Kapitel 19
Nach der Sportstunde erwartete Tenebris mich bereits.
„Und? Wie lief der Parkour?" Sie sah aus, als würde sie das Schlimmste erwarten und verzog bereits das Gesicht zu einer mitleidigen Miene.
„Überraschend gut.", antwortete ich zu ihrer Überraschung. „Daniel hat sich entschuldigt...", erzählte ich leise. Sie riss schockiert die Augen auf. Das war zwar bei weitem nicht alles Nennenswerte was passiert war, doch ich wollte vorerst nicht zu viel erzählen.
„Ich fass es nicht. Wieso?"
„Er hat wohl erkannt, dass sein Verhalten nicht in Ordnung war. Er hat es mir erklärt und...ich glaube ihm. Vorerst. Ist auch egal.", unterbrach ich lächelnd.
Doch dann verfinsterte sich meine Miene wieder. Ich hatte durch den Parkour und durch Daniel vergessen, weshalb ich heute überhaupt zu dem Kurs gegangen war.
„Nolan hat mir nicht erlaubt zu wechseln."
„Verdammt..."
„Ja."
Einen kurzen Moment gingen wir schweigend den Gang entlang. Einige Schüler starrten uns nach. Sie mussten sich wohl erst daran gewöhnen, dass noch ein Nephilim mit offen getragenen Flügeln umherlief.
„Die anderen werden sie sicher finden. Du kannst auch nicht viel ändern. Die meiste Arbeit obliegt ohnehin den Hexen. Wenn sie lebt werden sie sie finden. Vermutlich ist sie nicht mal mehr auf der Insel." Bei der Vorstellung sie könnte bereits tot in irgendeinem Graben oder im Wald liegen, wurde mir übel und alles in mir verkrampfte sich.
Ich würde es mir nie verzeihen können. Schließlich war es mein Schrei gewesen, der sie alle aus ihren Betten geholt hatte.
Sie gezwungen hatte zu handeln...
„Mach dir keine Vorwürfe.", versuchte Tenebris mich zu trösten, die den Gedanken wohl an meinem Gesicht ablesen konnte.
Ich schüttelte den Kopf, biss mir auf die Lippe und versuchte die Tränen fern zu halten.
Mein nächstes Fach Nekromantie. Zutiefst erschöpft vom Laufen schleppte ich mich in den abgedunkelten Raum.
Ich stellte fest, dass auch Delilah in diesem Kurs war. Ich hatte sie beim letzten Mal gar nicht bemerkt.
Im Gegensatz zu mir wirkte sie absolut ausgeruht. Als wären wir nicht ewig durch den Wald gerannt. Sie nickte mir kurz zu und ich erwiderte den Gruß.
Kurz nachdem ich meinen Platz eingenommen hatte, kam auch schon die Lehrerin ins Zimmer. Und hinter sich zog sie ... einen Obduktionstisch.
Gemurmel brach aus. Sie war eine beängstigende Frau.
Blasse blaue Augen, weißes schütteres Haar und eine Lange strenge Nase. Ihre Lippen waren schmal und bildeten eine ernste gerade Linie.
Ich glaube sie hieß Ms. Arnemetia.
„Hört auf zu murmeln.", befahl sie.
„Das Verschwinden eurer Mitschülerin und die Umstände ihres Verschwindens zwingen uns zu drastischen Maßnahmen. Die Hexen geben ihr Bestes, doch keiner besitzt mehr Wissen als die Toten. Ich als ausgebildete Nekromantin besitze über Fähigkeiten, von denen die werten Hexen nur träumen können." Sie lachte und nahm das Tuch schwungvoll von der Leiche. Ein furchtbarer Gestank kam uns entgegen und ich, wie auch die meisten anderen, hielt mir erschrocken eine Hand vor den Mund.
„Wir werden das Drachenmädchen finden.", verkündete sie selbstsicher. „Kommt alle um die Leiche."
Die Person schien schon eine Weile Tod zu sein. Es handelte sich um eine junge Frau mit langem dunkelblondem Haar.
„Mit Nekromantie ist es ganz einfach.", begann sie zu erklären. „Entweder man kann es- oder man kann es nicht. Jeder von uns..." Sie drehte sich um und begann Worte an die Tafel zu kritzeln, die ich nicht verstand. „-wird diese Worte sprechen. Eine Hand legt ihr auf die Brust der Leiche, wo das Herz einst schlug. Die andere auf den Kopf, wo die Gedanken einst kreisten. Ihr müsst euch auf die Dunkelheit einlassen. Sie ist euer Untergebener. Befehlt ihr mit diesen Worten, " Sie deutete auf die Tafel.
„eine Seele freizugeben und euch zu Diensten zu stellen. Ihr müsst überzeugt sein von dem, was ihr tut." Dann trat sie zurück und wies den ersten Schüler an es zu versuchen. Nur wenige schafften es eine Regung der Leiche zu verursachen. Doch kaum Worte kamen aus ihrem bereits verwesenden Mund.
Als nächstes war Delilah an der Reihe. Sie sprach die Worte energisch und bestimmt, presste die Hände sicher auf Kopf und Brust und schloss die Augen. Eine leichte Druckwelle ging von ihr aus und die Tote schnappte nach Luft. „Wo ist Marissa Ignis?", forderte Delilah zur Antwort. Die Frau schüttelte den Kopf. Dann schlug sie die Augen auf. Sie waren milchig weiß.
Ich wich schockiert zurück.
„Dunkel...heit", stöhnte sie. „Wir wissen...nicht."
Die tote Frau verstummte und das bisschen Leben, begann wieder aus ihr zu weichen. Delilah wich keuchend zurück. „Erbärmlich.", spuckte Arnemetia aus.
„Von einer Fee hätte ich mehr erwartet." Dann sah zu mir.
Ich war die Nächste. Nervös trat ich an die junge tote Frau heran.
Ich sah mich Hilfe suchend um.
„Ich kann das nicht!", beteuerte ich.
„Ich besitze keine magischen Fähigkeiten." Ms. Arnemetia lachte. „Wenn ein Nephilim keine Magie besitzt, dann bin ich wohl auch keine Nekromantin! Jetzt verplempere nicht unsere Zeit Mädchen."
Ich atmete schwer und meine Hände begannen zu schwitzen. Ich wischte sie hastig an meiner Hose ab und legte sie dann widerwillig auf den Körper der Toten. „Da gratis in tenebris qui habet alas...", begann ich die Worte abzulesen und Schloss für einen Moment die Augen, um tief durchzuatmen und mich zu konzentrieren, dann las ich weiter. „et quod inntrabunt ranae praecursorem habere solebat." Ich spürte, wie meine Hände Wärmer wurden, spürte wie eine Kraft sich ansammelte.
„Nochmal!", befahl Arnemetia.
Ich wiederholte die Worte. Diesmal kraftvoller und bestimmter.
Sie hatten etwas bewirkt, vielleicht könnte es klappen.
Energie sammelte sich in meinen Händen und sie begannen zu kribbeln.
Sie wurden immer wärmer. Ich wiederholte die Worte immer weiter und es wurde heißer und heißer. Eine starke Druckwelle brach aus und drängte einige der Schüler zurück. Meine Hände leuchteten auf und die Leiche fuhr hoch.
Schwer atmend saß die Frau nun auf dem Obduktionstisch und starrte mich an. Ihre milchig weißen Augen nahmen mehr und mehr Farbe an und ihre Iris färbe sich braun.
Sie hob die Hände, beobachtete wie die Verwesung zurückging und Farbe und Blut in ihren Körper zurückkehrte. Alle schwiegen.
Wir hörten nichts als das schwere Atmen der Frau. Fassungslos sah ich in die Gesichter um mich herum. Selbst Ms. Arnemetia schien schockiert.
„Was ist passiert?", fragte die Frau mit schwacher rauer Stimme. „W-Wasser... hat Jemand...W..." Da übergab sie sich und schwarzer Schleim, gesäumt von Maden brach aus ihr heraus.
Einige Schüler wandten sich ab und würgten, und auch ich hatte Mühe mich zusammenzureißen. Ihre Augen verdrehten sich nach hinten und sie fiel zurück auf den Tisch.
Ms. Arnemetia gab einen wütenden Schrei von sich und Warf alle Stifte, Bücher und Hefte mit einem Hieb vom Tisch.
„Wie sollen wir sie als Gefäß nutzen Mädchen, wenn du sie zurückholst?!", fauchte sie mich wütend an.
„Jetzt muss ich uns eine neue Leiche besorgen!"
Ich blinzelte völlig perplex. Die Brust der Frau hob und senkte sich nach wie vor. „Schafft sie weg!", wies sie die Schüler an. „Und du!" Sie zeigte mit dem Finger auf mich. „Geh mir aus den Augen!"
Ich drehte mich wortlos um und stürmte fluchtartig aus dem Raum.
Die junge Frau wurde zu unserer Krankenstation gebracht. Es stellte sich raus, dass die falsche Seele in ihren Körper zurückgekehrt war und nach dem Licht gegriffen hatte. Und jetzt, wo sie zurück im Leben war hatte sie auch keine Erinnerungen an ihre Zeit auf der anderen Seite. Ihre Erinnerungen gingen dort weiter, wo ihr Leben einst geendet hatte.
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