3: A Walk in the Park

Was war das denn bitte für ein krasser Traum gewesen?

Mein Verstand spielte eindeutig verrückt. Seitdem ich in diesen fremden Typen reingerannt war, war mein Hirn ununterbrochen mit ihm beschäftigt. Oder schlicht und ergreifend Brei. Vehement schüttelte ich den Kopf. Mehrmals hintereinander.

Diese Gedanken mussten aufhören.

Unbedingt.

Ich kannte ihn nicht einmal!

Seufzend fuhr ich mir durch die verschwitzten Haare. Auch mein Schlafshirt klebte an mir und fühlte sich ekelig nass auf der Haut an. Schwerfällig streckte ich mich und fischte mein Handy vom Nachttisch.

5.04 Uhr.

Eigentlich viel zu früh zum Aufstehen, aber ich war mir sicher, dass es mir sowieso nicht mehr gelingen würde, erneut einzuschlafen. Mein Herz pochte wild in meiner Brust, und ich fühlte mich seltsam rastlos. Und irgendwie auch gehetzt. Ob es an dem Traum lag oder daran, dass mein Verstand immer wieder zu diesem Typen zurückkehrte, wusste ich nicht, und eigentlich wollte ich auch gar nicht länger darüber nachdenken.

Ich stöhnte.

Zwei Sekunden später schlug ich die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Ich musste den Kopf frei bekommen. So zog ich mir kurzentschlossen mein nassgeschwitztes Shirt über den Kopf und tauschte es gegen meine Laufsachen, eine schwarz-weiß gestreifte Leggings und ein pinkfarbenes, langärmliges Sportshirt, und band mir die langen dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz hoch. Mein Pony hing mir fransig im Gesicht, so dass ich ihn mit einer Spange auf der Stirn feststeckte. Schnell schnürte ich die weißen Laufschuhe zu und lief in den Flur der Wohnung, die ich mir mit meiner Zwillingsschwester und zwei anderen Mitbewohnern teilte. So leise wie möglich schlich ich mich zur Wohnungstür, um niemanden aufzuwecken, und öffnete sie. Dann hastete ich das Treppenhaus hinunter und trat auf die Straße hinaus.

Die kühle Morgenluft Mitte März tat gut. Ein Lauf durch den Park würde mir sicher helfen, meine Gedanken und Gefühle abzuschütteln und unbelastet in den Tag zu starten. Ich musste wieder Klarheit in meinen Verstand bringen. Als wäre ich im Dunkeln und wüsste nicht, in welche Richtung ich zu gehen hatte, fühlte ich mich blind. In diesem Moment hätte ich alles gegeben, um die Zeit zurückzudrehen, damit ich diesen Fremden mit dem Coffee-to-go nie umgerannt hätte.

Irgendetwas hatte er offensichtlich in mir ausgelöst.

Meine Welt war aus den Fugen geraten, und ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Erst verfiel ich in einen langsamen Lauf durch die Nachbarschaft und erreichte dann den nahegelegenen Park, durch den ich schneller meine Runden drehte. Das tat ich oft, fit war ich jedoch nicht unbedingt. Runde um Runde lief ich über den Kiesweg durch die Grünanlage. Wie immer verschwamm meine Umgebung zu einem unbedeutenden Hintergrundbild und ich achtete nicht mehr darauf. Ich konzentrierte mich stattdessen nur noch auf meine Atmung, den Herzschlag und das Geräusch meiner schnellen Schritte auf dem Boden.

Eins, zwei, drei, vier.

Es war eine Wohltat für meinen Körper. Der Schweiß rann mir die Stirn entlang und den Rücken hinab, wurde aber von meinen Sportklamotten sofort aufgesogen. Die körperliche Anstrengung tat meinem Geist gut, so dass er sich wieder entspannen und ausdehnen konnte. All die Gedanken und Erinnerungen an den Typen, all die merkwürdigen Empfindungen in seiner Gegenwart und auch den seltsamen Traum hatte ich hinter mir gelassen. Hier war nur ich mit mir selbst, meine Atmung, mein Herzschlag, meine schnellen Schritte. Niemand anderes.

Das dachte ich zumindest, bis ich aus den Augenwinkeln eine verschwommene Bewegung ausmachte, die mich innehalten ließ. Ich blinzelte. Sofort brachte es mich aus dem Rhythmus, so dass ich die Baumwurzel auf dem Weg nicht sah, darüber stolperte und umknickte.

Da war niemand.

Niemand bis auf ...

„Ist alles okay?"

Starke Arme fingen mich auf. Im ersten Moment war ich irritiert, dann dankbar, dass ich nicht auf den Boden geknallt war. Und schließlich war ich schockiert.

Ein Blick in die dunklen Augen meines Gegenübers ließ meine Welt stillstehen. Schon wieder. Das war doch nicht möglich!

„Alles bestens", sagte ich schnell und distanziert, weil ich nicht wieder die Kontrolle über meinen Verstand verlieren wollte. Aber waren mir mal ehrlich: Der war ja quasi schon Brei. Seit knapp vierundzwanzig Stunden. Trotzdem richtete ich mich wieder auf und musste feststellen, dass nichts bestens war. Augenblicklich schoss mir der Schmerz in den Knöchel, und ich knickte wieder weg.

Scheiße.

Ich fluchte.

Mein Gegenüber zuckte kurz und wollte wieder die Hand nach mir ausstrecken, ließ es aber sein. „Das sieht wirklich nicht gut aus", sagte er nur. „Ich glaube, du hast dir den Knöchel verstaucht."

Verdammt!

Das wusste ich selbst.

Mehrmals atmete ich tief durch und straffte die Schultern. So konzentriert wie möglich brachte ich hervor: „Es ist aber alles bestens. Wirklich."

Doch noch immer war nichts bestens. Bei dem Versuch einen Schritt vor den anderen zu machen, knickte ich wieder weg. Sofort war er da und fing mich auf. Er umfasste meinen Unterarm, was natürlich einen elektrischen Impuls durch meinen Körper sendete und mich unwillkürlich an den Traum denken ließ, in dem wir Hand in Hand durch den Wald spaziert waren. „Ich helfe dir."

Nein, nein, nein!

Ich brauchte keine Hilfe!

Nicht von dem unbekannten Kaffeetypen, dessen Nähe ich nicht aushalten konnte, und der mich an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln ließ. Der mich in meinen Träumen verfolgte. Und der in mir ein seltsam vertrautes Gefühl auslöste.

Ein gequältes Geräusch kam über meine Lippen, und ich verfluchte mein Leben. Wieso musste ich gerade jetzt so wahnsinnig ungeschickt sein?!

Besorgt sah er mich von der Seite an. „Willst du dich setzen?"

„Nein danke", presste ich kopfschüttelnd hervor.

„Ich kann mir deinen Fuß mal ansehen."

„Nicht nötig."

„Dann bringe ich dich nach Hause."

„Nein!"

Auf keinen Fall sollte er das tun! Never ever! Das würde ich zu verhindern wissen. Und wenn ich auf allen Vieren die Straßen bis zu unserem Haus kriechen würde! Dieser Typ würde mich nicht nach Hause bringen!

Doch natürlich hatte ich die Rechnung ohne ihn gemacht, denn plötzlich griff er nach meinem Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. „Ehrlich, Coffee-Girl", sagte er leise, aber eindringlich, „du humpelst."

Auf die Intensität seines Blickes war ich nicht gefasst, und mir stockte einen Moment der Atem. Ein Schauer lief mir über den Rücken, und ich wurde sofort in seinen Bann gezogen.

Wie immer eigentlich.

Jedes Mal, wenn wir uns begegneten.

Ob ich es wollte oder nicht.

„Wie hast du mich genannt?", wisperte ich.

Er grinste. „Coffee-Girl", sagte er flapsig. „Passt zu dir." Seine Finger wanderten von meinem Kinn meine Wange hinauf, und die Atmosphäre zwischen uns lud sich von Sekunde zu Sekunde elektrisch auf. „Ich bin übrigens Leo", fügte er leise hinzu. „Ein netter Kerl. Kein Axtmörder oder so was. Du kannst mir vertrauen. Humpelnd schaffst du es sicher nicht allein nach Hause."

Er hatte recht.

Leider.

Und trotzdem ...

Theatralisch verdrehte ich die Augen. „Das weiß ich selbst."

„Dann lass mich dir helfen."

Mit aller Kraft wehrte ich mich dagegen. „Ich schaffe das schon allein", beharrte ich stur, und meinte es auch so. Auch wenn ein Teil von mir wusste, dass ich es mit meinem verflixten Knöchel ganz sicher nicht allein nach Hause schaffen würde. Egal, ich würde noch immer krabbeln.

Aber Leo ließ sich nicht abbringen. Wortlos schlang er seine Arme um meine Taille und nahm dann meinen Arm, um ihn sich um den Hals zu legen. „Keine Widerrede, Coffee-Girl", sagte er in einem autoritären Tonfall, der mich tatsächlich überraschte. „Ich lasse keine hilflosen Mädchen einfach auf der Straße liegen. Ich bringe dich nach Hause."

Wieso musste er der einzige Berliner sein, der nicht in seinem Schlafzimmer im Bett lag und schlief? Ich konnte es nicht fassen und gab erneut ein gequältes Geräusch von mir. Überdeutlich fühlte ich seine Hände auf meiner Taille, wie sie meine Haut versengten, und wollte von ihm abweichen, aber es gelang mir nicht. Sofort lief mir ein Schauer über den Rücken, aber ich ließ mir nichts anmerken. Wieso fühlte ich mich so sehr zu ihm hingezogen? Ich kannte ihn doch gar nicht.

„Lass mich dir helfen."

Eigentlich wollte ich mich wehren. Ich wollte nicht, dass er mich in diesem Zustand nach Hause begleitete, aber ich ließ es schließlich zu. Wohl wissend, dass die Nähe zu ihm zu viel für mich war. Der vertraute Moschusgeruch, der von ihm ausging, brachte mich fast um den Verstand. Ich wollte es nicht, jede Faser meines Körpers wehrte sich dagegen, aber ich verlor den Kampf und sank willenlos in seine Arme.

Ich Idiotin!

Gemeinsam machten wir uns langsam auf den Weg zu dem Mietshaus, in dem ich wohnte. Jeder Schritt tat mir weh, aber ich versuchte, mir so gut wie nichts anmerken zu lassen. Ich wollte noch immer, dass er dachte, dass alles bestens war.

Aber scheiße! Das war es nicht!

Irgendwann hörte, oh ja, ich hörte das Grinsen auf seinem Gesicht und fühlte mich gezwungen, ihm in die Seite zu boxen. „Das ist nicht lustig", zischte ich.

Sein Grinsen wurde breiter. „Nein, Coffee-Girl, das ist es wirklich nicht." Seine betörende Stimme ließ mich beinahe weichwerden. Aber nur fast, denn seine nächsten Worte machten alles wieder zunichte. „Denn wenn ich gewusst hätte, dass du über deine eigenen Füße stolperst, nur weil du mich dort stehen siehst, wäre ich dir definitiv aus dem Weg gesprungen. Zum Glück hattest du dieses Mal keinen Kaffee dabei."

Ich boxte ihm nochmal fest in die Seite. Diesmal weitaus heftiger als vorher.

Arsch.

„Aua", lachte er. „Wofür war das denn?"

„Für deinen blöden Kommentar", erklärte ich trocken. „Da war eine Baumwurzel. Ich habe sie nicht gesehen."

„Nennen wir es mal Baumwurzel", murmelte Leo amüsiert.

Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mich auf der Stelle aus seiner Umarmung gelöst und wäre davongerannt. Ich konnte aber nicht. Also stöhnte ich abermals. „Es war eine Baumwurzel, bilde dir bloß nichts ein."

„Ich doch nicht."

Sicher. Ich hörte das dicke Grinsen schon wieder.

„Was?", knurrte ich.

Er lachte auf. „Dass du innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden quasi zweimal in meine Arme stolperst, ist wirklich interessant, Coffee-Girl."

Abrupt blieb ich stehen und zwang ihn damit, ebenfalls stehen zu bleiben. „Josephine Schneider", informierte ich ihn.

„Erfreut", grinste er. „Leo Azra."

Damit war das schonmal geklärt. Wenigstens war er jetzt nicht mehr der anonyme Kaffeetyp für mich, sondern hatte einen Namen, einen Vor- und einen Nachnamen wohlgemerkt. So ließ es sich an seiner Seite nicht mehr ganz so unbehaglich nach Hause humpeln. Ein Axtmörder hätte mir sicher nicht seinen vollen Namen verraten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der wir größtenteils schweigend nebeneinander hergelaufen waren, ich lahm und hinkend, er mich stützend, standen wir endlich auf der Straße vor dem Mietshaus, in dem sich unsere WG befand. „Das ist es. Hier wohne ich", klärte ich ihn auf, während ich mich umständlich von ihm löste. Schnell zog ich mein Shirt wieder zurecht. „Danke. Den Rest schaffe ich allein."

Auf keinen Fall wollte ich, dass meine Schwester ihn hier mit mir zusammen sah und dann blöde Fragen stellte, die ich nicht beantworten wollte. Oder meine beiden Mitbewohner.

„Bist du sicher?" Skeptisch sah Leo zwischen mir, unserer Haustür und dem meterlangen Weg dorthin hin und her.

„Absolut."

„Den Rest des Weges stütze ich dich auch", sagte er leichthin und nickte aufmunternd. „Versprochen."

„Musst du nicht." Meine Stimme klang verräterisch nach genau dem Gegenteil meines Gesagten. Wollte ich, dass er mich noch ein Stückweit begleitete?

Leo schien es zu bemerken. „Und dann machen wir dort weiter, wo wir gestern Morgen aufgehört haben." Er bedachte mich mit einem charmanten Lächeln. „Du weißt schon ... Ein Kaffee wäre das Mindeste."

„Okay", hörte ich mich sagen. Keine Ahnung, wo das plötzlich hergekommen war. Gerade eben hatte ich noch mit aller Macht versucht, die Anziehung, die von ihm ausging und mich schier hilflos zurückließ, zu ignorieren und sie am besten noch zu leugnen, und schon bot ich ihm an, in aller Herrgottsfrühe mit in meine Wohnung zu kommen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, während ich auf seine Reaktion wartete und ein Fünkchen Hoffnung in mir leuchtete, er würde verneinen.

Doch Leo legte leicht den Kopf schief und musterte mich. „Okay?"

„Ja." Ich schluckte. Rückzug kam für mich jetzt nicht mehr in Frage, also würde ich es durchziehen. „Ich schulde dir schließlich einen Kaffee. Also: Möchtest du noch mit raufkommen?"

„Gerne."

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