H - Ich gehe ihm nach
[Harry]
Ächzend setzte ich mich auf und verzog leicht das Gesicht, ehe ich nach meinem Pullover griff, den mir Gemma mitgebracht hatte. Ich zog ihn über und atmete tief durch. Ich hatte nach wie vor ein wenig Schmerzen, vor allem mein Arm machte mir zu schaffen. Doch ich wollte und konnte mich nicht selbst bemitleiden. Ich hatte mittlerweile erfahren, wie viele aus meinem Trupp wir verloren hatten und es fühlte sich an, als hätte ich Familienmitglieder verloren. Ich konnte es kaum erwarten, zurückzufliegen und meinen Dienst wieder anzutreten. Es wurde Zeit, ich wurde schließlich gebraucht.
Als es klopfte sah ich auf und Gemma lächelte mich leicht an, als sie mein Zimmer betrat. „Guten Morgen, Bruderherz. Bereit, nach Hause zu gehen?" fragte sie und kam zu mir, küsste meine Wange. Ich sah sie an. „Du meinst zu dir nach Hause." berichtigte ich sie, woraufhin meine Schwester die Augen verdrehte. „Es ist auch dein Zuhause. Du hast dein Leben dort verbracht!" antwortete sie und stupste mir gegen die Nasenspitze. Das tat sie immer, schon seit ich denken konnte. Ich mochte es, wenn sie es tat, es gehörte zu uns.
Gemma wohnte in unserem Elternhaus gemeinsam mit ihrem Mann. Nach Mom's Tod hatte sie es übernommen, denn ich war kurz darauf sofort zum Militär gegangen und hatte mich verpflichtet. Keiner von uns wollte es verkaufen, also beschloss sie, darin weiterhin zu wohnen und nun füllte sie es mit ihrem eigenen Familienleben und eigenen Erinnerungen.
Ich hingegen wollte nicht zurück in mein altes Kinderzimmer. Das war nicht mehr mein Zimmer, ich war nicht mehr so wie früher. Es war kein Zuhause mehr. Gemma musterte mich, richtete meinen Pullover ein wenig und zwinkerte mir zu, woraufhin ich sie anlächelte. Sie hatte ich tatsächlich vermisst, ich war froh, sie zu sehen. „Ich muss dir noch was beichten." sprach sie leise und ich verlor mein Lächeln und zog die Augenbrauen hoch. „Was hast du getan?" fragte ich sie misstrauisch.
„Ich war bei einer Beratungsstelle, weil ich mir Sorgen um dich mache. Sie haben mir Broschüren gegeben von Psychologen."
Nun sah ich sie schockiert an. „Spinnst du? Ich habe dir gesagt, es geht mir gut!" rief ich aus und sie ging einen Schritt zurück, sah mich unsicher an. „Es kommt wohl noch schlimmer..." murmelte sie. Ich sah sie fragend an. Gemma räusperte sich und in diesem Moment klopfte es an der Tür. „Gemma?" hakte ich nach, dachte gar nicht daran, die Tür zu öffnen oder den Besuch hereinzurufen.
„Der Betreuer ist hier. Ich habe mir gewünscht, dass er mit dir spricht, vielleicht hat er ein paar Tipps für dich. Er ist kein Psychologe!"
Ich schnaubte leise, als es erneut klopfte. Gemma sah mich bittend an. „Komm schon. Tu's wenigstens für mich! Du hast so furchtbare Dinge erlebt, Haz!" sprach sie und ich seufzte leise auf und gab nach. „Fein." murmelte ich frustriert. Gemma konnte ich sowieso nichts abschlagen.
Gemma lächelte mich dankbar an, lief eilig zur Tür und öffnete sie. „Hi! Schön, dass du da bist!" sagte sie und öffnete die Tür weiter, dann trat ein junger Mann in mein Zimmer. Mir fielen zuerst die abgewetzten Vans an seinen Füßen auf, dann sah ich nach oben. Als ich sein Gesicht sah, schnappte ich nach Luft und riss die Augen auf.
Der Mann sah mich einen Moment an, sah mir direkt in die Augen und sein Blick wurde irritiert. „H-Hey", sagte er und räusperte sich, musterte mich einen Moment. „Ich bin Louis. Schön, dich kennenzulernen!" Er kam auf mich zu und hielt mir die Hand hin, lächelte ein sehr freundliches Lächeln dabei.
Ich fiel aus allen Wolken. Mit einem Mal wurde mir schwindelig und mein Herz fing an zu rasen. Wie war das möglich? Er war hier. Das war der Mann aus meinen Visionen. Ich antwortete ihm nicht und erwiderte auch den Handschlag nicht. Er ließ die Hand sinken und lächelte weiter, doch seine Maske verrutschte kaum merklich, sein Blick war misstrauisch und er sah mir immer wieder in die Augen. Gemma räusperte sich. „Harry?" fragte sie nach und ich sah kurz zu ihr, ehe ich Louis wieder anstarrte. Sicher sah ich völlig verrückt aus, aber ich war mir einhundertprozentig sicher, dass Louis derjenige war, der mir in den Visionen erschienen war. Sein Gesicht war so einzigartig und diesen strahlend blauen Augen, die würde ich überall erkennen, ohne Zweifel. So ein Gesicht vergaß man nicht.
Louis' Lächeln verrutschte immer mehr und schließlich ließ er es ganz bleiben. „Deine Schwester hatte mich gebeten, dass wir uns kennenlernen und miteinander sprechen. Ich arbeite ehrenamtlich als Betreuer für Veteranen und deren Angehörige. Deshalb bin ich hier. Entschuldige bitte den Überfall!" erklärte er und ich nickte leicht. „In diesem Zimmer ist weder ein Veteran noch ein Angehöriger eines Veteranen.", gab ich zu Bedenken und wollte mir so Zeit verschaffen, meinen Kopf zu sortieren.
Louis nickte. „Stimmt, entschuldige." sagte er und musterte mich. „Kennen wir uns von irgendwo?" fragte er mich und ich schüttelte den Kopf. „Nicht...von hier. Nein, tun wir nicht."
Gemma neben ihm war völlig irritiert von meinem sicher absolut unhöflichen Verhalten, doch ich kam nicht darauf klar, was gerade passierte. Und wie sollte man so etwas auch erklären? Der Geist, der jede Nacht mit mir sprach, stand gerade leibhaftig vor mir. Und Gemma konnte ihn auch sehen. Das hieß, er war real und ich nicht völlig durchgeknallt. Louis nickte leicht. „Ich könnte schwören, du kommst mir bekannt vor..." murmelte er nachdenklich, dann schien er sich wieder zu fangen.
Seine braunen Haare waren völlig durcheinander und er strich sich eine Strähne aus dem Auge und wirkte ein wenig unsicher. „Nun, ich würde ja vorschlagen, wir holen uns einen Kaffee und setzen uns draußen auf eine der Bänke, dann können wir in Ruhe reden!" schlug er vor, sicherlich war das irgendein Aufwärmprotokoll für erste Begegnungen, er schien es auflockern zu wollen. Da ich meine Gedanken und Emotionen absolut nicht unter Kontrolle hatte, war das keine gute Idee. „Ich brauche niemandem zum Reden!" sagte ich daher ein wenig zu harsch, worauf Louis wieder sein Lächeln verlor. Er legte den Kopf schief und sah mich an. „Ich weiß, dass solche Situationen unangenehm sind. Ich versteh das. Aber es hilft, wenn man über Dinge spricht, die einen belasten."
Ich schnaubte. Alles, was ich wollte, war, dass er wieder ging und gleichzeitig wollte etwas in mir, dass er blieb. Ich sah ihn einen Moment nachdenklich an. Sein Blick war offen. Diese Augen. Dieses herzliche, ehrliche Lächeln. Mein Herz stolperte und brachte mich damit leicht aus der Fassung. Irgendetwas in mir schrie mich an, diesen Kaffee mit ihm zu trinken.
„Also?" fragte er freundlich nach, denn es war ungewöhnlich ruhig im Zimmer für eine ungewöhnlich lange Zeit. Ich blinzelte leicht. „Ich möchte eigentlich nur nach Hause. Vielleicht können wir das verschieben?"
Louis nickte und kramte eine schon leicht zerknitterte Visitenkarte aus seiner Hosentasche, die er mir hinhielt. Ich nahm sie ihm ab und zwang mir ein Lächeln auf, welches er so strahlend erwiderte, dass meine Knie weich wurden. Mein Lächeln wurde automatisch ein wenig breiter. „Melde dich einfach!" sagte er, verabschiedete sich von Gemma und dann verließ er den Raum, sah sich noch einmal kurz zu mir um. Ich sah noch eine Weile auf die nun geschlossene Tür, wusste absolut nicht, was ich davon halten sollte. Ich glaubte nicht an Schicksal oder solchen Mist, doch das hier war einfach nur seltsam.
Gemma schlug mir gegen den Arm und ich sah zu ihr, ihr Blick war wütend. „Wieso kannst du nicht einmal nett sein?" fragte sie harsch und ich seufzte. „Ich...Gemma..." fing ich an und sie verschränkte die Arme und sah mich abwartend an. Ich fuhr mir durch die Haare und setzte mich auf das Bett. „Das ist er..." murmelte ich, sah wieder zu Gemma. „Ihn habe ich in den Visionen gesehen. Er hat mich durch den Angriff geführt."
Meine Schwester sah mich mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. „Wie soll das gehen, Harry? Das ist unmöglich, solche Sachen gibt es nicht." sagte sie, doch ich schüttelte wieder den Kopf. „Wenn ich es dir doch sage! Es war absolut klar und eindeutig! Er war das! Selbst seine Stimme ist die gleiche! Ich weiß, wie sich das anhört, Gemma! Aber es ist so!" beteuerte ich nochmals und Gemma seufzte, nickte aber. „Und wieso bist du dann so unhöflich zu ihm gewesen?" fragte sie, worauf ich leise fluchte und mit den Schultern zuckte. „Ich weiß es selbst nicht. Ich war überfordert, schätze ich?" Es war mehr eine Frage, als alles andere und ich wusste nicht, mit der Situation umzugehen. Vermutlich hielt er mich jetzt für ein Arschloch.
„Nun, jetzt denkt er zumindest, dass du ein Arschloch bist." sprach sie meine Gedanken aus und ich sah sie frustriert an. „Ich geh ihm nach."
Ich stand auf und sah zu ihr. „Wartest du kurz hier? Vielleicht erwische ich ihn noch." Ich wartete ihre Antwort nicht einmal ab, ich lief sofort los. Ich war recht langsam durch meine Verletzungen, vermutlich würde ich ihn nicht einholen, aber ein Versuch war es wert. Als ich auf den Flur lief, stand er vorne am Aufzug und wartete ungeduldig, sein Fuß wippte auf und ab. Erleichtert atmete ich auf und lief zu ihm.
Als er mich bemerkte, schenkte er mir erneut ein breites Lächeln. „Hast du es dir anders überlegt?" fragte er mich und ich nickte leicht. „Hast du vielleicht doch Lust auf einen Kaffee?" fragte ich ihn und er nickte sofort. „Na klar! Ich gebe einen aus!" antwortete er und grinste verschmitzt, dann öffnete sich die Fahrstuhltür.
Louis lachte leise auf und schüttelte den Kopf, alswir eintraten. „Was ist?" fragte ich ihn. „Die ganze Zeit kommt der blödeFahrstuhl nicht. Als ob er nur auf dich gewartet hätte!" sagte er zu mir undich riss leicht die Augen auf. „Meinst du?" fragte ich ihn unsicher.
Der Braunhaarige zuckte mit den Schultern und sah in meine Augen. „Ich habeschon schrägere Sachen erlebt..." antwortete er mir leise und lächelte wieder so niedlich.Ich konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern, während ich in meinemKopf bereits überlegte, wie ich ihm sagen konnte, dass er bereits seit übereiner Woche in meinem Kopf herumgeisterte, ohne dabei wie ein Irrer zu klingen.
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