Kapitel 10
Eine Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper als der Regen mich nun vollends getränkt hatte und meine Klamotten sich vollgesogen hatten.
Ich zog an dem dunklen Sportshirt, das mir nun wie eine zweite Haut am Körper klebte.
Ich seufzte und wandte mich mit hängendem Kopf um. Das hatte ich wieder einmal super hinbekommen. Daniel würde mich dafür umbringen, dass ich ihn so gedemütigt hatte! Ich konnte es selbst kaum glauben.
Ich hätte nicht gedacht, dass man Flügel auch einsetzen konnte, um schneller zu rennen. Und einen Augenblick lang, hatte ich mich wirklich...stark gefühlt. Als wäre ich unbesiegbar. Unwillkürlich trat ein kleines Lächeln auf meine Lippen und erst da hob ich den Kopf. Das Lächeln verschwand augenblicklich und ich erstarrte.
Die bunte Glastür war geöffnet worden. Durch den Regen hatte ich das wohl nicht gehört, und vor mir stand mit verschränkten Armen und einem grimmigen Ausdruck im Gesicht Lucian und versperrte mir den Weg.
Er trug ein weißes Longsleeve und dazu dunkelblaue Jeans. Durch das weiße Oberteil wirkte seine von der Sonne vergoldete Haut noch dunkler.
Seine Augen, die im trüben Licht wie Bernstein funkelten, wanderten über meinen Körper, an dem der Stoff klebte und kaum noch Platz für die Fantasie ließ.
Sein Blick fuhr über meine Rundungen und blieb eine Sekunde zu lang an meinen Brüsten hängen. Mir wurde trotz der Nässe plötzlich heiß.
Verärgert verschränkte ich die Arme vor der Brust, wodurch ich seine Haltung, samt Ausdruck beinahe perfekt imitierte.
„Hast du genug gegafft?", fuhr ich ihn an. Er mochte zwar der attraktivste Mann sein, den ich je gesehen hatte und die Erinnerung an unseren Kuss schlich sich wieder und wieder in meine Gedanken, aber dennoch ließ ich mich nicht begutachten wie ein Stück Fleisch.
Sein sonst so grimmiges Gesicht, das höchstens den Wandel zur Ausdruckslosigkeit zu kennen schien, veränderte sich, als er überrascht die Augenbrauen hob.
Er schien überrascht, dass ich es wagte ihn anzufahren, vielleicht das generell einer es wagte. Einen Moment lang glaubte ich ein Funkeln in seinen Augen zu sehen, doch als ich den Mund öffnete, um noch etwas nachzusetzen zuckte er bereits die Schultern und wandte sich um, um zurück in den Turm zu treten.
Dort ließ er sich auf die Couch fallen und griff nach der Fernbedienung.
Ich hatte selten erlebt das er sich so...menschlich benahm. Er war meist so abweisend und zurückgenommen, dass ich schon glaubte, er wüsste nicht, wie man sich normal verhielt.
Ich trat endlich aus dem Regen und ging auch hinein.
„Du machst den Boden nass.", brummte er leicht genervt von der Couch aus.
„Oh, entschuldige, ich seppe mich am besten einfach in mein Badezimmer damit nichts nass wird!", zischte ich verärgert und ging mit energischen Schritten auf die Treppe zu.
Lucian stöhnte auf.
„Nein, halt!" Ich hielt inne und wandte mich mit verärgertem Blick zu ihm um.
Er erhob sich fließend von der Couch und betrachtete mich so herablassend das ich am liebsten vor Wut schnaubend sofort weiter geeilt wäre, doch da setzte er sich in Bewegung, ging zu der dunklen Holzkommode neben dem Aufzug und holte daraus ein großes Handtuch hervor.
„Hier lagern wir unsere frischen Handtücher." Ließ er mich mit trockner Stimme wissen und warf mir ein großes blaues Handtuch entgegen. Allerdings viel fester als erwartet und es traf mich genau im Gesicht.
Ich schenkte ihm ein kühles Lächeln.
„Danke.", sagte ich knapp und begann mein Gesicht zu trocknen.
Als ich meinen Körper, soweit ich es nun mal mit Klamotten konnte, trocken gerieben hatte ging ich in die Hocke, um die nasse Spur, die ich hinterlassen hatte, aufzuwischen.
Er wirkte etwas verwirrt. Zurecht, denn bisher kannte er mich nur als den schüchternen kleinen Engel, der ihn bemüht heimlich, aber offensichtlich, anhimmelte.
Doch diese Genugtuung wollte ich ihm heute nicht verschaffen.
Ich schleuderte ihm unsanft das Handtuch entgegen, in der Hoffnung auch sein Gesicht zu treffen, doch er fing es mühelos auf und ich hätte schwören können, dass seine Mundwinkel leicht zuckten.
Wortlos wandte ich mich ab und stapfte mit vor Nässe quietschenden Schuhen weiter auf die Treppe zu, beschloss allerdings sie lieber hier unten auszuziehen.
Ich striff schnell meine Sportschuhe an den Fersen ab, hob sie auf und ging mit meinen durchweichten Socken die Stufen hinauf in mein Zimmer.
In meinem Zimmer angekommen stellte ich meine nassen Schuhe unter die Heizung und begann den an meiner Haut klebenden Stoff mit Mühe auszuziehen. Die Sporthose klebte besonders an meinen Beinen und ich wäre beinahe, beim Versuch, sie im Stehen auszuziehen, hingefallen.
Ich hängte die nassen Klamotten über die Heizung und wickelte mich in ein großes Handtuch. Dann ließ ich mich erschöpft und mit nassen Haaren auf mein Bett fallen. Einen Moment lang schloss ich einfach die Augen und atmete tief durch. Dann kramte ich mein Handy aus der Schublade meines Nachtschränkchens.
Ich hatte einige Nachrichten von meinem Vater, der mir erzählte, dass er sich ein neues Fahrrad gekauft hatte und das Mom mich vermissen würde. Ich wusste es allerdings besser. Ich bezweifelte, dass sie noch besonders oft einen Gedanken an mich verlor.
Doch das ließ ich ihn nicht spüren.
Ich schrieb ihm, dass ich sie beide auch vermisste, was zu meiner Überraschung selbst bei meiner Mutter zutraf und verlange ein Bild von seinem neuen Fahrrad. Dann ging ich auf Alissas Nachrichten. Meine beste Freundin hatte mir bereits an die hundert geschickt. Sie erzählte mir neue Geschichten aus der Schule, dass der Junge, den alle Klapperkiste genannt hatten wegen seines Stotterns, nun auch die Schule verlassen hatte und das Conner Riley aus dem Badminton Team sie nach einem Date gefragt hatte.
Sie hatte allerdings abgelehnt. Sie wiederholte, wie sehr sie mich vermisste und bat mich so schnell wie möglich wieder nach Hause zu kommen, um sie zu besuchen. Ich schlucke und wollte ihr gerade schreiben wie sehr ich sie vermisste und dass ich mir über alles wünschte jetzt bei ihr zu sein, doch da klopfte es leise an der Tür.
„Michael, ich bin noch nicht bereit darüber zu reden...", rief ich.
„Daniel wird mich dafür sicher umbringen!", setzte ich leise stöhnend nach und legte das Handy beiseite.
Es klopfte erneut an der Tür.
Ich seufzte. „Okay, Okay...Moment!" Ich kramte schnell eine dunkelblaue Jogginghose aus meinem Schrank.
Es war so ziemlich die größte, die ich besaß und schmeichelte meiner Figur nicht wirklich. Doch ich hatte keine Lust nur für dieses Gespräch ein geeignetes Outfit zusammen zu stellen. Dafür hatte ich gerade einfach keinen Nerf. Ich zog mir noch einen schwarzen Kapuzenpulli über, der wegen meiner Flügel auch recht groß gehalten war. Es klopfte erneut drängend an der Tür.
„Ja doch!", sagte ich und öffnete sie. Zu meiner Verwunderung war es nicht Michael der nach seinem Training nach mir sehen wollte, wie ich angenommen hatte.
Lucian stand erneut vor mir, den Körper halb abgewandt, bereit sofort wieder in seinem Zimmer, oder nach unten, zu verschwinden.
Nur eine Sekunde betrachtete er meine weiten, dunklen, gemütlichen Klamotten.
Dann sah er das Bild auf meinem Pullover.
„Bullets for my Valentine...soso.", kommentierte er meinen Pullover, auf dem das neuste Cover der Band prangte.
„Was willst du?", fragte ich und versuchte mir nicht anmerken zu lassen wie unbehaglich mir zumute war.
In diesen Klamotten sah ich einfach nur pummelig aus und als hätte ich, wegen meiner Flügel, einen Buckel. Ich wollte nicht, dass er mich länger so sah und hätte ihm am liebsten die Tür vor der Nase zu geschlagen.
Seine vollen Lippen deuteten erneut ein kleines Lächeln an, doch dann trat er mit scheinbarem Desinteresse in den Augen einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, wodurch seine Oberarme noch muskulöser wirkten.
„Ich wollte..." Ich konnte sehen, wie er sich innerlich wand.
Was immer es sagen wollte, es schien ihm nicht leicht zu fallen.
„Spuck's schon aus!", drängte ich unsanft.
In seinen Augen blitze Ärger auf.
„Irgendwas ist passiert. Du wirktest aufgelöst und verwirrt. Zumindest bevor du so gruselig gelächelt hast." Ich blinzelte. Gruselig? Ich wollte ihm gerade etwas Fieses an den Kopf werfen, doch mein Ärger verrauchte. Machte er sich etwa Sorgen?
„ähm...Ich...Ich will eigentlich nicht drüber reden, aber danke..."
Ich machte Anstalten die Tür zu schließen, doch er machte einen Schritt vor und stemmte den Fuß dagegen.
Sein großer, muskulöser Körper war mir plötzlich so nah, dass ich die Hitze spüren konnte, die von ihm ausging. Erschrocken von seiner plötzlichen Bewegung ließ ich die Tür los und trat zurück.
Er sah zu Boden und ging auch einen Schritt zurück.
„Du sagtest Daniel würde dich umbringen." Seine Stimme wurde dunkel und in seinen Augen funkelte es. Für einen Moment schienen sie beinahe zu glühen. Mein Mund wurde ganz trocken und einen Momentlang sah ich Daniel vor mir, wie sich seine Krallen durch die Finger gebohrt hatten, sich scharfe Reißzähne aus seinem Kiefer schoben und seine Augen mich hasserfüllt und wölfisch durchbohrt hatten.
Ein Schauer überlief meinen Rücken. Lucian entging meine Reaktion nicht. Er registrierte jede meiner Regungen mit einem wachsamen Blick.
„Sagst du mir jetzt was war oder nicht?", drängte er sichtlich ungeduldig und verlagerte das Gewicht auf das andere Bein.
Ich stieß die Luft aus und trat nervös von einem Bein auf das andere. Ich stopfte die Hände in die Bauchtasche meines Pullovers und verschränkte die Finger. Unfähig ihm zu lang in sein schönes Gesicht zu sehen, ohne nach kurzer Zeit den Faden zu verlieren, sah ich zu Boden.
„Ich war laufen und...ich war immer so schlecht. Daniel scheint irgendwie was gegen mich zu haben, denn er ist seit Tag eins wirklich...ein Arsch." Mit einem funkeln in den Augen huschte mein Blick zu Lucians Gesicht. Er hatte mich während ich auf den Boden gestarrt hatte die ganze Zeit aufmerksam betrachtet.
Mein Magen zog sich unter seinem intensiven Blick zusammen. „Ähnlich wie du!" Sein Oberkörper zuckte, als hätte er mit Mühe ein Auflachen unterdrückt.
„jedenfalls...", fuhr ich fort.
„Er hat mich beim Parkour gestoßen und ich bin gestürzt.
Ich bin sauer geworden, hab meine Jacke ausgezogen und als ich los rannte war ich plötzlich schneller als alle anderen. Ich habe mit den Flügeln praktisch...ein wenig gemogelt. Ich bin geflogen, holte ihn ein und schlug ihn mit dem einen Flügel zu Boden. Er ist wütend geworden, begann sich zu verwandeln und ich bin abgehauen. Das wars. Reicht das?" Ich klang leider etwas kleinlauter und unsicherer als ich es vorhatte. Er nickte. Doch dann schien er sich nicht länger beherrschen zu können und...Ich blinzelte völlig irritiert-. Er lachte! Er warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend.
„Das ist nicht witzig! Er ist unglaublich wütend auf mich!"
Mein Ärger und mein Entzücken über sein wunderschönes Lachen, welches ich noch nie gehört hatte, rangen innerlich miteinander. „Du hast ihn mit dem Flügel umgehauen!", kicherte er und ich konnte ihn nur noch sprachlos anstarren. Seine Augen glühten bernsteinfarben, doch kurz darauf wich das Glühen wieder dem dunklen Funkeln.
„Mach dir keine Sorgen.", sagte er und versuchte an sich zu halten, um nicht länger zu lachen. Er wandte sich von mir ab und steuerte seine Zimmertür, gegenüber von meiner, an.
„Er wird dir nichts tun.", sagte er noch ehe er in seinem Zimmer verschwand. Sein Lachen war verstummt.
Dann schloss er die Tür hinter sich und ließ mich sprachlos an meiner eigenen Tür stehen. Ich blieb, wie angewurzelt, wo ich war und versuchte zu begreifen, was gerade passiert war.
Es klopfte laut von unten. Es klang wie das schallende Klopfen auf Glas.
Blinzelnd löste ich mich aus meiner Starre und huschte schnell die Treppe hinunter. Lucian hatte die Balkontür geschlossen und Michael drückte sein Gesicht an das Glas, die Hände Rechts und Links um sein Gesicht gehalten, um durch die Scheibe etwas erkennen zu können.
Schmunzelnd öffnete ich die Tür. Er sah genauso durchnässt aus wie ich vorhin. Ich blieb an der Tür stehen, um nicht wieder in den Regen zu geraten.
„Geht es dir gut?", fragte Michael besorgt. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und verschränkte locker die Arme. „Ja mir geht es gut, danke." Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln und er erwiderte es augenblicklich, so dass die Grübchen in seine Wangen zum Vorschein kamen. Aus dem Augenwinkel sah ich etwas aufleuchten und ich sah verwirrt in den Regen. Hatte es zu donnern angefangen? Vorhin hatte ich vermutet das es gewittern würde, doch ich hatte bisher nichts gehört. Dann sah ich sie.
Marissa und Suzanne flogen nicht weit von uns entfernt immer höher. Sie wirbelten herum, lachten laut und überschlugen sich im prasselnden Regen.
Die Insel war nach wie vor in dichten Regen gehüllt. Das Meer war kaum noch durch die dichte Regenwand zu erkennen, ebenso wenig wie die Bergspitzen, die in den Wolken verschwanden. Die Zwillinge tollten noch immer wie Kinder herum, fingen die Tropfen mit ihrem Mund und lachten ein glückseliges Lachen, das auch mich zum Lächeln brachte. Plötzlich blieb Suzanne vom Wind getragen wie ein Flugdrache für Kinder, der an einer Schnur hing, in der Luft stehen. Sie riss grinsend mit entblößten Reißzähnen den Mund auf und gewaltige Flammen schossen empor und verdampften den Regen im Fall.
Das war es, was ich aus dem Augenwinkel gesehen hatte.
Marissa machte ihr nach und kurz darauf waren wir von Wasserdampf umhüllt.
Fasziniert beobachtete ich das Spektakel mit offenem Mund. Neben mir hörte ich Michael leise lachen. Ich hatte für einen kurzen Moment vergessen, dass er gleich neben mir stand.
Er hob die Hand und klappte mit dem Zeigefinger meinen Mund wieder zu, da brach auch ich in Gelächter aus und es war als würde eine Last von mir fallen.
Wir beobachteten die Drachen noch eine Weile bis kurz darauf der Regen langsam aufhörte. Die Mädchen landeten und die dichte Wolkendecke zog langsam vorüber, bis hier und da wieder Lichtstahlen die, nun gereinigte, Insel trafen.
Die feuchte Luft ließ die Strahlen sichtbar werden. In der Ferne konnte man das Meer wiedererkennen und über den Bergen hing nur noch eine leichte Wolkendecke, es hatte etwas magisches.
In diesem Moment veränderte sich etwas in mir.
Dieser Tag hatte etwas verändert.
Ich hatte nicht mehr das Gefühl eine Fremde unter Fremden zu sein.
Ich schob meine Sorgen wegen Daniel beiseite und hatte einen Moment lang Hoffnung, dass dies hier tatsächlich irgendwann ein Heim für mich werden könnte.
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