie mir begegnet", gab ich leise zu.

„Könnte daran liegen, dass es von deiner Art kaum noch welche gibt. Wir haben hier Schüler deren Art bis auf sie ausgestorben ist."

Ich sah sie verblüfft an.

„Wen denn zum Beispiel?" Ich hatte noch nicht die geringste Vorstellung von den Wesen, die es tatsächlich gab. Meine Mutter, von der ich das Gen geerbt hatte, wusste selbst nicht allzu viel.

Sie war nie Teil dieser Welt gewesen, da das Engelsgen sie übersprungen hatte. Das Bisschen, dass ich wusste hatte ich von meiner Großmutter, denn ihre Mutter war auch ein Nephilim.

„Wir haben einen Phoenix", flüsterte sie leicht zu mir gebeugt. Man merkte ihr die Ehrfurcht vor diesem Wesen an.

„Du wirst recht viel mit ihm zu tun haben. Kleiner Tipp, halt dich so fern wie nur irgend möglich von ihm." Diese Aussage war nicht die Erste, die mich heute beunruhigte. Am liebsten würde ich meine sieben Sachen schnappen und das Weite suchen.

„Wieso...?"

„Tenebris, wollen sie ihrer neuen Mitschülerin nicht die Gelegenheit geben sich in einem so fremden Fach besser einzufinden?"

Ich zuckte erschrocken zusammen als die Stimme der Lehrerin so nah neben uns ertönte.

„Doch, natürlich. Verzeihen Sie, Ms. Amaryllis."

Ich presste beschämt die Lippen aufeinander und Ms. Amaryllis fuhr mit ihrem Unterricht fort. Doch ich konnte mich nach Tenebris Warnung nicht mehr wirklich auf das was die Lehrerin erzählte konzentrieren. Wenn ich ehrlich war, hätte ich mich wohl so oder so nicht auf den Unterricht konzentrieren können. Ich wünschte ich hätte mehr Zeit gehabt erstmal mit all den neuen Eindrücken klar zu kommen, ehe sie mich den Haien zum Fraß vorwarfen.

Sie erzählte etwas von der Kraft, Dinge nur mit seinen Gedanken zu bewegen und welche Ausmaße solche Gaben annehmen konnten.

Doch meine Gedanken drifteten ab und ließen mich alles Neue, dass ich heute bereits gesehen und gehört hatte Revue passieren. Ich blieb in Gedanken bei meiner Begegnung mit Daniel hängen. Automatisch drehte ich mich um, um ihn nochmal anzusehen.

Er bemerkte meinen Blick sofort und funkelte mich böse an.

Mit aller Mühe schaffte ich es, nicht erschrocken zusammenzuzucken und zog stattdessen sichtlich eine Augenbraue hoch und drehte mich wieder zurück.

Tenebris hatte den kurzen Blickwechsel bemerkt.

„Kennst du ihn?" Sie beugte sich weiter vor als vorhin und flüsterte leiser, ohne den Blick von der Lehrerin abzuwenden.

„Nicht wirklich, er ist mir als ich ankam über den Weg gelaufen." Ich war ein wenig stolz, dass ich es schaffte meine Worte ruhig und gelassen klingen zu lassen.

„Von dem würde ich mich besser auch fernhalten."

Das hatte ich heute schonmal gehört. Am liebsten hätte ich die Augen verdreht. Gab es hier denn auch Menschen, denen man sich gefahrlos nähern konnte? Wenn man die Schüler hier als Menschen bezeichnen konnte.

„Ich weiß. Aber ich weiß nicht warum. Scheint als müsste ich mich von jeder zweiten Person hier fernhalten."

Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das beunruhigte. Tenebris lächelte mich schief an.

„Im Grunde hast du recht. Ich könnte dir die Gründe in der Pause nennen." Ich nickte dankbar lächelnd und versuchte weiter dem Unterricht zu folgen.

Nach dieser Stunde hatte ich eines meiner möglichen Wahlfächer.

Ich betrachtete es mit Skepsis und bezweifelte, dass ich es würde ernst nehmen können. Wahrsager waren für mich immer Betrüger gewesen und ich vertrat die Meinung, dass es keinen festen Plan gab.

Die Zukunft war für mich nichts weiter als ein unbeschriebenes Blatt. Nichts war in Stein gemeißelt. Tenebris half mir den richtigen Raum zu finden und begann zu erzählen, während wir uns einen Weg durch die umher huschenden Schüler bahnten. Ich wagte es kaum ihnen ins Gesicht zu blicken, aus Angst vor dem, was ich alles sehen könnte.

„Es gibt Gerüchte über Daniel, - ernst zu nehmende Gerüchte. Während des Vollmondes werden die meisten Werwölfe in den Keller gebracht. Zu unserer Sicherheit." Ich nickte, um ihr zu zeigen, dass ich aufmerksam zuhörte.

Sie fuhr fort: „Daniel wurde auf dem Weg runter meist von Sarah begleitet... Sie war seine beste Freundin, und ein Dhampir."

„Sie war?" Ich merkte langsam worauf diese Geschichte hinaus lief.

„Ja. Er hat sie getötet." Sie zuckte mit den Schultern und setzte eine bedauernde Miene auf. Ich brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten... Die Warnung der Direktorin klang nun ganz anders in meinen Ohren.

„Was ist ein Dhampir?", fragte ich zögerlich nach einem Moment des Schweigens. Sie sah mich an, als fiele ihr jetzt erst wieder ein, dass ich neu in dieser Welt war.

„Ein Dhampir ist halb Mensch, halb Vampir. Sie werden nicht gebissen, sondern geboren. Extrem selten. Nur ein Opyr kann Dhampire zeugen. In den seltensten Fällen funktionierte es. Sie sind recht menschlich, nehmen normale Nahrung und normale Getränke zu sich. Der einzige Unterschied ist, dass Blut auf sie wie eine Droge wirkt und sie sind deutlich stärker und schneller als Menschen."

Verständnislos sah ich sie an und schob mir verlegen, wegen meiner Ahnungslosigkeit, eine lange Strähne hinters Ohr. „Und was ist ein Opyr?", hakte ich erneut nach.

Sie seufzte und zog mich vorwärts.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich stehen geblieben war.

Dann erklärte sie weiter.

„Es gibt drei entdeckte Vampirrassen, die Dhampire eingeschlossen. Wer weiß ob es noch mehr gibt. Die Opyre können nur von nicht metallischen Waffen getötet werden, klassischer Fall von Pfahl ins Herz. Sie können sich in der Sonne normal aufhalten und werden nicht gegrillt.", Tenebris lachte bei dieser Vorstellung.

„Dann gibt es noch die Serenin. Sie sind die älteste Rasse und vermutlich auch die unmenschlichste. Bei ihnen ist die Sonne das einzige, das sie aufhalten kann. Wir hatten wohl mal vor langer Zeit einige Serenin an dieser Schule, doch... die brachten wohl zu viel Ärger." Sie zuckte die Schultern und ich hörte gebannt zu.

„Und die Serenin und Opyr können sich nur von...Blut ernähren?" Ich hätte nie gedacht, dass an all diesen Vampirmythen etwas dran sein könnte.

Sie nickte nur und schob sich gekonnt an den Schülern vorbei, die sich im Gang tummelten.

Ein Schüler rempelte sie beim Vorbeigehen an, doch sie ignorierte es einfach. Verwundert sah ich dem Schüler nach.

Er warf uns noch einen Blick aus roten Augen zu und lachte dann mit seinen Freunden. Ich stöhnte leise.

Hier war es auch nicht anders als auf der High School.

Nur gefährlicher.

Da blieb Tenebris plötzlich stehen und ich wäre fast gegen sie gelaufen.

„Das ist sie." Ich folgte ihrem Blick und er fiel auf einen Schrein. Dort hing ein Foto von einem jungen Mädchen. Sie hatte kurzes dunkles Haar, das ihr nur bis zum Kinn reichte. Ihre Augen waren groß und blau und wie so viele hier hatte sie eine reine blasse Haut. Mit dem Unterschied, dass sie einige Sommersprossen um die Nase hatte. Sie lächelte breit auf dem Bild.

Als ich genauer hinsah erkannte ich, dass ein Arm um ihre Schultern lag, doch die dazu gehörige Person wurde abgeschnitten.

Tenebris war mal wieder sehr aufmerksam und erkannte gleich meine Frage.

„Es ist der Arm ihres Mörders." Ich sah mit geweiteten Augen zu ihr rüber. Das war doch wohl ein schlechter Scherz!

Sie lachte leise.

„Makaber, ich weiß." Sie wandte sich ab und ging weiter. Tenebris begleitete mich noch das letzte Stück bis zu meinem Raum.

„Treffen wir uns gleich zur Mittagspause?", fragte ich, ehe sie einfach weiterlief. Die Frage schien sie etwas zu verblüffen.

„Ja... sicher, gerne" Sie brachte ein leichtes Lächeln auf.

„Dann bis gleich", sagte ich mit einer kleinen verabschiedenden Handbewegung.

„Ja, bis gleich", erwiderte Tenebris und lief hastig zu ihrem Raum.

Die Kristallomantie Stunde lief nicht ganz so ereignisreich. Der Lehrer nannte den anderen kurz meinen Namen und wies mich an mich zu setzen. Mein Sitznachbar wechselte kein Wort mit mir und ich wagte den ersten Schritt nicht. Ich freute mich bereits auf die einzige Person, mit der ich mich bisher anständig unterhalten konnte. Als die Stunde vorbei war musste ich gar nicht erst nach dem nächsten Plan suchen, denn Tenebris stand bereits an der Tür und wartete ausdruckslos.

„Oh, hey. Lange nicht gesehen", scherzte ich mit schwachem Lachen, welches sie nach zu ahmen schien.

„Komm, sonst finden wir keinen Platz mehr an dem wir unsere Ruhe haben." Ich nickte, dankbar, dass sie so dachte wie ich. Das letzte was ich an dieser Schule wollte, war Aufmerksamkeit erregen.

Der Speisesaal war echt riesig.

Mit großen Rundbogenfenstern und schweren roten Vorhängen. Es gab einige Türen, die zum großen Hof raus führten auf dem man auch einen Sportplatz erkennen konnte. Der Saal war durch seine vielen Fenster hell beleuchtet.

Es wimmelte hier nur so von schrägen Vögeln. Ich sah rote Augen, gelbe Augen, violette Augen. Die gesamte Farbpalette war hier vertreten. Einige Schüler hatten seltsame schimmernde oder gar schuppige Haut. Zudem bewegten einige sich seltsam andersartig. Zu elegant, zu fließend und raubtierartig. Ihre Haltung war irgendwie... unnatürlich perfekt. Nicht so gebeugt, wie man es von den meisten Menschen gewohnt war.

Fasziniert sah ich in ein Gesicht nach dem anderen. Für einen Moment vergaß ich Angst und Vorsicht.

Tenebris griff nach meinem Handgelenk und führte mich durch die Menschen zu der Essensausgabe. Mit großen Augen beäugte ich die Auswahl. Es gab Buffetwagen gefüllt mit Blutbeuteln, sortiert nach der jeweiligen Blutgruppe. Es gab jede Menge Fische und Meeresfrüchte...und einen Wagen mit rohem blutigem Fleisch.

Mir wurde ein wenig übel. „Ich weiß, das ist am Anfang etwas viel. Sei froh das heute nicht Montag ist. Da servieren sie immer die frischen Innereien." Ich verzog angewidert das Gesicht und schüttelte mich leicht vor ekel. Tenebris lachte über meine Mine und stellte sich an einen Wagen mit scheinbar normaler, menschlicher Nahrung. Ich war ungemein erleichtert, dass sie auch normal zu essen schien.

Ich erkannte Daniel etwas weiter vorne in der Schlange, die Schüler vor und hinter ihm hielten auffällig Abstand.

Bis auf einer. Einer schlenderte an der Schlange vorbei und rempelte Daniel an, gerade als er mit seinem Tablett davon gehen wollen. Alle hielten den Atem an und es wurde ganz still in der Cafeteria. Der Junge hatte schwarzes, glänzendes, schulterlanges Haar und dunkle Augen wie die von Tenebris.

Er grinste Daniel an und spitze Zähne kamen zum Vorschein. Daniel hatte sein Tablett noch halten können ehe es scheppernd zu Boden viel.

Man sah wie seine Brust sich energisch hob und senkte und er um Beherrschung rang. Der Junge lachte.

„Und vor dir haben alle eine solche Angst!", höhnte er und stolzierte davon.

Daniel hatte den Blick steif nach vorne gerichtet. Sein Kiefer mahlte und er schloss die Augen. Alle Schüler traten augenblicklich einige Schritte weg von ihm. Tenebris und ich beobachteten ihn genauso gebannt und gleich darauf meldeten sich meine Schuldgefühle.

Der Junge der ihn provoziert hatte stolzierte an uns vorbei und warf Tenebris ein verschmitztes Lächeln zu, doch ihre Miene blieb starr.

„Kennst du den?", fragte ich leise und setzte mich, wie die anderen auch, langsam wieder in Bewegung. Sie nickte langsam.

„Ja, Cain. Aber ich würde gerade ungern über ihn reden.", ich nickte bloß und warf noch einen Blick auf Daniel. Dieser schien nach wie vor um Beherrschung zu ringen.

Ich wandte mich wieder dem zur Auswahl stehenden Essen zu und bemerkte begeistert, dass es verschiedene Pizzen gab. Selbst welche mit Ananas! Ich nahm mir ein Stück von der Pizza Hawaii und Tenebris verzog angeekelt das Gesicht.

„Echt jetzt?" Ich lachte auf.

„Innereien und Blutbeutel sind okay, aber bei Ananas auf Pizza schaust du als käme es dir gleich hoch."

Tenebris schüttelte sich angewidert.

„Ananas auf Pizza zu essen ist viel unnatürlicher als Innereien und Blut." Ich lachte nochmal laut auf, doch als einige Schüler sich neugierig umsahen, verstummte ich rasch.

Als unsere Tabletts gefüllt waren suchte Tenebris uns einen Platz weit hinten im Saal, wo nur wenige andere Schüler saßen.

Dort hatte sich auch Daniel alleine an einen Tisch niedergelassen. Ich blieb abrupt stehen. Mit dem Rücken zu mir saß ein blonder Junge.

Ich konnte den Blick nicht abwenden. Das musste der andere Nephilim sein. Er hatte breite Schultern und darunter wunderschöne weiße Flügel mit goldenem Schimmer, welche an seinem Rücken zusammengebunden waren. Ich starrte sie an und widerstand dem Drang gleich zu ihm zu rennen und seine Flügel zu berühren, um mich zu vergewissern, dass sie real waren.

Sie waren so groß! So würden meine Flügel wohl auch aussehen...hätte ich sie nicht immer klein gehalten.

Tenebris zog mich weiter, während mein Blick weiterhin den Nephilim taxierte.

Wir gingen noch ein ganzes Stück weiter abseits von den Anderen und setzten uns einander gegenüber.

Die Tische waren aus hochwertigem dunklen Holz. Es war perfekt poliert ohne den kleinsten Makel, trotz all der Schüler, die darauf speisten. Tenebris setzte sich so, dass ich mich mit dem Rücken zu dem blonden Nephilim setzen musste.

„Keine Sorge. Du wirst ihn und die anderen noch früh genug kennenlernen."

„Wie meinst du das?"

„Die Flieger haben doch eine eigene Etage ganz oben im höchsten Turm. Wusstest du das nicht?"

„Nicht wirklich", antwortete ich verlegen.

„Tenebris, ich kam noch gar nicht dazu dich etwas zu fragen..."

Sie zog skeptisch die schwarzen Augenbrauen hoch.

„Was denn?" Ich räusperte mich. Ich erinnerte mich daran, wie schwer es mir fiel diese Frage zu beantworten. Doch auch daran, wie selbstverständlich sie gestellt wurde. Außerdem brannte ich vor Neugier.

„Was bist du?" Man sah mir meine Neugier ohne Frage deutlich an.

Tenebris verkrampfte sich. Die Frage schien ihr mehr als unangenehm und ich bereute sogleich sie gestellt zu haben.

Vielleicht gab es einen guten Grund warum sie sich so weit abseits von den anderen hielt.

„Ich weiß nicht ob ich dir das sagen sollte", sagte sie leise und stocherte lieblos in ihrem Essen herum.

„Ich werde schon nicht schlecht von dir denken", versuchte ich sie zu beschwichtigen. Wobei ich mir dessen nicht so sicher war, wie ich tat. Was sollte ich mir schon denken, wenn sie es mir sagte?

Ich hatte doch gar keine Vorstellungen von all den Wesen, die nun tatsächlich existierten. Tenebris atmete schwer aus und sah dann durch lange schwarze Wimpern traurig zu mir auf.

„Ich habe Dämonenblut... Ich bin halb Dämon. Wie der Antichrist." Bei dem Wort Antichrist malte sie Anführungszeichen in die Luft und fing dann wieder an, in ihrem Essen zu stochern. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Auch wenn ich nichts von dieser Welt wusste, wusste ich schon, dass das was sie war nicht gerade ungefährlich war. Nicht ungefährlich sein konnte.

Aber wer hier war das schon? Tausend Gedanken schossen mir durch den Sinn. Hatten die anderen echt so einen guten Grund sich von ihr fern zu halten? Immerhin war sie ja auch halb Mensch. Ich beschloss, mir meine eigene Meinung zu bilden. Ich war auch nie besonders beliebt, weil mir niemand je eine Chance gegeben hatte. Ich wollte nicht so sein. Bisher war sie nichts als hilfsbereit gewesen.

„Ich komm damit klar", sagte ich entschlossen und lächelte sie warm an.

Ihre Augen weiteten sich.

„Wie bitte?" Ihr Staunen war kaum zu überhören.

„Ich habe bisher nichts Böses in dir erkennen können. Du bist ganz und gar menschlich für mich."

Ich zuckte die Schultern und begann zu essen. Als ich aufblickte schimmerten Tenebris Onyx-augen.

Ich blinzelte erschrocken. Hatte ich was Falsches gesagt? Ich ging im Kopf meine Antwort Wort für Wort durch, konnte aber nichts finden das sie verletzt haben könnte.

„Was ist los? Habe ich was Falsches gesagt?" Sie schüttelte schnell den Kopf und wischte hastig eine Träne fort. Sie sah sich nervös um, um sicher zu gehen, dass sie keiner dabei beobachtet hatte.

„Tut mir leid, ich ... ich bin es gewohnt, dass jeder gleich aufsteht und geht." Mein Herz zog sich zusammen und ich legte tröstend meine Hand auf ihre. Sie zuckte zusammen.

„Hör zu, ich wurde auch lange von niemandem akzeptiert und vorschnell verurteilt. Ich werde so etwas nie tun."

Wieder zuckte ich betont beiläufig die Schultern.

„Solange du mir nichts tust habe ich keinen Grund mich von dir fern zu halten." Sie wirkte so erleichtert. Ich war mir sicher, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

„...Und was kann ein Halbdämon so?", fragte ich nach kurzem Zögern. Konnte ja nicht schaden das zu wissen, oder? Sie hob die Brauen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

„Alles Mögliche, aber grundlegend manipuliere ich Schatten und Dunkelheit. Manchmal kann ich auch ein wenig Gedankenlesen. Keine Sorge, ich lese deine Gedanken nicht." Sie lächelte nur müde, als sie den kurzen Anflug von Schrecken über mein Gesicht huschen sah.

„Ich hasse das Gedankenlesen. Es ist nichts Schönes dabei, zu hören wie schlecht alle von einem denken. Außerdem kostet es mich viel zu viel Kraft.", erklärte sie. Ich nickte und aß weiter. Ja, das musste wirklich furchtbar sein. Ich beneidete sie ganz sicher nicht um diese Gabe. Ich hätte niemals wissen wollen was all die Leute an meiner Schule über mich dachten...

„Du wolltest mir noch was über den einen Flieger erzählen, von dem ich nicht will, dass er sich verwandelt.", wechselte ich das Thema. Sie schluckte und versuchte ihre Gefühle wieder in eine Schublade zu packen und zu verschließen.

„Lucian Sabedoria. Er sieht unglaublich gut aus, das sag ich dir gleich, er wird dich umhauen. Nur so als Warnung." Sie wirkte nun fröhlicher und brachte auch ein schiefes Grinsen auf. Ihre Eckzähne und die äußeren Schneidezähne wirkten etwas spitzer als normal, aber ich war mir nicht sicher. „Ich habe dir ja gesagt er ist ein Phoenix. Du darfst ihn niemals anfassen. Niemals. Du würdest sofort verbrennen. So eine Verschwendung.", seufzte sie und aß weiter ihre Nudeln. Ich sah sie erschrocken an. „Und mit dem muss ich zusammen in einem Stockwerk wohnen?" Meine Stimme schoss vor Schreck eine Oktave in die Höhe. Es reichte, wenn er unerwartet um die Ecke kam oder ich ihn streifte und ich war tot?!

Man musste mir mein Entsetzen deutlich ansehen, denn sie machte eine beschwichtigende Geste.

„Er wird nicht zulassen, dass du ihn anfasst. Er trägt meistens Handschuhe und bedeckt eigentlich alles außer seinem Gesicht. Bisher kam noch keiner an dieser Schule durch ihn zu Schaden. Dennoch halten sich alle von ihm fern. Das ist an dieser Schule üblich. Der andere Nephilim da drüben..." Sie deutete mit der Gabel auf ihn „Sein Name ist Michael Adriel. Er hat eine Gabe.

Ich weiß nicht, ob du so etwas auch kannst, aber er kann Auren sehen und darüber hinaus auch deine Sünden."

Ich zog eine Augenbraue hoch.

„Also sieht er, dass ich zum Beispiel meine Eltern belogen habe und die Schokolade doch geklaut habe?", fragte ich skeptisch.

Sie lachte und schüttelte den Kopf.

„In Kombination mit deiner Aura sieht er einfach nur wie viel du dir schon zu Schulden hast kommen lassen. Er weiß nicht gleich was du getan hast, aber alles hinterlässt eine eigene Spur. Er kann nur raten. Dennoch reicht es den meisten, um ihm aus dem Weg zu gehen. Zumindest denen, die ihre Sünden lieber vor seinem Blick schützen wollen. Je mehr Zeit du mit ihm verbringst desto mehr erfährt er über dich. Ich glaube auch nicht, dass er wirklich Spaß daran hat. Ich sag ja, dass voneinander Fernhalten ist hier üblich."

Wir redeten noch eine Weile und vernachlässigten dabei unabsichtlich unser Essen. Als es zum Ende der Pause läutete hatten wir kaum etwas zu uns genommen. Schnell schaufelten wir noch so viel wie möglich in uns rein. „Was hast du jetzt?", fragte Tenebris. Ich kramte schnell meinen Stundenplan aus meiner Tasche. Er war schon völlig zerknittert.

„Sport...", stöhnte ich. Tenebris grinste.

„Ich zeige dir wo die Flieger starten." Ich schüttelte hastig den Kopf und hätte mich beinahe verschluckt.

„Ich habe Laufen gewählt."

Das Grinsen war wie weggewischt. Sie schnappte erschrocken nach Luft und griff nach meinem Arm. „Au...", nuschelte ich bei ihrem festen Griff automatisch,- obwohl es nicht mal wirklich weh getan hatte. Ich war das geborene Weichei.

„Bist du wahnsinnig?", fragte sie voller Ernsthaftigkeit.

Mein Herz geriet ins Stolpern und ich räumte schnell mein Tablett in einen Wagen. „...Wieso?" Meine zittrige Stimme verriet mich.

„Oh, Luna." Es war das erste Mal, dass sie meinen Namen aussprach.

Sie stellte auch ihr Tablett weg und hakte sich bei mir ein, um mich hinter sich her zu ziehen.

„Die Läufer werden dich alle zehnmal überrunden und im Staub zurücklassen."

Sie lachte freudlos.

„Und einige könnten nicht gerade nett sein."

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